De dicto

Dienstag, 30. September 2008

"Die CSU ist am Ende. Das Nachtreten, die Schadenfreude, stinkt mir gewaltig. Man macht sich nicht lustig über einen Menschen, der am Boden liegt, man tritt nicht nach, man ist menschlich."
- BILD-Zeitung, Franz Josef Wagner am 30. September 2008 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Es mag schon etwas Wahres in diesen Worten liegen, selbst wenn sie aus der Feder eines Schmalzpoeten wie Wagner stammen, der wiederum diese Einsicht nicht aus sich selbst heraus erzielte, sondern eines Schopenhauers benötigte. Und obwohl man in Wagners Reaktionen nach der Bayernwahl erkannte, dass er große Sympathien für die Christsozialen hegt, muß doch festgehalten werden, dass man eigentlich nicht schadenfroh sein sollte. Selbst dann nicht, wenn es nicht ein Mensch ist, der am Boden liegt, sondern eine Partei, ein abstraktes Gebilde folglich - und gleichzeitig doch nicht derart abstrakt, ist sie doch eine Vereinigung von Menschen.

Man sollte eigentlich nicht schadenfroh sein? Eigentlich? Gibt es denn Ausnahmen? - Ethisch betrachtet vielleicht nicht, aber menschlich besehen selbstverständlich. Manchmal ist Schadenfreude mehr als Bösartigkeit, eher das Gegenteil: sie ist Ausdruck von Befreiung, Anzeichen für eine Verkehrung der Situationen. Anders: War es nicht die CSU, besser gesagt ihre (Selbst-)Darsteller, die oftmals auf jene herumritten, die in dieser, in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, ganz unten standen? Man bräuchte alleine nur diese letzte Legislaturperiode heranziehen, um einen Sündenkatalog christsozialer Schadenfreude entwerfen zu können, der so dick wie ein Telefonbuch wäre. Da war Markus Söder, der auf Langzeitarbeitslose eindrosch, der ihnen die Bezüge kürzen wollte, damit sie ihre Faulheit endlich überwinden - von allerlei Zwangsmaßnahmen, die er sich selbst in aller Beschränktheit entwarf, soll gar nicht erst die Rede sein; oder Haderthauer, wie sie ausländischen Mitbürgern vorwarf, sie wollten sich nicht integrieren, wollten die deutsche Leitkultur nicht anerkennen, weswegen man ihnen die Bezüge aus deutschen Sozialkassen sperren sollte - gerade so, als wäre jeder Ausländer Sozialhilfeempfänger; und was war mit Stoiber, der von der Bühne herunter spöttelte, die Ostdeutschen als Dummköpfe bezeichnete, weil sie sich bei Wahlen häufig für die LINKE entschieden; von der Schadenfreude der Stoiberianer, als man Gabriele Paulis Privatleben in der Öffentlichkeit breitgeklopft hatte ganz zu schweigen.

Als die CSU obenauf war, als sie über Wolken schwebte, allmächtig und allgegenwärtig, da zügelte sie sich nicht in Sachen Schadenfreude und Zynismus. Seinerzeit gehörte es zum guten Ton der politischen Szenerie in Bayern, auch mal auf solche einzuschlagen, die sich nicht wehren können, die hilflos den Frechheiten der hohen Damen und Herren ausgeliefert sind. Da ist es doch ein Akt der Befreiung, wenn nun der CSU mit Schadenfreude begegnet werden, wenn man jetzt die Gestalten dieses herrschaftlichen Auftretens vorführen und verspotten kann. Freilich wird es nichts ändern, natürlich wird die CSU, dann wohl im Bunde mit der FDP - die im Wahlkampf noch mit dem Slogan warb: "FDP - der deutlichste Kontrast zu Schwarz", damit Unvereinbarkeit der Positionen suggerierte -, ihre zynischen Auftritte und ihre Verächtlichkeit gegenüber Wehrlosen nicht aufgeben. Doch im Moment ist eben die CSU dran - gönnen wir also denen die Freude, die bald wieder unter der Knute christsozialer Arroganz stehen werden.

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Ein Grund zur Freude?

Montag, 29. September 2008

Freude, weil die CSU so stark an Rückhalt verloren hat? Weil sie ihren Absolutheitsanspruch verwerfen muß? Muß man sich als in Bayern lebender, ja als gebürtiger Bayer, darüber freuen? Ist es ein Segen für den Freistaat, wenn die CSU nun ihre Allmacht mit einem kleinen Partner an der Seite teilen muß?

Freilich: Klammheimliche Freude tut sich schon auf, wenn die Haderthauers, die Hubers und Becksteins, diese austauschbaren Irgendwers, eine enttäuschte und von der Welt unverstanden fühlende Miene aufsetzen. Es ist Seelenbalsam, die Hetzer und Menschenverächter aus dem christsozialen Lager einmal unterlegen zu sehen, quasi vor den Scherben ihrer Politik. Man freut sich natürlich, weil das den arg menschenverachtenden Aufwind, mit dem diese Partei seit Jahrzehnten - speziell aber in den letzten Jahren radikalen Sozialabbaus - auf die Menschen einschlug, ein wenig drosselt. Die Tiraden Söders, der Arbeitslose immer an einer noch kürzen Leine wissen wollte, sind da noch nicht verhallt und wirken nach - und Söder war dabei nur das Sprachrohr für all jene, die ähnlich dachten, aber nicht gar so plump in die Medien hineinstolperten.

Aber die Freude ist sofort im Keim erstickt! Denn sollte man sich als Bayer wirklich freuen, dass es bald eine Koalition zwischen CSU und FDP geben wird? Ist es ein Grund zum Jubeln, jene in der Regierungsarbeit zu wissen, die von erhöhten Nettolohn faseln, während ihnen der niedrige Bruttolohn gleichgültig ist? Um es anders auszudrücken: Kann man sich an solchen Gestalten ergötzen, die Staatsrückzug verlangen und gleichzeitig die Verantwortung von Unternehmen senken wollen? Die also eine Gesellschaft sozialer Kälte sichern wollen, die sie selbst als Bürgergesellschaft bezeichnen? Soll man ein Hallelujah anstimmen, weil das letzte bisschen Soziale innerhalb der CSU vom Wirtschaftsliberalismus der FDP - und nur innerhalb der Wirtschaft ist sie liberal, ansonsten ist sie eher spießig und borniert - aufgesaugt wird? Ist es erstrebenswert, wenn der Absolutismus der CSU durch einen Absolutismus des radikalen Marktliberalismus ersetzt wird?

Oder darf man hoffen, dass die CSU sich mit jener Wählervereinigung zusammentut, die kein Programm vorzuweisen hat? Mit den Freien Wählern - die sich vornehmlich aus Besserverdienenden rekrutieren -, die "bürgernahe Politik" und "Pragmatismus" zu ihren Maximen erklärt haben? Dabei wissen wir natürlich, was der Union und der SPD "bürgernahe Politik" bedeutet hat - bürgernah war es für sie beispielsweise, wenn sie Menschen, die Sozialleistungen beziehen mußten, verfolgungsbetreuen durften. Und dabei konnte man das Notwendige mit dem Pragmatischen verbinden, wenn man einfach mal ganz locker und pragmatisch einen behördlichen Kontrolleur ins Schlafzimmer eines Langzeitarbeitslosen schickte, damit er dort nach Verdachtsmomenten suche. Ohne Programm von Bürgernähe und Pragmatismus zu fabulieren, erscheint äußerst gefährlich. Zumal es bei den Freien Wählern den Begriff der "sozialen Ungerechtigkeit" nur sehr zögerlich bis gar nicht gibt - die FW sind scheinbar der Ansicht, dass man soziale Ungerechtigkeit mit ein wenig Pragmatismus überschminken kann. Darf man sich als Bayer freuen, wenn die Freien Wähler in einer Koalition mit der CSU der Ansicht sind, dass es bürgernah wäre, Langzeitarbeitslosen nurmehr einen Chemnitzer Regelsatz zu gewähren? Oder dass es wundervollster Pragmatismus sei, Langzeitarbeitslose in Wohngemeinschaften zu stecken?

Aber vielleicht bleibt doch noch Hoffnung, wenn sich die kleinen Fraktionen zusammentun, um der CSU eine ganz neue Erfahrung anzubieten: nämlich, wie es sich in Bayern als Oppositionspartei anfühlt. Ist das ein Hoffnungsschimmer? Soll man sich allen Ernstes darüber freuen, wenn sich Mitglieder einer Partei, die erneut einen Prozentpunkt verloren hat, wie Sieger feiern lassen? Wenn deren ewiger Spitzenkandidat verkündet, dass nur die Schwächung der CSU deren Ziel war? Und er dabei noch frech erklärt, dass seine Partei - die Bayern-SPD - maßgeblich an der Schwächung beteiligt war, obwohl man zeitgleich das Negativergebnis von 2003 unterbot? Eine Koalition aus einer vernebelten SPD, mit den Liberalen und Pragmatischen, zudem mit jenen Grünen - allen voran Agenda-Jüngerin Claudia Roth -, die seit ihrem Schröder-Experiment mehr denn je Karikatur einer pazifistischen Ökopartei sind? Muß es entzücken, wenn eine solch bunte Koalition von sozialdemokratischen Tagträumern - Stiegler sah im Wahlergebnis der Bayern-SPD eine Leistung Münteferings, der die Partei wieder gefestigt habe; weswegen man ja nur einen Prozentpunkt verlor - angeführt wird?

Man sollte den Bayern erklären, worauf sie Anrecht auf Freude haben. Denn ohne anleitende Hilfe erscheint es unmöglich, einen Grund zur Freude - außer dem Brechen der CSU-Dominanz - zu erkennen. Die angebliche Befreiung von der Omnipräsenz der Christsozialen erfreut zwar, kann aber viel böser enden, als man das zu Annehmen geneigt ist. Mit der FDP und den Freien Wählern drängen bürgerliche Parteien ins Parlament, die Bürgerverachtung auf ihren Fahnen gemalt haben. Die neue Ära in Bayern endet womöglich in der Verschärfung der prekären Zustände. Ein Grund zur Freude?

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De omnibus dubitandum

Sonntag, 28. September 2008

Bei der Landtagswahl in Bayern, erhielt...

  • ... die CSU 24,7 Prozent aller möglichen Stimmen.
  • ... die SPD 10,6 Prozent aller möglichen Stimmen.
  • ... die Freien Wähler (FW) 5,8 Prozent aller möglichen Stimmen.
  • ... die Grünen 5,4 Prozent aller möglichen Stimmen.
  • ... die FDP 4,6 Prozent aller möglichen Stimmen.
  • ... die LINKE 2,5 Prozent aller möglichen Stimmen.
Das größte geschlossene Lager - mit 41,9 Prozent - ist jenes der Nichtwähler. Eine schwarz-gelbe Koalition hätte demnach einen Rückhalt von 29,3 Prozent bei allen Wahlberechtigten. Selbst eine Große Koalition, die wohl kaum zur Debatte steht, wüßte lediglich 35,3 Prozent aller Wahlberechtigen hinter sich. Die zur Sprache gebrachte Splitterkoalition von SPD, FW, Grünen und FDP hätte eine "absolute Mehrheit" von 26,4 Prozent aller Wahlberechtigten als Regierungsgrundlage.

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Politikverdrossenheit

So wird gemeinhin die Unlust des Bürgers bezeichnet, sich dem politischen Alltag anzunähern, genauer noch: sich den Wahlurnen anzunähern. Verschleiert wird dieses Fernbleiben gerne damit, dass am Wahltag das Wetter nicht mitspielte, weswegen man sich nicht durchringen konnte, das Wahllokal zu besuchen. Mal ist es ein kontinuierlicher Nieselregen, den man zu einem stürmischen Niederschlag verklärt, um damit die ausbleibende Wählerschaft zu erklären; mal ist es ein sommerlicher Tag mitten im Herbst, weshalb man glaubt, die Wähler säßen lieber in der Oberlandbahn oder in Neuschwanstein, als ein Zettelchen in einen Kasten zu werfen, den man begründet durch demokratisch-romantische Gefühle "Urne" nennt. Und wenn das Wetter wechselhaft, wenn es weder sommerlich-warm noch kalt-verregnet war, dann liefern die Wahlbeobachter ebenso treffende Analysen, dann heißt es: Der Wähler saß zuhause, wartete die Entwicklung des Wetters ab, damit er weiß, wo er der Wahl fernbleiben soll - zuhause auf der Couch oder auf einem - dann verspäteten - Sonntagsausflug.

Dass es sich um einen Akt dessen handelt, welches man in der politischen Wissenschaft "Politikverdrossenheit" nennt, wird nicht anerkannt - darf gar nicht anerkannt werden! Würde ein Vertreter einer politischen Partei mit dieser Form von Verdrossenheit argumentieren, dann gäbe er indirekt damit zu, dass die Bürger genug haben vom politischen Apparat und dessen Ausführenden; dann gäbe er zu, Teil eines Apparates zu sein, der wahrscheinlich Fehler produziert hat, der also die Mitverantwortung trägt für den fehlenden Wahlantrieb der Bürger.

Mit dem Begriff "Politikverdrossenheit" ist der Umstand sowieso nicht treffend erfaßt. Er ist einer jener Begriffe, die schwammig gehalten sind oder bewußt schwammig gehalten werden; die nicht wirklich ausdrücken, was eigentlich vorgeht in jenen Bürgern, die mehr und mehr der Wahlzeremonie fernbleiben. Denn das Wegbleiben von der demokratischen Wahl muß gar kein Akt der Entpolitisierung sein, so wie es der Begriff erklären will, sondern gegenteilig ein Anzeichen von politischer Verantwortung. Wenn auch die Wahl nur den kleinste Aspekt politischer Mitsprache darstellt - zumal in einem parlamentarischen System, das Abgeordnete unter Parteizwang und Eigengewissen stellt, den Wähler damit unberücksichtigt hält -, so ist sie doch nicht das Primat des Politischen. Anders: Nicht wählen zu gehen, bedeutet nicht auch, nicht politisch zu sein. Wenn der Einzelne zuhausebleibt, weil er meint, dass die freie Wahl nur einer begrenzten Auswahl gleicht, der sprichwörtlichen Wahl zwischen Pest und Cholera, dann ist das kein unpolitischer Movens, sondern Ausdruck seines politischen Verständnisses. Und wenn also Massen von Menschen - in manchen Bundesländern sind diese Massen größer als jene, die doch noch den Weg ins Wahllokal finden - zuhause bleiben wollen, weil die zur Auswahl stehenden Alternativen keine sind, weil sie sich alle im engen Rahmen gleichgeschalteter Politik bewegen, dann ist dies sicher nicht Politikverdrossenheit.

Eher, viel treffender bezeichnet, ist es eine Verdrossenheit an den Protagonisten des politischen Alltags. Die Bürger haben nicht die Politik per se satt, die sich ja sowieso in jeder Nische des Alltags breitmacht und eine ewigwährende Begleiterscheinung des Lebens ist - man denke dabei nur an Kindererziehung, die unbewußt immer einen politischen Akt darstellt. Wovon die Bürger aber genug haben, was sie nicht mehr ertragen können, weswegen sie verdrossen sind, das ist die zum Himmel schreiende Arroganz der politischen Parteien; das ist deren Abgehobenheit, das Darüberhinwegschweben über Probleme Normalsterblicher, der eng festgesetzte neoliberale Rahmen, in dem sich alle Politik nurmehr bewegen will, die käuflichen Hauptfiguren der Politik, die Platzhirschmentalität sovieler Politiker, die sich mehr um ihr eigenes Ansehen als um die Sorgen der Menschen kümmern. Nein, die Bürger sind nicht politikverdrossen, sie geben sich vielmehr einer praktizierten Politikerverdrossenheit hin, einer Parteiverdrossenheit, einer Verdrossenheit gegenüber dem herrschenden Primat wirtschaftlicher Scheinzwänge. Von all den praktizierten Mißständen und Frechheiten gesättigt zu sein, bedeutet nicht unpolitisch geworden zu sein, sondern im höchsten Maße politisch. Politikverdrossenheit ist die Verdrossenheit von deren Ausführung, nicht von deren Existenz. Oder: Die Menschen haben nichts gegen freie Wahl, gegen Parlament, gegen Mitsprache im politischen Alltag - sie haben etwas gegen Nepotismus, gegen Selbstbevorzugung, gegen Unmündigmachung, gegen eindimensionale Wirtschaftspolitik und dergleichen mehr.

So wird es sich womöglich auch heute gestalten, da in Bayern ein neuer Landtag gewählt wird. Alleine an dieser Floskel läßt sich jene Verdrossenheit ablesen: Man spricht vom "neuen Landtag" und weiß doch, dass die Praxis der herrschenden Politik ist, dass der neue Landtag wahrscheinlich ein zaghaft aufpolierter alter Landtag sein wird. Das Wählen, welches immer mehr zur Scheinveranstaltung wird, in der gleichgültig ist, ob SPD oder CDU das Steuer in der Hand hat, weil man sich abgesprochen hat über den zu fahrenden Kurs, läßt die Menschen resignieren ob der Herrschaftsstrukturen. Politisch sind sie deshalb dennoch, vielleicht sogar deshalb - denn wenn man ein Demokratiedefizit im parlamentarischen System zu erkennen glaubt, ist es politisch konsequent, der Veranstaltung fernzubleiben.
Aber zurück zu Bayern: Die letzte Wahlbeteiligung im Jahre 2003 lag bei 57 Prozent, von mehr als 9 Millionen Wahlberechtigten, gingen 5,2 Millionen Menschen wirklich zur Wahl. Selbst wenn die heutige Landtagswahl ein Mehr an Wahlbeteiligung aufweisen könnte - was bezweifelt werden darf und muß ob der einschlägigen Erfahrung der letzten Jahre und Jahrzehnte! -, wenn also statt 57 vielleicht 60 Prozent der Berechtigten zum Wählen gehen, dann ist das kein Ausdruck neuer Politisierung im Sinne des oben erläuterten, mißverständlichen Begriffes. Im Gegenteil, denn wenn bei einer Wahlveranstaltung, bei der seit Wochen vom angeblichen Umschwung in Bayern geredet wird, immer noch keine regere Wahlbeteiligung zu verzeichnen ist, dann zeugt dies davon, dass die Menschen eben nicht politikfeindlich, sondern feindlich gegenüber den Kurs politischer Protagonisten sind. Denn ihnen ist es gleich, ob nun die CSU absolute oder nur relative Mehrheiten erzielt, ob die SPD gestärkt aus der Wahl kommt, ob nun eine Koalition das Land regiert. Sie wissen, egal wie es kommt, es ändert sich kaum etwas; der Kurs ist vorgeplant und von allen möglichen Wahlalternativen abgesegnet - von denen zumindest, die realistisch von einer Regierungsbeteiligung träumen können. Diese Einsicht zeugt nicht von Politikverdrossenheit, sondern von Abscheu gegen jene, die das Sagen haben (oder haben wollen) in diesem Lande.

Heute scheint die Sonne: Neuschwanstein wartet, das Voralpenland, das wunderschöne Frankenland - wenn die Wahlanalysen vom Stapel gelassen werden, werden wir erfahren, dass wieder Ströme von Wahlberechtigten durch die Lande fuhren, deshalb gar keine Zeit für das Wahllokal hatten. So besehen ist es also egal, ob der Begriff "Politikverdrossenheit" stimmig ist oder nicht, denn er findet faktisch sowieso nicht statt. Es ist letztendlich immer nur eine Frage des Wetters...

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Terror oder Pudding?

Freitag, 26. September 2008

Als man 1967 elf Terroristen festnahm, gerade noch rechtzeitig, noch bevor sie ihren diabolischen Plan umsetzen konnten, überschlug man sich mit Lob an die Adressen der Behörden, namentlich an die Abteilung I Westberlins, der Politischen Polizei also. Und wieso auch nicht? Schließlich habe man "unter verschwörerischen Umständen zusammengekommene" Terroristen aufgehalten, die "Anschläge gegen das Leben oder die Gesundheit des amerikanischen Vizepräsidenten Hubert Humphrey mittels Bomben" verüben wollten. Zudem unterstellte man den nun Inhaftierten, sie wollten auch mittels Chemikalien gefüllter Plastiktüten und "Tatwerkzeugen wie Steinen" gegen diesen Vertreter der US-Administration vorgehen. Ein eingeschleuster V-Mann des Verfassungsschutzes, so glaubt man heute zu wissen, habe den Terrorplan an die Behörden weitergeleitet. Aber bereits einen Tag später waren die elf Terroristen aus der U-Haft entlassen.

Was war passiert, dass man diese "personifizierten Gefahren für die Öffentlichkeit" wieder laufen ließ? - Schnell wurde offenbar, dass niemals ein Attentat mit Bomben oder Chemikalien geplant war, sondern lediglich mit Pudding, Joghurt und Mehl. Die vermeintlichen Terroristen waren Mitglieder der berühmten Kommune I, die sich mit Spaßaktionen und Inszenierungen in Szene setzte, um politisch von sich reden zu machen - man sehe von Kunzelmanns Orgasmusschwierigkeiten-Phrase ab! -, um der Welt zu zeigen, wie man mit einem Vertreter einer mörderischen Regierungsclique umzugehen habe, die ein fremdes Land mit Bombenteppichen eindeckt und mit Chemikalien verseucht, um deren politische Ideologie gesichert zu wissen. Meinhof wird später in einem konkret-Artikel (Titel: "Napalm und Pudding") schreiben: "Nicht Napalmbomben auf Frauen, Kinder und Greise abzuwerfen ist demnach kriminell, sondern dagegen zu protestieren [...] Es gilt als unfein, mit Pudding und Quark auf Politiker zu zielen, nicht aber, Politiker zu empfangen, die Dörfer ausradieren lassen und Städte bombardieren." - Denn für BILD und andere Leitmedien war von Anfang an klar, dass ein "Attentat auf Humphrey" vereitelt wurde; und selbst als man schon erfahren hatte, dass der vermeintliche Terrorakt nur als eine symbolisch-verspielte Form des Widerstandes, eine Art Entehrung und Entweihung des hohen Amtes des US-Repräsentanten begriffen werden sollte, schrieb Springer immer noch von den "Horror-Kommunarden".

In diesen Tagen liefert man täglich angebliche Terroristen-Kehlen ans öffentliche Messer; präsentiert man uns in regelmäßigen Intervallen fehlgeleitete Subjekte, die aber immer schon vor ihrer Terroraktion ertappt und aus den Verkehr gezogen werden. Nach und nach liefert man Daten und Informationen hinterher, versucht der Öffentlichkeit zu erklären, wie sich die Terrorgemeinde innerhalb dieser Gesellschaft hat behaupten können - wie sie innerhalb dieser Gesellschaft überhaupt geschehen konnte, welche Faktoren dazu führten, bleibt freilich belanglos. Oft sind es fadenscheinige, wirr zusammengeschustert wirkende Geschichten, die man den Bürgern einimpfen will. Zweifelhafte Erklärungs- und Aufklärungsversuche, die mehr Zweifelhaftigkeiten zurücklassen, als ursprünglich grassierten. Wochen später vernimmt man kaum mehr etwas von diesen Teufeln, die man aber gerade noch rechtzeitig in Haft genommen wurden; sie verschwinden scheinbar von der Bildfläche. Obwohl sich normalerweise Medien wie BILD und deren intellektuelle Stiefellecker - Der Spiegel - reinhängen, um eine möglichst langwierige, komplexe, spannende Geschichte zu bieten, bleibt in diesen Fällen das journalistische Engagement auf der Strecke.

Dabei geht es freilich nicht darum, die betroffenen Zeitgenossen, die man als Terroristen in Gewahrsam nahm, reinzuwaschen. Wahrscheinlich handelt es sich ja nicht um brave Ministranten, denen man eine hanebüchene Geschichte nur angedichtet hat. Eher muß vermutet werden, dass es sich um Menschen mit einer gewissen kriminellen Energie handelt, die man beobachtete, aber gewähren ließ, die man vielleicht sogar indirekt unterstützte, um dann eines Tages zuschlagen zu können; um irgendwann einen "dicken Terrorfisch" ins Netz gehen zu lassen. Es drängt sich die Geschichte von Peter Urbach in den Vordergrund: Jener war als agent provocateur des Berliner Landamtes für Verfassungsschutz zugegen, als eine entfesselte Masse zum Axel Springer-Verlag marschierte, um dort gegen das Attentat auf Rudi Dutschke zu demonstrieren und den Verlag daran zu hindern, am Folgetag eine weitere Tagesausgabe ihrer Hetzschrift auszuliefern. Urbach verteilte im Auftrag des Verfassungsschutzes Molotowcocktails, mit dem Ziel, die Situation eskalieren zu lassen, damit ein Präzedenzfall für linken Terror geschaffen würde.

Das Problem innerhalb einer Staatsform, die sich selbst als Demokratie versteht, ist: Repression will legitimiert sein! Während in einer Diktatur die Repression schlicht und ergreifend grundlos beschlossen werden kann, muß sie sich innerhalb einer Demokratie verdient machen, d.h. sie muß begründet werden und in den auftretenden Mißständen manifest sein. Aus dem Nichts kann nicht repressiv umgeschwenkt werden, es bedarf eines Motivs, einer Initialzündung. Der Demokratie ist also nicht an Repressionslosigkeit gelegen, sondern an der legitimierten Ausführung der Repression. Im Angesicht dessen, muß jede fadenscheinige Kampagne, die gegen angebliche Terroristen geführt wird, kritisch betrachtet werden. Zieht man dann noch die jüngere deutsche Geschichte heran, mit ihrer massenmedialen Panikmache gegen (angebliche) Terrorakte, dann können und dürfen die gelieferten Informationen gar nicht als Wahrheit begriffen, sondern müssen direkt angezweifelt werden.

Daher lautet die erste Frage, die ein kritischer Zeitgenosse stellen muß nicht, woher der vermeintliche Terrorist seine Waffen, sein Geld, seine Kontakte bezog, wann er losschlagen wollte und was sein Motiv war, sondern ob er wirklich Terrorist ist oder doch eher Puddingattentäter...

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Nomen non est omen

Mittwoch, 24. September 2008

Heute: "Einzelfall"
"Bei dem Angriff auf den Deutsch-Afrikaner Ermyas M. in Potsdam im Frühjahr 2006 sprachen Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) sowie sein Parteifreund Wolfgang Schäuble von einem Einzelfall."
- Spiegel Online, Bericht vom 20. April 2006 -
„Wer glaubt eigentlich noch, dass es sich bei den drei Fahrern der Tour de France, die innerhalb von sechs Tagen des Dopings überführt worden sind, um Einzelfälle handelt?“
- Evi Simeoni, Kommentar aus der FAZ, 18. Juli 2008 -

"Es war eine Illusion zu glauben, Korruption in Deutschland käme nur im Einzelfall vor."
- Sylvia Schenk, Präsidentin von Transparency International (TI), in der Netzeitung vom 18. November 2007 -
Der sogenannte Einzelfall soll aufzeigen, dass ein Ereignis einzigartig sei. Im Gegensatz zum Massenphänomen, wie z.B. dem public viewing, tritt der Einzelfall vermeintlich selten auf. Ab wann ein Einzelfall zu einem größeren Phänomen wird ist nicht eindeutig definiert, sondern liegt vielmehr im Auge des Betrachters. Viele Akteure sprechen gern und häufig von Einzelfällen, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen und um zu rechtfertigen, warum sie nicht handeln. Die Argumentation dahinter ist die, dass eine strukturelle Veränderung nur Sinn mache, wenn ein Phänomen häufiger als einmal auftrete. Bekannte Beispiele der Einzelfallthese sind rechtsextreme Übergriffe auf Ausländer, Steuerhinterziehung und Korruption von Unternehmen, übertriebene Disziplinierungen bei der Bundeswehr sowie Ausbeutungsverhältnisse durch Praktikas, Zeitarbeit und Mini-Jobs. Auch wenn von vielen Beobachtern, Medien und Wissenschaftlern ein Ereignis den Status des Einzelfalles schon längst nicht mehr besitzt, wie z.B. bei rechtsextremen Übergriffen in den neuen Bundesländern oder der Ausbeutung durch Praktikas, so klammern sich viele Politiker an die Einzelfallthese, um keine Verantwortung zu übernehmen. Das Schlagwort wird so zu einem Instrument, um eine politische Handlung – meist aus eigenen Interessen – zu verweigern.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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Unseren täglichen Hitler gib uns heute

Vor kurzem verkündete Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt, dass das rhetorische Talent Lafontaines mit jenem unsäglichem Talent des Trommlers und späteren Messias deutschtümelnder Kreise gleichzusetzen sei. Zwar ist diese These zu bezweifeln; hätte ein Hitler mit seiner rhetorischen Ausuferung, mit seinem orgiastischen Ausrufen und dem Höchstmaß an Beleidigungen, kaum mehr Zulauf - wiewohl ein sachlicher Redner wie Lafontaine damals keinen Fuß auf den politischen Boden gebracht hätte -, aber wollen wir dem Alter seine Torheit lassen und es als geltend betrachten. Lafontaine und Hitler: Beide hielten Reden, beide - so sagt Schmidt - sind sich ähnlich.

Nehmen wir den Altkanzler also beim Wort, lassen seine provokative Aussage einfach so stehen. Freilich überlegt man sich, was jemanden dazu bewegt, solche Worte hinauszuposaunen. Ist es etwa der Neid? Ist Schmidt neidisch, weil er kein begnadeter Redner war, so wie er es Lafontaine zugesteht? Vielleicht liegt dieser rhetorische Mangel, der durchaus feststellbar war, in seinem Wesen begründet. Schmidt zeichnete sich (und zeichnet sich noch immer) durch Ausgewogenheit und Bedachtheit aus, ist durch und durch Stoiker. Impulsive Reden waren von ihm nie zu erwarten. Stattdessen wägt er jedes Wort genau ab, konkretisiert in Interviews seine Worte manchmal sogar nachträglich - das ist kein Mangel, soviel muß nachgeschoben werden, denn wer konkretisiert, der zeigt auf, dass er sich Gedanken macht, dass er nicht einfach lostrompeten will, sondern mit Bedacht Aussagen trifft. Auch diese Ruhe, die er verströmte, machten ihn zu einer charismatischen Figur der politischen Landschaft. Und als der junge Schmidt, schlank, voller Elan und immer, trotz seines Kosmopolitismus, heimatverbunden war, da war faßbar, welches charismatische Potenzial in diesem Manne schlummerte. Charisma? Sagte man das nicht auch Adolf Nazi nach?

Helmut Schmidt hob sich also ab, war anders als seine Parteigenossen, war charismatisch und stach aus der Menge heraus. Seine kalkulierende und zurückhaltende Art, stand dem nicht im Wege - ganz im Gegenteil. Vielleicht läßt sich so auch erklären, warum es ausgerechnet dieser ehemalige Wehrmachtsoffizier - das soll kein Vorwurf sein, nur eine Feststellung! - war, der als einer von zwei sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten vier Wochen lang an den ersten Reserveübungen der Bundeswehr (1957) teilgenommen hatte. Seinerzeit kostete ihm diese Teilnahme viel Reputation, zumal die Mehrheit der Deutschen sich gegen die Wiederbewaffnung aussprach. Dass für viele Oppositionelle dortmals schon begreifbar wurde, dass die SPD ins System integriert ist, "ins verrostete Geschäft der CDU einsteigt" (Dutschke), tut hier nichts zur Sache. Aber wahr ist, dass Schmidt militaristisch gesinnt war, dass er der Armee durchaus ein Existenzrecht zusprach, auch wenn das damalige Grundgesetz von einer neuen Wehrmacht nichts mehr wissen wollte. Hang zum Militärischen? Frönte nicht ebenso Adolf Nazi diesem stiefelquietschend-marschierenden Uniformen- und Hierarchienfetisch?

Aber wir dürfen nicht vergessen, mit wem wir es hier zu tun haben. Schmidt war kein Irgendwer, der trotz Unbeliebtheit zu Amt und Ehren kam, er war in seiner Generation, wenn schon nicht geliebt, so doch geachtet. Seine militaristische Befürwortung war vergessen, als 1962 die Sturmflut über Hamburg einbrach und er - in seiner Funktion als Senator der Behörde für Inneres - die Organisation- und Rettungsaufgaben übernahm. Hierbei kam der Bundeswehr die Hauptaufgabe zu - vielleicht der Grundstein des Mythos, dass die Bundeswehr schon alleine aus humanitären Gründen im Inland unersatzbar wäre. Später gestand der Senator ein, dass er nicht nach Verfassungsmäßigkeit gefragt habe und er nicht wisse, ob er überhaupt die Kompetenzen hatte, die Bundeswehr im Inland einzusetzen. Darüber soll hier auch nicht gestritten werden. Festzuhalten ist nur: Schmidt hat Courage bewiesen, hat nicht lange gefragt, sondern getan und damit Leben gerettet. Er war die starke Hand im Februar 1962, hat sich nicht um Verfassung und Recht geschert, sich damit einem womöglichen Karriereende ausgesetzt. Starke Hand? Anpacken und nicht reden? Waren dies nicht auch jene Eigenschaften, die die Wähler des Adolf Nazi ihrem Kandidaten des Vertrauens nachgesagt haben?

Man sieht, in uns allen könnte ein Adolf Nazi schlummern. Und gerade Helmut Schmidt ist dabei ans Herz zu legen, nicht allzu neidisch auf das rednerische Talent eines Lafontaine zu sein, denn wie man sah, kommt auch im Leben Schmidts einiges zusammen, was an diese gern herangezogene Gestalt aus der deutschen Geschichte erinnert. Wir essen mit Gabeln - wie einst Hitler; tragen Hemden - wie Hitler; manche essen gerne Kuchen - wie der Vegetarier und Süßspeisenfreund Hitler; lieben Hunde - wie Hitler; hören gerne Musik der Popgruppe Blondie - so hieß Hitlers Hund; man munkelt zudem, dass Hitler ebenso seinen Darm entleerte; und von Gott sprach er auch - das tun heute immer noch sehr viele Menschen! Und was erlauben wir uns nur, wenn wir Reiseführer, Städteführer, Restaurantführer verkaufen?

"Zwei mal zwei bleibt vier, obwohl auch Hitler zweifellos zugestimmt hätte." (Haffner) - Wir können die Welt nicht neu erfinden, müßten die Zivilisation neu erschaffen, wenn wir den totalen Bruch wollten. Denn Hitler, so unzivilisiert sein Regime war, entstand aus einer Zivilisation - gerade deswegen war sein Handeln ja so unzivilisiert, so fremd jeglicher Zivilisation. Wenn man also nun beginnt, jeden politischen Gegner mit Hitler in Verbindung zu bringen, nur weil er vielleicht ein begnadeter Redner ist, wie seinerzeit der NSDAP-Trommler - zu Zeiten seiner Führerschaft, so wird berichtet, soll er kein herausragender Redner mehr gewesen sein -, dann begibt man sich auf sumpfiges Terrain. Und wieso erntet man Kopfschütteln, wenn man erklärt, dass dieser Staat nicht nur auf den Ruinen des Dritten Reiches, sondern schlimmer: mit Hilfe der Eliten des Dritten Reiches aufgebaut wurde? Warum darf man dann, wenn doch das Vergleichen mit Hitler und den Seinen so schamlos praktiziert wird, nicht klar formulieren, dass eine Republik, die in ihren Anfangszeiten NS-Faschisten in einflußreichen Positionen hatte, eine zweifelhafte Existenzberechtigung besitzt? Sind denn nicht viele Institutionen und Organisationen nationalsozialistisch angehaucht, weil in der Gründungszeit der BRD eben viele solcher brauner Gestalten an den Schalthebeln der Macht saßen?

Es ist nicht fadenscheinig, heutige Geschehnisse mit den Zuständen von 1918 bis 1945 zu vergleichen. Und es ist auch nicht fadenscheinig, einige Protagonisten mit Hitler in Relation zu setzen. Als beispielsweise Franz-Josef Strauss damals forderte, man müsse in Haft befindliche RAF-Mitläufer erschießen, um damit Schleyer freizupressen, da liegt das "Heranziehen von Hitler" geradezu auf der Hand und hat gewisse Berechtigung - die Journalistin Ulrike Meinhof meinte ja schon Jahre vorher, dass man ihre Generation nach Strauss fragen wird, so wie man die Vorgängergeneration nach Hitler gefragt habe. Wenn das aber legitim ist, dann in aller Konsequenz! Dann muß man Lafontaine als Hitler durchgehen lassen, aber auch die Bereitschaft an den Tag legen, die CDU mit der NSDAP zu bewerten. Einseitigkeit ist dann nicht mehr erlaubt. Vielleicht würde dieses radikale "Heranziehen von Hitler" auch dazu führen, endlich eine Aufarbeitung der damaligen Zeit zu bewirken, die diesen Namen auch verdient - keine knoppsche Betroffenheitshistorie, sondern ein klares Herausarbeiten des nationalsozialistischen Erbes, das dieser Republik immer wieder immanent ist.

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Ansichten eines Büttels

Dienstag, 23. September 2008

Natürlich kann ich mich wieder im Spiegel ansehen. Und was heißt denn da „wieder“? Konnte ich immer, heute wie damals. Ihr jungen Leute müßt immer gleich mit moralischen Vorwürfen aufkreuzen. Dabei wisst ihr gar nicht, wie es damals war!

Sicher, Sie haben recht, die Geschichte hat uns als Irrtum abgestempelt und, nebenbei bemerkt, wir haben dafür auch bezahlt. Wissen Sie eigentlich, welche Auflagen einem sogenannten „Kollaborateur“ danach gemacht wurden? Ich hatte Glück... das heißt vielmehr: ich hatte mir nichts zu Schulden kommen lassen. Bin deswegen auch in zweiter Instanz von der Kommission zur Vergangenheitsüberprüfung freigesprochen worden.

Wie bitte? Achso, ja, da sprechen Sie den wunden Punkt meines Berufslebens an. Ich durfte wirklich nicht mehr im öffentlichen Dienst arbeiten, meine Karriere als Sachbearbeiter war nach dem Umsturz beendet. Ich hatte diese Arbeit gerne gemacht; sie war mir Berufung. Später durfte ich Akten in Regale ordnen und Papiere abheften - der berufliche Umgang mit Menschen war mir ab da strikt verboten. Aber ich muß trotzdem zugeben, Glück gehabt zu haben. Andere - Kollegen von mir, wenn man das so bezeichnen will - wurden ja sogar wegen versuchten Mordes eingesperrt. Ich las damals voll Erstaunen, dass man einige Unglückliche sogar wegen Mordes, nicht nur wegen des angeblichen Versuches dazu, zu lebenslanger Haft verurteilt hat.

Zurecht? Ich bitte Sie! Wir haben damals nur das geltende Recht angewandt. Jemanden die finanzielle Grundlage zu entziehen war eben Usus. Frei darüber entscheiden durften wir nicht; immerhin gab es dieses ominöse Gesetzbuch, dessen Namen - oder Abkürzung besser gesagt - man ja heute als Inbegriff sozialpolitischer Teufelei brandmarkt. Außerdem ist das Entziehen der finanziellen Mittel bei weitem kein Mord...

... einem das Brot entziehen? ... in eine schlechte Wohnung stecken? Ach, Sie zitieren Brecht, nicht wahr? Hören Sie mir mit dem auf! Überhaupt sollten Sie hier nicht so dreist anderer Leute Hirngespinste runterbeten. Ich habe mich nie als potenzieller Mörder gefühlt, ganz einfach deshalb nicht, weil ich keiner war. Das Gesetz gab mir die Mittel in die Hand und ich mußte sie anwenden. Punkt - so war das eben! Hören Sie nochmals ganz genau zu, junger Mann: Ich mußte sie anwenden. Ich mußte! Verstehen Sie das?

Ja, schon richtig, ich habe vorhin gesagt, dass meine Stellung als Sachbearbeiter – Fallmanager nannte man das seinerzeit, um genau zu sein – einer Berufung gleichkam. Ach bitte... nur weil ich gerne meinen Dienst getan habe, soll ich Mitschuld tragen? Überlegen Sie doch mal: Wäre ich dort nicht gesessen, dann halt ein anderer - vielleicht einer, der wirklich einen sogenannten Mord begangen hätte. Warum hätte ich mir also Gedanken um mein Gewissen machen sollen? Was hätte mein Gewissen denn getan, wenn ich gekündigt hätte und ein anderer, viel schlimmerer Kollege, hätte mein Aufgabenfeld übernommen? Hätte ich den Kollegen beseitigen sollen, um meinem Gewissen erneut Befriedigung zu verschaffen? Sehen Sie es doch einmal so: Ich hatte ein reines Gewissen, nicht obwohl ich dort meinen Dienst tat, sondern weil ich es tat. Ich habe den Posten besetzt, um keinen Menschenfeind dort zu wissen... Ich verbitte mir diesen Zynismus! Verstanden? Ich war kein Held, ich tat meinen Dienst.

Ach, jetzt hören Sie doch auf! Wir wurden doch nie gefragt! Eines Tages verkündete die damalige Politik, dass man einen neuen Kurs einschlagen müsse. Und dann dauerte es nicht mehr lange und man hatte die Arbeitslosen mittels einem Verwaltungsprogramm... Wie? Ja, sehr wohl: ein Verwaltungsprogramm! Eure Generation hat erst den Begriff „bürokratisches Ermorden“ ersonnen; damals sprach niemand sowas aus. Genauer gesagt war dieses Programm äußerst beliebt. Was? Sie glauben es nicht? Müssen Sie auch nicht. Ich sage Ihnen noch was: Sogar die Betroffenen selbst waren große Anhänger dieses Programmes.

Damals fanden freilich Attentate auf Sachbearbeiter statt – das leugne ich gar nicht. Aber nein, junger Mann, dies widerlegt meine Erfahrung - wonach die Betroffenen des Verwaltungsprogrammes Anhänger desselbigen waren - nicht. Ganz im Gegenteil: Diese Attentäter sind sogar notwendig, um meine These zu belegen. Sie waren die Ausnahme, die die Regel erst zur Regel machten. Überhaupt sollten Sie sich einmal fragen, wen Sie hier so moralisch in die Zange nehmen. Ich meine, meinesgleichen hat niemals den Knüppel benutzt, die Arbeitslosen der damaligen Tage aber immer wieder mal. Sie verteidigen vielleicht die falschen Positionen, meinen Sie nicht?

Natürlich habe ich einigen Verweigerern - aber ich möchte schon festhalten: nur den Totalverweigerern - die Mittel entzogen. Es war so vorgeschrieben. Ich konnte, selbst wenn ich gewollt hätte, nichts dagegen unternehmen. Ob ich Freude daran hatte? Ha, was wollen Sie wohl hören? Soll ich es zugeben, damit Sie bestätigt sehen, welches Monster ich doch bin? Von mir aus: Ja, ich hatte Freude daran - aber nicht bei allen Sanktionen, die ich aussprechen mußte.

Beispiele? Bei wem es mir nicht leidtat? Lassen Sie mich mal überlegen... Achja: Da gab es einen Mann, der ist immer in mein Büro gehumpelt, war angeblich krank. Naja, er war es nicht nur angeblich. Ich glaubte es ihm auch. Aber er kann doch nicht einfach einen Arbeitsplatz abschlagen, und sich damit entschuldigen, dass er keine sieben Stunden stehend arbeiten kann. Mir tat es leid um ihn, aber die Größe eines Angestellten, der von der Gesellschaft dazu auserwählt ist, Verwaltungsarbeit zu tätigen, läßt sich am Pflichtgefühl messen. Ich konnte doch nicht einfach meine persönlichen Gefühle heranziehen, um diesen Menschen straffrei zu belassen - das wäre förmlich anmaßend gewesen.

Was aus ihm geworden ist? Hören Sie, das ist alles lange her – Jahrzehnte mittlerweile. Er nahm sich das Leben, sagen Sie? Woher wollen Sie das wissen? Schwarz auf weiß? Und ich soll davon gewußt haben? Wie gesagt, das ist alles lange her... Zeigen Sie mir doch mal das Papier... ja, meine Unterschrift ist das schon. Naja, kann schon sein, dass man mich damals mit diesem tragischen Fall konfrontiert hat. Wir mußten doch wissen, wer noch zu betreuen war und wer nicht. Also war eine solche Meldung unumgänglich. Einem Toten Einladungen schicken...

Hören Sie auf! Deswegen bin ich doch aber kein Mörder! Sie sagten doch selbst: Selbstmord! Habe ich ihn etwa dazu gezwungen? Habe ich es ihm vielleicht auch nur angeraten? Nein, nein, nun sind wir die Schuldigen, obwohl wir genauso Opfer waren, wie diejenigen, die sich heute als „Opfer des neoliberalen Regimes“ eintragen lassen können.

Selbstmitleid? Selbstmitleid? Pah, was wissen Sie schon? Sehen Sie, wenn da ein Familienvater kam, der eine Arbeitsstelle fern der Heimat nicht antreten wollte, weil er sentimental genug war, seiner Familie einen höheren Stellenwert einzuräumen, als der Solidargemeinschaft, die für ihn und die Seinen aufkommen mußte, dann tat einem das als Mensch schon leid... Wie? Natürlich mußte ich ihm eine Sanktion zukommen lassen. Meine Gefühle waren nicht maßgebend – maßgebend war das Gesetz. Aber man war eben doch Mensch - und litt zuweilen darunter.

Ja, ich habe damals gut geschlafen. Warum? Sollte ich schlecht geschlafen haben, nur weil ich meine Arbeit gemacht habe? Ich sagte doch schon, dass ich so schonend mit meiner Kundschaft war, wie nur... ja, ganz recht: Kundschaft! Wieso lachen Sie? Immerhin haben wir dem Dienstleistungssektor angehört; haben für unsere Kunden etwas getan. Aber Kunden sind oft sehr undankbar, das haben wir schnell erfahren müssen. Lassen Sie mich bitte fortfahren: Ich war ein schonender Vertreter meiner Zunft. Andere waren weitaus schlimmer. Wie schlimm, habe ich aber erst nach dem Umsturz erfahren. Glauben Sie mir, ich war auch schockiert. Wir haben ja alle nichts gewußt! Aber deswegen war doch damals nicht alles schlecht, nur weil einige es maßlos übertrieben haben.

Ja, man hat mir vorgeworfen, regionale Unternehmen, deren Besitzer ich privat kannte, mit billigen Arbeitskräften und damit verbunden, mit staatlichen Subventionen, unterstützt zu haben. Ob der Vorwurf begründet war? Sehen Sie es doch einmal objektiver: Wenn Sie einem Freund einen guten Dienst tun können und dieser gute Dienst bereichert auch noch einen Dritten, was ist dann daran auszusetzen?... Natürlich bereicherte es Dritte! Denjenigen nämlich, den ich dorthin vermittelt habe! Wie können Sie nur behaupten, dass meine Dienste wertlos waren? Es ist geradezu dreist von Ihnen zu behaupten, der in Arbeit gekommene Kunde hätte keinerlei Nutzen davon gehabt. Immerhin hatte er Arbeit und das war schon mal was. Aber die meisten wollten dieses Angebot ja gar nicht annehmen...

Hetze? Was Sie hier Hetze nennen – nach dem Umsturz hat man ja oft von dieser angeblichen Hetze geredet -, war die bittere Realität. Was die Tageszeitungen damals schrieben war Tatsache. Ich konnte alle Geschichten von den Tricks und Raffinessen der Arbeitslosen unterschreiben, habe alles so oder ähnlich auch selbst erlebt. Die meisten Arbeitslosen waren einfach faul, haben einen ordentlichen Tritt gebraucht. Ich könnte Ihnen Sachen erzählen! Aber wozu? Man glaubt uns heute sowieso nicht mehr.

Junger Mann, Sie müssen nicht so erstaunt den Kopf schütteln. Sie waren damals nicht dabei. Nebenbei: Wie alt sind Sie eigentlich?... Dachte ich mir. Jung, aber vorwitzig genug, mir das Gefühl zu geben, ein ganz besonderer Exot aus einer längst vergangenen Zeit zu sein. Ich komme mir vor wie ein Wilder – Sie machen einen Wilden aus mir. Damals hätte man uns nie als Wilde oder Asoziale bezeichnet, wie man es dann danach immer wieder tat. Fehlgeleitete hat man uns genannt. Ich sagen Ihnen was, hören Sie genau hin: Wir haben uns damals geirrt. Aber nicht, weil wir uns geirrt haben im Inhalt unseres Tuns, sondern weil die Zeit noch nicht reif war, einen neuen, auf Disziplin bedachten Menschentypus zur Wirklichkeit werden zu lassen. Die Welt war ja damals noch immer kommunistisch verseucht...

Sehr wohl: Disziplin. Da haben Sie schon ganz richtig gehört! Wenn ich Ihresgleichen schon höre! Da schwingen Sie wundervolle Reden, erklären, dass wir seinerzeit hätten rebellieren sollen. Individuelles Gewissen und dergleichen mehr! Alles Quatsch! Jeder Mensch - auch Sie! - hat eine Aufgabe, die er zu erfüllen hat. Meine Aufgabe war seinerzeit das, was wir hier besprochen haben. Daran gab es nichts zu deuteln. Ich war mir meiner zugeteilten Aufgabe bewußt, meine Kunden leider nicht immer. Im Leben kann man sich nicht aussuchen, was einem angenehm ist und was nicht. Man ist da und man tut – das ist die ganze Wahrheit. Moral ist eine Kategorie für Nichtsnutze, die Zeit haben, sich solche Kategorien zu erfinden. Von diesem Ehrgefühl weiß Ihre Generation leider nichts mehr. Deshalb glaubt ihr ja, dass ihr uns wie Verbrecher behandeln dürft! Wir sind für euch Verbrecher, weil wir Ehrgefühl hatten.

Oder besser gesagt: Wir waren Verbrecher! Denn viele sind wir nicht mehr. Bei der letzten Jahreszusammenkunft der ODESSA (Anmerkung des Aufzeichners: Organisation der ehemaligen SGB-Sachbearbeiter der ArGen) waren nur noch einige hundert Mitglieder anwesend. Traurig? Natürlich! Aber nicht wegen mir. Wer weiß wie lange ich dieses Leben als geächteter Verbrecher der Vergangenheit noch ertragen muß... nein, wegen euch! Ihr werdet uns vermissen, dessen bin ich mir felsenfest sicher. Euch werden früher oder später Staatsbedienstete fehlen, die ihr eigenes Gewissen ausschalten, die kollektiv denken, nicht fragen sondern tun – ihr werdet unserer liebevolle gedenken.

Sagen Sie niemals nie! Der Zeitgeist hat uns schon einmal zu Teufeln verklärt. Warum sollte er sich nicht noch einmal wenden? Wir waren Sieger, wurden Verlierer – und womöglich macht uns der Ozean der Zeit erneut zu Gewinnern...

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Sit venia verbo

Montag, 22. September 2008

"Eine große Menge schlechter Schriftsteller lebt allein von der Narrheit des Publikums, nichts lesen zu wollen, als was heute gedruckt ist - die Journalisten. Treffend benannt! Verdeutscht würde es heißen 'Tagelöhner'."
- Arthur Schopenhauer -

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Schröpft die Kranken!

Sonntag, 21. September 2008

Einmal mehr glänzt Nicolaus Fest, Mitglied der BILD-Chefredaktion, durch eine Darlegung seines Weltbildes. Es ist eines jener spießbürgerlichen Weltbilder, das Sündenböcke braucht, Schuld auf das schwächste Glied der Gesellschaft schiebt und sich durch Vorurteile und falsch interpretierte Einsichten selbst am Leben hält. "Hieb- und Stichfest" nennt sich seine allwöchentliche Kolumne, und es versetzt der aufgeklärten Vernunft wahrlich immer wieder einen Hieb und sticht immer wieder arg in der Seele, wenn man lesen muß, mit welchem Gestank aus konservativer Herrenrunde und bürgerlicher Spießigkeit, er seine Traum- und Wunschwelten niederschmiert.

So auch unlängst, als er zurückhaltend - aber dennoch die Stoßrichtung vorgebend - fragte, ob denn Dicke, Raucher und Alkoholiker höhere Kassenbeiträge zu leisten hätten. Dabei legt er erst dar, dass in Zeiten knapper Kassen die Zentrale Ethik-Kommission darüber zu entscheiden habe, was die Krankenkassen zu zahlen haben und was nicht. Über ethisches Denken und Handeln läßt sich trefflich streiten - darum soll es aber an dieser Stelle nicht gehen. Fest erklärt daraufhin, was die Kommission als klare Leitlinie vorgab - nämlich dass alles bezahlt werden müsse, was Leben rette und wesentliche Körperfunktionen aufrechterhalte. Dass man als Arzt und Krankenkasse nicht darüber zu urteilen habe, wie alt der Patient ist, also konkret: das die Frage, ob denn ein Hüftgelenk für einen Greis weniger wichtig sei, als die Heilung eines schwerkranken Kindes, wußte die Ethik-Kommission mit dieser Neutralität und Gleichbehandlung allen Lebens aus der Diskussion verbannt. Dies ist im Sinne ethischen Handelns zweifelsohne zu begrüßen. Denn: Jedes Leben will gelebt sein! Das Alter eines Lebens spielt hierbei keine Rolle. Wenn man einen Unfallort betritt, an dem ein Neunzigjähriger lebensbedrohliche Verletzungen erlitten hat, gleichzeitig liegt daneben ein Kind, welches gleichfalls um sein Leben ringt, dann mag es menschlich vertretbar sein, sich dem Kinde zuzuwenden. Ethisch vertretbar ist es indes aber nicht, denn ethisch betrachtet gibt es keine Vorfahrt oder Besserstellung des einen Lebens vor dem anderen. Nun wird aber dem Lebensretter eine Entscheidung abgenötigt, die auf der einen Seite lebensspendend sein kann, während sie auf der anderen Seite ethisch verfehlt - man ist also ethischer Sieger und Verlierer zugleich. Eine wahrhaft ethische Lösung wäre nur, wenn man sich zerreißen, wenn man beiden gleichzeitig helfen könnte.

Hätte sich die Ethik-Kommission für eine Aufwertung jüngeren Lebens entschieden, nur weil man annehmen könnte, dass das ältere Leben sein Leben gelebt hätte, dass es ohnehin bald zuendegehe mit dem älteren Lebensentwurf, so hätte sie ihr Ziel verfehlt, wäre keine Ethik-Kommission mehr, sondern eine Kommission des Abwägens, eine "Kommission über Leben und Tod".

An dieser Stelle ein kurzer, schmerzloser Schnitt, denn um die ethische Darlegung der Problematik sollte es ja eigentlich nicht gehen. Fahren wir lieber mit Fests Zeilen fort, die also erläutern, dass die Kommission sich damit klar gegen eine ethische Differenzierung, die auf Alter und Risiken basiert, ausspricht - daher auch keine höheren Kassenbeiträge für Senioren und Risikogruppen für ethisch vertretbar hält. Gleichzeitig zieht Fest Einsichten heran, die sich nur schwer verfolgen lassen, wenn er freimütig Studien interpretiert und behauptet, dass die Bürger nicht der Ansicht wären, wonach höhere Beiträge aufgrund Alters und Risikos gegen das Solidarprinzip verstossen würden. Die Versicherten wären vielmehr sogar mit Risikozuschlägen wegen "Alkoholismus, Rauchen, Übergewicht oder der Teilnahme an Risikosportarten" einverstanden!

Alkoholismus, Rauchen, Übergewicht? - Vielleicht einige Anmerkungen dazu, um klarzumachen, was Fest hier eigentlich fordert:
Der Alkoholismus wird als Krankheit anerkannt. Klassifikation nach ICD-10: F10.2. Er ist eine Abhängigkeitserkrankung - eine Sucht also. Bedingt durch den allzu offenen Umgang mit dieser leichten Droge - viele Experten sprechen von einer Einstiegsdroge -, angeregt durch individuelle oder familäre Probleme, manchmal auch sozio-ökonomisch auferlegt. Aus Spaß an der Freude, aus jugendlichen Bacchantentum also, wird man normalerweise nicht zum Alkoholkranken - es sind Zwänge, die einen in einem schwachen Moment dazu verleiten, die ihn zudem leicht an einen "Schluck Vergessens und Überspielens" herankommen lassen, wenn man nur das nötige Geld dazu aufwenden kann.
Ähnlich, wenngleich ohne Status als anerkannte Krankheit, verhält es sich mit dem Rauchen. Auch an Tabak reicht man ohne größere Probleme heran. Ein oftmals gesellschaftlich auferlegter Gruppenzwang fördert den Einstieg in die gesellschaftlich tolerierte, als Normalität des Alltags verklärte Sucht. Obwohl ein Abhängigkeitsverhalten offenbar ist, gilt das Rauchen nicht als Krankheit - die Folgen, die sich einstellen können allerdings schon. Lange Zeit sah der Staat dabei zu, wie Menschen mittels Propaganda zu Rauchern gemacht wurden. Heute ist die Rauchererziehung verboten, wenngleich mit einer gigantischen Raucherschaft horrende Steuereinnahmen gesichert sind - einerseits ist der Raucher also verdammt, andererseits geradezu erwünscht. Er soll also für seine Suchterscheinungen aufkommen, wie er auch für das Anti-Terror-Paket aufkommt.
Die Fettleibigkeit wiederum ist eine anerkannte Krankheit, die sich mittels ICD-10 mit E66.0 bis E66.9 klassifizieren läßt. Die Faktoren für Adipositas (Fettleibigkeit) sind verschiedenster Art: sozio-kulturell, genetisch, krankhaft, durch Medikamente bedingt. Das Leben in der heutigen westlichen Zivilisation fördert das Dicksein, erlaubt es Menschen, sich beinahe nicht mehr bewegen zu müssen. Andere kommen schon als Fettsüchtige auf die Welt, tragen den Keim ihres Dickseins bereits in den Genen mit sich herum. In vielerlei Fällen führen Medikamente, die man zur Heilung oder Eindämmung anderer Krankheiten zu sich nimmt, zur Adipositas. Hinzu kommt als neuere Erscheinung: Während in vergangenen Jahrhunderten gerade aus reicheren Haushalten Fettsüchtige kamen, sind heute die Unterschichten verstärkt davon betroffen, weil sie sich weder qualitativ hochwertige Nahrung noch (oft überteuerte) Sportangebote leisten können.

Um es in aller Direktheit zu sagen: Fest startet hier einen Angriff auf Kranke. Diese sind oftmals - freilich nicht immer - Opfer gesellschaftlicher Zwänge, manchmal auch nur Opfer ihrer genetischen Modifikation. Sie sollen nun, ginge es nach diesem Mitglied der BILD-Chefredaktion, zur Kasse gebeten werden, weil sie krank sind, weil sie an Suchten leiden, für die sie normalerweise keinerlei Schuld tragen. Es ist der verkappte Angriff auf Kranke, nachdem man schon aus ökonomischen Opfern - aus Arbeitslosen - Schuldige geschmiedet hat. Nun sind auch die Kranken nicht mehr heilig, nun werden zunächst offensichtlich selbstverschuldete Kranke in Szene gesetzt, um damit einen Generalangriff auf alles, was sich krank durch die Lande humpelt und hustet, zu starten. Und dass es Nicolaus Fest offensichtlich nicht um Aufklärung, sondern um Geschäftemacherei geht, läßt sein abschließender Satz erkennen, den er einem gewissen Professor Diederich in den Mund legt: „Nach den vorläufigen Ergebnissen sind die Bürger deutlich einsichtiger und belastbarer, als die Politik mitunter annimmt.“ - Einsichtiger und belastbarer, um künftig auch mehr Selbstbeteiligung zu bezahlen oder eben - falls man sich nicht höher selbstbeteiligen kann -, sagen wir es unverblümt: an der Krankheit zu verrecken.

Ausgezeichnet ist es da natürlich, wenn diese Art von Vorstoß zu mehr Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen, in Fests Stammtisch-Weltbild paßt, in dem es keine Opfer gibt, die keine Produkte der Umwelt sind, sondern nur selbstverantwortliche Schuldige, die man bestrafen muß, und die man für ihr Handeln ganz alleine haftbar machen muß.

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Gegenöffentlichkeit hetzt Öffentlichkeit

Samstag, 20. September 2008

Vor einigen Tagen kamen die NachDenkSeiten - namentlich Albrecht Müller - zu der Einsicht, dass der Widerstand gegen den Einheitsbrei anwachse und die Gegenöffentlichkeit langsam aber sicher immer mehr Menschen erreiche. Anzumerken sei aber auch, dass die Stärkung einer Gegenöffentlichkeit nicht alleine den NachDenkSeiten angerechnet werden darf. Auch wenn der Großteil dieser "anderen Öffentlichkeit" durchaus auf deren Konto geht, so muß man doch all die kleinen, oft geradezu winzigen und solche, die mittlerweile als mittelgroße Blogs gelten dürfen, erwähnen. Jene ringen täglich mit dem Wahnsinn der Massenmedien, um eine andere Sichtweise des Vorgekauten und Vorgegebenen zu ermöglichen. Dabei spielt es auch gar keine Rolle, ob die einzelnen Akteure lediglich "journalistische Kostbarkeiten" aus den Massenmedien - die Ausnahme, die die Regel bestätigt! - aufgreifen und verlinken, Positionen der NachDenkSeiten heranziehen und weiterspinnen oder kommentieren, oder aus ihrem direkten und indirekten Umfeld Zustände herauspicken, um sie zu dokumentieren - jede dieser und weiterer Formen der Gegenöffentlichkeit hat ihre Berechtigung und trägt dazu bei, einer kleinen Schar von Lesern zum Umdenken, wenigstens aber zum Nachdenken, zu verhelfen.

Obwohl seit nun geraumer Zeit gegen die LINKE gehetzt wird, obwohl die Massenmedien versuchen, Lafontaine und Gysi als Wölfe im Schafspelz zu verunglimpfen, wächst deren Wählerpotenzial. Prognosen zur bayerischen Landtagswahl schließen nicht aus, dass der LINKEN am 28. September die Sensation gelingen könnte - und dies in einer Zeit, da gegen die LINKE mit aller Vehemenz angeschrieben und berichtet wird. Als man sich zur LINKEN ausschwieg, als die Massenmedien und die etablierten Parteien - richtig müßte es wohl heißen: "die Massenmedien und ihre Parteien", denn man bedenke, wie die Haderthauers und Scholzes auf alles reagieren, was in den Redaktion so zusammengeschrieben wird - dazu noch nichts oder wenig äußern wollten, da war von einem prognostizierten Einzug in den bayerischen Landtag noch gar keine Rede. Dieser paradoxe Zustand darf durchaus der Gegenöffentlichkeit zugeschrieben werden - der großen und relativ bekannten gleichermaßen, wie der kleinen und nur einer begrenzten Leserschaft erreichenden. Weil nämlich die zur Normalität gewordene Propaganda von BILD, Stern, Spiegel, Focus etc. in Blogs und Projekten erläutert, auseinandergenommen, sprachlich analysiert, polemisch durchdacht wird, wird dem nach Informationen suchenden Menschen ermöglicht, eine neue Sichtweise zu erlangen.

Dies alles hat aber nichts damit zu tun, verkappte Wahlwerbung für die LINKE zu machen, wie man das vielleicht fehlinterpretieren könnte - es ist eher Werbung für die Demokratie, Werbung für den Pluralismus und für eine Vielfalt an Sichtweisen. Es ist eine gegenöffentliche Hetze gegen den Einheitsbrei der Massenmedien, denn die Gegenöffentlichkeit hetzt den Irrtümern, Halbwahrheiten und Verdummungen der etablierten Medien hinterher, hetzt sich dann ab im Formulieren von Gegenschriften, Aufdecken, Aufklären, um nachher die Legionen von Lesern gegen den Einheitsbrei der üblichen Medieninstitutionen aufzuhetzen. Freilich sind es (noch) keine Legionen, die sich gegen die ehemaligen Informanten von BILD und Spiegel wenden, aber die Sensibilisierung scheint kleinen Schrittes voranzugehen, der Skeptizismus neuen Nährboden zu erhalten.

Wenn sich ein etablierter Journalist wie Tichy so rüpelhaft in einem Studio benimmt, wenn ein Moderator wie Herres wie ein Voyeur zusieht, wie andersdenkende Journalisten überfahren werden, wenn Diekmann aus seinem Blatt heraus hetzen läßt und von Seiten der Politik noch nicht einmal gescholten wird, dann ist das nicht Anzeichen dafür, dass der Kurs der Neoliberalen fruchtet und unproblematisch vonstatten geht, sondern ganz im Gegenteil: Hier findet sich der Beleg dafür, dass dort die Angst herrscht, der Zeitgeist könnte sich wandeln. Denn säßen sie sicher auf ihren Rößern, so müßten sie nicht laut werden, polemisch, beleidigend, unverblümt menschenverachtend, müßten Andersdenkende nicht als Spinner und Phantasten neben sich stehen lassen. All diese Ausuferungen der Meinungsmache, die wir in den letzten Monaten mehr und mehr in unverhüllter Stumpfsinnigkeit und Geistlosigkeit in die Wohnstuben geliefert bekommen, sind doch klare Symptome, dass die etablierten Hetzer ein möglicher Zeitgeistwechsel ängstigt - was nicht heißen soll, dass eine Umkehr des Zeitgeistes schon vor der Türe steht, aber zumindest meinen es die Tichys dieser Republik zu glauben.

Als der besagte Herr im letzten Presseclub sein Platzhirsch-Gehabe mit einer unbeschreiblichen Selbstherrlichkeit an den Tag legte, da waren nicht nur die Reaktionen darauf, die eindimensionalen Einträge im dortigen Gästebuch - die laut eines Leser der NachDenkSeiten übrigens zur Gänze kritisierend waren, keinerlei Beipflichtungen oder Lobpreisungen boten -, ein Werk der NachDenkSeiten und der gesamten Gegenöffentlichkeit. Vielmehr ist das ganze Auftreten Tichys darauf zurückzuführen, dass die Gegenöffentlichkeit Schritt für Schritt die Menschen erreicht, womit die gesellschaftliche Stellung eines solchen Agenda-Jüngers nicht mehr sakrosankt ist. Es ist eine Mischung aus voller Hose und todeszuckenden Beißreflexen, die solche Gestalten bar jeglicher kaschierender Maske auftreten läßt.

Die Gegenöffentlichkeit in Gesamtheit greift also nicht nur tichyianische Auswüchse auf, um sie zu kommentieren und klarzustellen - sie ist auch schuld daran, dass hin und wieder Zeitgenossen in dieser Weise Amok laufen. Denn gäbe es sie nicht, hätte der Einheitsbrei schon lange eine rundherum homogene Bürgermasse geknetet, die keinerlei kritisches Denken mehr formulieren würde. Kurzum: Die Gegenöffentlichkeit, wir, sollten uns freuen, dass gelegentlich einige dieser Herrschaften ausrasten und maßlos überziehen! Täten sie das nicht, dann müßten wir uns sorgen, dann wären sie mit ihrem Irrsinn auf dem besten aller möglichen Wege. Und würden die Massenmedien nicht derart gegen die LINKE wettern, wären unsere Sorgen noch größer, als sie schon sind - solange gewettert und ausgerastet wird, solange keine enthobene Gleichgültigkeit praktiziert wird, ist vielleicht noch nicht alles verloren.

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In nuce

Freitag, 19. September 2008

Erst eine Finanzkrise stoppte das seit Jahren verkündete Märchen, wonach der Rente durch Kapitaldeckung die Zukunft gehöre und das Umlageverfahren ein Relikt vergangener Tage - manche meinte gar: aus den Tagen Bismarcks! - sei. Plötzlich geben einschlägige Vertreter der Massenmedien zu, dass ausgerechnet jene Renten sicher sind, die per Umlageverfahren ausgezahlt werden. Man darf nun freilich nicht hoffen, dass die BILD-Zeitung und heute.de zugeben werden, einst selbst - manchmal unterschwellig, nicht selten aber ganz ohne Maske - einen Irrtum zum Dogma erhoben zu haben. So weit geht die Einsicht dann doch nicht; vielmehr ist es nun so, dass die großen Verdummer vergangener Jahre so tun, als wäre nichts gewesen. Und besonders dreiste Vertreter der Massenmedien werden ein "Wir-haben-es-doch-immer-gesagt"-Verhalten an den Tag legen. Obwohl die kurz aufflackernde Einsicht erfreulich ist, ernüchtert sie dennoch sehr. Denn wenn Medien lautlos dazu übergehen, das Gegenteil dessen zu berichten, was sie Jahr für Jahr als geradezu sozialromantischen Kitsch verklärt haben, dann darf man getrost an der Aufrichtigkeit der Einsicht zweifeln. Man fühlt sich an das "Ministerium für Wahrheit" erinnert, wie es uns in Orwells Dystopie begegnet, und man fragt sich unwillkürlich, wo denn die zu öffnende Klappe ist, die in die Tiefen eines gigantischen Feuers hinabführt, in welche man die Wahrheiten von heute einwerfen und damit verbrennen kann, damit sie morgen für immer von der Bildfläche getilgt sind - so getilgt und vergessen wie die neue Einsicht, daß man mit dem Umlageverfahren sicherer fährt. Denn die Einsicht von heute ist der Irrtum von gestern...

Es gibt Menschen, die können tun, was sie wollen, sie machen es doch nie jemanden recht. So auch Andrea Ypsilanti, die machen und verkünden kann, was sie will - Anerkennung findet sie kaum. Nun hat man sie ja kürzlich mittels eines Imitators telefonisch verkohlt. Der Radiosender ffn ließ einen "Müntefering" bei der Landesvorsitzenden der Hessen-SPD anrufen. Zunächst hieß es, Ypsilanti hätte das sieben Minuten lange Gespräch, bei dem sie nicht erahnte, mit einem Schwindler verbunden zu sein, mit Humor aufgenommen; man hätte sich aber dahingehend geeinigt, das Gespräch nicht an die Öffentlichkeit weiterzureichen. Kurz darauf erschien aber dennoch ein kurzer Mitschnitt bei YouTube. Dort ist zu hören, wie der falsche Müntefering Ypsilanti Posten und Pöstchen in Berlin anbietet, sie aber sofort, ohne darüber auch nur nachdenken zu müssen, ablehnt. Nun ist es so, dass man Politikern gerne nachsagt, sie seien machtbesessen - das mag in den meisten Fällen wahrscheinlich auch auf die eine oder andere Weise zutreffen. Aber jetzt zeigt die hessische SPD-Vorsitzende, dass sie eben nicht auf Macht aus ist - zumindest nicht um jeden Preis -, sondern einen Wählerauftrag in Hessen zu erfüllen hat und prompt muß sie sich mit Schelte seitens der Massenmedien auseinandersetzen. Die BILD stichelt seit Tagen unheilschwanger und mit ominöser Fragerei, warum denn die SPD wohl dieses Gespräch verheimlichen wollte - nebenbei bemerkt ist der Axel-Springer-Verlag Anteilseigner des besagten Radiosenders.
Was hätten die Medien getan, wenn Ypsilanti einen möglichen Posten in Berlin, und sei dieser auch nur ein Hirngespinst des Imitators gewesen, angenommen hätte? Sie hat es aber eben nicht getan und muß sich dafür kritisieren lassen. Aus Verantwortungsgefühl ist sie nicht in Hessen geblieben, da ist man sich einig - warum dann, bleibt aber fraglich. Vielleicht würde sie an der Spree Grüne Soße und Spundekäs vermissen. Ja, womöglich könnten sich die üblichen verdächtigen Medien mit dieser Form kulinarischen Egoismus' anfreunden, um Frau Ypsilanti als egomanische Person zu stilisieren, die Berlin nur fernbleibt, um sich im Hessischen zu völlen. Denn jemand wie Ypsilanti hat kein Gewissen...

Kürzlich habe ich ein Profil erstellt, welches dem Betrachter erleichtern sollte, seinen Gegenüber zu erkennen. Darin wurde vom Begrüßungsritual der Asozialen berichtet. Komischerweise, so habe ich mich schon lange gefragt, haben die fotografierten Schwerenöter in der BILD-Zeitung, immer den Hang dazu, besonders böse und gehässig dreinzublicken oder mittels Stinkefinger aufzufallen.
Nun hat man die angebliche Sozialschmarotzerin (hier rechts im Bild) zur Rechenschaft gezogen. Vor einigen Tagen gab man sich noch ein wenig spießbürgerlich entrüstet, weil sie "hier pöbelt". Und nun betrachte man die beiden Bilder, die hier rechts abgebildet sind. Zwei verschiedene Bilder: Die Dame scheint identisch zu sein, die Aufnahmen sind es aber nicht! Das wirft freilich die Frage auf, ob die angebliche Schmarotzerin wirklich pöbelte. Oder hat man einfach von dieser Frau verlangt, sie möge sich ein paarmal mit Stinkefinger ablichten lassen? Und wenn wir dann schon dabei sind, denn wer einmal lügt und so weiter: Womöglich ist die unverantwortliche Person, die 15 Untermieter bei sich wohnen ließ - die genaue Geschichte hat man nie so richtig begriffen -, überhaupt nicht diejenige, für die sie ausgegeben wird. Am Ende ist sie BILD-Mitarbeiterin. Immerhin: Sie hat ja mit der BILD gearbeitet, als diese von ihr verlangte, sich einigemale stinkefingerzeigend fotografieren zu lassen.
Spekulation - freilich, beweisen kann man letzteren Tatbestand nicht. Aber dass die Stinkefingerei keine spontane Pöbelaktion einer spontan mit Journalisten konfrontierten Person war, sondern eine gestellte und wohl geplante Situation, ein Fototermin also, wird an den beiden Bildern überdeutlich und bestätigt einmal mehr die dreiste Masche, mit der Springer gegen die Ärmsten dieser Gesellschaft aufgewiegelt hat.

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De dicto

Donnerstag, 18. September 2008

"Ohnehin stellt Lafontaine gerne Behauptungen auf, die nachweisbar falsch sind. Die Mär vom Moskau-Studium der „Jungkommunistin“ Angela Merkel gehört dazu. Fakten lässt er nicht gelten. Im Gegenteil: Er vertritt dann das Falsche umso energischer. Kein Wunder, wenn man von der eigenen Unfehlbarkeit überzeugt ist."
- BILD-Zeitung, Hugo Müller-Vogg am 17. September 2008 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Es gibt ein bezeichnendes Bild ab, wenn man hier nachlesen muß, wie die BILD und deren Schreibschergen, sich mit Lafontaine auseinandersetzen. So kramt Müller-Vogg, um den man sich immer noch sorgen muß, die mittlerweile vergessene Geschichte von Angela Merkels Jungkommunisten-Status hervor, um zu beweisen, mit welch dreisten Verlogenheiten die LINKE kämpft. Dass Lafontaine seinerzeit behauptet hat, dass Merkel in Moskau studieren durfte, nicht aber, ob sie es wirklich getan hat, hat der Haus- und Hofschreiber des Konservatismus noch immer nicht begriffen. Und ausgerechnet dieses fadenscheinige Zitat soll bei Müller-Vogg herhalten, um Lafontaines Lügerei bloßzustellen. Dies sagt einiges, nein alles, über die Vorgehensweise der Massenmedien aus und legt dar, wie voll die Hosen der Müller-Voggs und Tichys wirklich zu sein scheinen.

Überhaupt darf nun jeder, der im Axel-Springer-Haus sitzt, oder für dieses Haus aus dem gemütlichen Wohnzimmer heraus schreibt, einmal auf Lafontaine einschlagen. Jedes Ressort, jeder noch so dämliche Journalist darf sein Können, welches sich vornehmlich in Nicht-Können ergießt, unter Beweis stellen; darf beweisen, dass aus ihm nie ein seriöser Journalist geworden wäre, schon alleine, weil jegliches Talent fehlt. Vielleicht ist gerade dies das Demokratieverständnis der BILD: Es darf jeder einmal, auch wenn man kaum das Zeug dazu hat, einen Journalisten abzugeben; auch wenn man gar nicht schreiben kann; auch wenn man politisch vorgeprägt und gekauft ist.

Nachdem Müller-Vogg dargelegt hat, dass ihm die Aussagen Lafontaines nicht gefallen haben, wonach dieser angeblich eine Milliardärsfamilie enteignet wissen möchte, hätte er nicht mehr erklären müssen, dass er meist FDP wählt - das eine schließt das andere sicherlich mit ein. Dass Lafontaine übrigens nicht von Enteignung sprach, sondern von einer Anteilseignerschaft der Arbeitnehmer, hat der Mann, der vom verlogenen LINKEN-Papst spricht, einfach vergessen - man könnte auch sagen: er hat selbst gelogen. Lüge zur Entlarvung der Lüge - sehr konsequent! Enteignung kam in Lafontaines Ausspruch nur einmal zur Sprache, und dann auch nur, nachdem der danebensitzende Journalist dieses Wort aufgriff. Und dann sprach Lafontaine auch lediglich von der Aufhebung der Enteignung, die jene Milliardärsfamilie an Tausenden Arbeitnehmern seit Jahrzehnten vorgenommen hat - exemplarisch für viele solcher Milliardäre, versteht sich. Das klingt freilich anders, und aus der Sicht der konservativen Ewiggestrigen, klingt dies noch viel schlimmer als eben jenes, was sie ihm derzeit unterstellen. Denn wer die Grundlagen dieser Gesellschaft so in Frage stellt, wer das Ausbeutungsverhältnis als Irrtum der Geschichte und Gegenwart darstellt, der entzieht diesen Gestalten, die nun mit voller Hose Amok laufen, die Grundlage ihrer jetzigen, fadenscheinigen, menschenverachtenden, egoistischen Existenz.

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Bildung und Business

Mittwoch, 17. September 2008

Nicht ohne väterliche Traurigkeit entließ ich gestern meine Tochter in jenen Lebensabschnitt, den man als den Beginn des "Ernst des Lebens" bezeichnet. Eine auf ratio begründete Umschreibung für einen Zustand, der weniger Ernsthaftigkeit als Irrsinn widerspiegelt. Sie wird auf den Weg gebracht, der sie auf den allzu ernsthaften Wahnsinn des Alltags zuführt, der sie einsteigen läßt in eine immer erwachsener werdende, daher rational-lieblose Welt, in der nicht mehr Phantasie und Verspieltheit gefragt sind, sondern ernster Blick und - irgendwann einmal - exaktes Funktionieren. Um mich herum die Zuversicht, geschrieben in elterliche Gesichter; ich nach Außen als lächelnder Vater, seiner Tochter die Freude gebend, die ihr an einem solchen Tage zuzustehen scheint; in mir Tristesse und die Gewißheit, meiner Tochter beste Lebenszeit, Zeit der Sorglosigkeit und der ungehemmten Lebensfreude, unwiederbringlich beendet zu wissen.

Im Sinne der Zuversicht und Freude am langsam einkehrendem Irrsinn im Leben der Kinder, wurde eine Einschulungsfeier gestaltet. Hervorgehoben wurde dabei - freilich kindgerecht gestaltet - die Freude am Wettbewerb der Lernenden, die ewig gleich klingende Formel vom "Aus-dir-soll-mal-was-werden" - als ob diese Kinder nicht schon sind! Ein Kinderchor sang, Klassenlehrerinnen wurden vorgestellt und später, nachdem die Veranstaltung beendet war, beschritten wir die Stätte, in der unsere Kinder zu nützlichen Gliedern dieser Gesellschaft gemacht werden sollen. Unterbrochen aber, und von dem soll hier eigentlich berichtet werden, wurde die Veranstaltung, nach nur einem Kinderlied; unterbrochen, um einem Unternehmen zu Wort zu verhelfen - einem Unternehmen, welches zunächst freilich nicht als solches erkannt wird, weil man nicht an Bilanzen und zu konsumierende Güter denkt, sondern an Tore und Punkte. Der FC Ingolstadt, seit diesem Jahr Zweitligist im deutschen Fußball, schickte ihren Mediengockel, der auch schwungvoll ins Mikrofon krähte, irgendwas "von der Jugend die Sport liebt" und der "Zukunft, die sich an den Kindern erkennen ließe" monoton und in Stakkato herausposaunte, und voller gütiger Großzügigkeit lieblos bedruckte Stundenpläne an die Kinder weiterreichte - natürlich mit Vereinslogo!

Was hat ein Unternehmen an einem Tag wie diesem, einen Tag, der für die Mehrzahl der Eltern ein Festtag zu sein scheint, zu suchen? Muß sich ein Unternehmen in solch wichtigtuerischer Manier, sich hineindrängend in den Bildungsapparat, dabei eine oberflächliche Rede haltend, bei der der Redner nicht einmal die Kinder anblickte, ins Gedächtnis der Menschen zurückrufen? Soviel ist sicher: Die verteilten Stundenpläne waren nur Mittel zum Zweck, sollten nur dazu dienen, sich ins Gerede zu bringen, einen wohligen Duft von sozialer Verantwortung entstehen lassen. Schon am gestrigen Tage also, als meine Tochter noch nicht einmal ihren Platz in der Schulbank eingenommen hatte, zeigte sich jene Verquickung von Bildung und Business, die eben diese Welt als eine wahnsinnige, irre gewordene, unerträgliche auszeichnet; schon jetzt ist meine Tochter, aus der Obhut des Elternhauses entlassen, zu einer Konsumentin, zumindest aber zu einer angehenden Konsumentin geworden, die schrittweise einen liebevollen Kontakt zum hiesigen Zweitligisten aufbauen soll.

Und wie geht es weiter? Auf den Kappen, die man üblicherweise von der Lehrerin geschenkt bekommt, ziert ein Dekra-Schriftzug die Stirn; später wird man Versicherungsgestalten einladen, die unsere Kinder über Privatrente und das vermeintlich moribunde Rentensystem der Umlagefinanzierung aufklären sollen, immer mit Fingerzeig auf die außerordentlich rentablen Produkte des eigenen Unternehmens; oder Großbäckereien klären über den Beruf des Bäckers auf und rücken sich mit Slogans und Merksprüchen in Szene. Erleben wir wohl noch, dass Bertelsmann Schulbücher ausgibt? Den Stundenplan maßgeblich gestaltet? Und - wie schon vor Jahren geplant - eine Art neoliberaler Wirtschaftskunde einführt?

Wenn die Schulpflicht, in vielen Punkten vernünftig, zu einem Schulzwang wird, weil man als Elternteil machtlos zusehen muß, wie sein Kind verzogen wird, dann fragt man sich nach der Berechtigung dieser Zwangslage; nach der Unmöglichkeit, sein Kind nicht selbst bilden zu dürfen. Man muß ertragen, dass das eigene Kind nur Bildung erfährt, um ausgebildet zu sein. Anders: ein humanistisches Bildungsideal ist unbekannt, wichtig scheint alleine nur, den Kindern ein rudimentäres Wissen angedeihen zu lassen, welches im späteren Berufsleben abrufbar sein soll. Alles war darüber hinausgeht, alles was ein Mehrwissen darstellt, in der Arbeitswelt, beruflich nicht verwertbar ist, ist zwar nett und interessant, aber nicht von Bedeutung und daher irrelevant. Gleichzeitig drängen Unternehmen ins Bildungswesen, verteilen Gratisartikel und geben Ratschläge, mischen sich ins Gewühl von Lehrern, Eltern und Schülern, um sich als große Heilsbringer, als solche, die es gut mit den Kindern meinen, zu stilisieren. Von Kindesbeinen an sollen die Kleinen wissen, dass sie hier ihr späteres Leben gestalten; von Kindesbeinen an werden sie in einen Wettbewerb geworfen, der über Wohl und Wehe zu entscheiden hat; von Kindesbeinen an werden sie mit Druck zu kämpfen haben, Stress als einen alltäglichen Begleiter kennenlernen, von infantilen Auswüchsen der Existenzangst geplagt sein. Spielerisches Lernen? Spaß am Lernen? Kindsein überhaupt? - Trotz aller Beteuerungen seitens der Lehrkräfte: Die Realität erlaubt keine Spielerei mehr, denn der "Ernst des Lebens" hat seit gestern ein Paar Kinder mehr ergriffen.

Freilich, als der FC Ingolstadt sich generös zeigte, als der Abgeordnete dieses Fußballvereins davon sprach, dass Sport und Bildung eine Einheit darstellen - der Herr glaubte, damit eine neue Erkenntnis geliefert zu haben, hat wahrscheinlich noch nichts von griechischen Bildungsstätten der Antike vernommen -, da ließ man ihm Zustimmung zukommen. Und nett wäre es vom FC Ingolstadt allemal, so wurde aus der rumorenden Menge vernommen, sich so großzügig zu zeigen, soviel Interesse an den Tag zu legen. Natürlich paßt diese oberflächliche Bewertung einer oberflächlichen Rede zu der gerne praktizierten Oberflächlichkeit der Masse, in der die Gabe der Kritik keine Heimstätte hat. Trotz der vernommenen Freude, die sich gestern um mich herum zeigte, trotz der Zustimmung zum "Engagement" des Zweitligisten: Wie sollte ich wirkliche, innere, aufrichtige Freude an dem Eintritt meiner Tochter in diese neue Lebensphase haben?

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Anamnese eines Patienten

Sonntag, 14. September 2008

Der deutsche Journalismus fühlt sich nicht nur unwohl, leidet nicht nur dann und wann unter Bauch- und Magenschmerzen (verursacht sowieso vielmehr selbige beim Leser, Zuhörer und -seher), sondern scheint endgültig ernsthaft erkrankt, vielleicht sogar - auch wenn man noch an ein Wunder glauben möchte - in den letzten Todeszuckungen darniederzuliegen. Zumindest muß man das annehmen, wenn man die wöchentlichen Therapiestunden verfolgt, die in erster Reihe, öffentlich-rechtlich bei der ARD, ausgestrahlt werden. Sonntäglich sitzt man beisammen, schmeißt mit seinem journalistischem Wissen - und solchem, was man für Wissen halten könnte - um sich, erklärt dem Zuschauer die politische Welt und mimt ein wenig demokratisch-pluralistischen Meinungsaustausch, der freilich gar nicht so pluralistisch ist, vielmehr nur einen solchen Anstrich haben soll.

Denn bewegt wird sich vornehmlich in einem Gebäude aus Axiomen und vorgebastelten Plattitüden. Unumstößlich scheinen Botschaften, wie eben jene bekannte, immer wieder vorgebetete, dass wir in einer "demographischen Falle sitzen", daher - man will ja dem Zusehenden logische Schlußfolgerungen anbieten! - eine "private Rentenversicherung" die Rettung aus der Misere sei oder eben, damit wir auch dem aktuellen öffentlichen Diskurs gerecht werden, dass die "Agenda 2010 ein Erfolg" sei, der aber schnell Geschichte sein könnte, wenn man die "Anreize um Arbeit anzunehmen" nicht schnellstens erhöht, was dann soviel heißt wie "Senkung des Hartz IV-Regelsatzes" - Erhöhung durch Senkung! So gestaltet sich der allwöchentliche "Presseclub" als Bauchpinseln am Zeitgeist, kritiklos, nachplappernd und in der Hülle angeblich unabhängiger Berichterstattung.

Auch heute, zwar keine aufsehenerregende Sendung, aber dennoch beispielhaft, den "kranken Mann Journalismus" zu entlarven. Und genau das ist eben die ganze Tragik: Diese Krankheit vollzieht sich heimlich, ohne Aufsehen zu erregen, macht es einem fast unmöglich, das Leiden dieser Branche zu enttarnen, weil es so still vonstatten geht. Wenn es doch mit einem großen Knall vollzogen würde - man würde es erkennen. Aber in dieser Heimlichkeit?
Da saß also heute ein gewisser Roland Tichy, Chefredakteur der Wirtschaftswoche, mit einigen Kollegen zusammen und erzählte ungeniert davon, dass in Lafontaine der Mörder der Demokratie lauere, denn eine Demokratie töte man nicht mit Waffen, wohl aber mit Worten. Und da Lafontaine ein beispielloser Demagoge ist, der verspricht und ködert, der also mit Worten Wähler fängt - wie machen es eigentlich die Vertreter anderer Parteien? -, ist er der potenzielle Meuchelmörder dieser Demokratie. Der Journalismus, so muß man nach dieser Philippika festhalten, redet also schon im Fieberwahn, sieht schon Gespenster. Als dann etwas später eine Branchenkollegin das Wort ergriff, eine Frau Ulrike Herrmann von der TAZ, als diese darlegte, dass die Agenda 2010 einen gigantischen Niedriglohnsektor geschaffen habe, der auch Arbeitnehmer in Normalarbeitsverhältnissen zu sinkenden Löhnen verhalf, da ergriff das Fieber erneut Besitz über den Patienten. Da wurde Tichy regelrecht böse, glaubte in dieser Art von Schlechtmacherei die Wurzel allen Übels zu erkennen, welche diese Republik immer schlechter mache, als sie in Wirklichkeit sei. Immerhin 1,7 Millionen Arbeitsplätze habe die Politik mit ihrem Mut zu Reformen geschaffen; 1,7 Millionen Arbeitsplätze, von denen nur wenige im Niedriglohnsektor anzusiedeln sind und die dank der Agenda 2010 - ich meinte, dabei eine angedeutete Verneigung Richtung Schröder gesehen zu haben! - erst ermöglicht wurden.

Überhaupt Tichy: Dieser Mann hangelt sich von Sendung zu Sendung, ist bei ARD und ZDF ebenso häufig zu sehen, wie im Bayerischen Fernsehen - womöglich auch in den Dritten Programmen anderer Landesrundfunkanstalten. Da sitzt er meist wortstark, hat den Löffel mit dem er seine Weisheit gefressen hat, sinnbildlich vor sich liegen und palavert die üblichen Floskeln vor sich her. Freilich immer mit dem Finger in jener Wunde, die ja diese Floskeln erst entstehen lassen: die Knappheit der staatlichen Mittel. Und genau deswegen, so führt er im aktuellen "Presseclub" aus, könne man Arbeitslose nicht auf Dauer alimentieren, müsse also Anreize schaffen und dergleichen Wiederholungen mehr. Mutig formuliert von einem Mann, der sich mittels Auftritte in öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten schadlos hält. Oder tritt er idealistischerweise ohne Aufwandsentschädigungen auf? Aber um denen, die sowieso nichts haben, Wasser zu predigen, muß Tichy freilich den Wein in Anspruch nehmen, den man ihm eingießt. Anders: Seine Weintrinkerei ist ein Akt des Mitgefühls und der Mitmenschlichkeit, denn er tritt nur öffentlich auf, um den Menschen etwas vom "Gürtel-enger-schnallen" zu predigen, damit es ihnen irgendwann einmal besser geht. Er tritt ja nicht für sich auf, sondern für die Gesellschaft, will sie um Wissen bereichern.

Thema dieser aktuellen Ausgabe des "Presseclubs" war, um es nicht unter den Tisch fallen zu lassen, der Kampf der SPD mit sich selbst. Wenig verwunderlich: Lafontaine sei demnach jenes Übel, das der SPD soviel Leid zufügt. Bloß nicht die Agenda 2010! - Wo denken wir hin? Diese sei ja das einzig Erwähnenswerte der letzten Jahre gewesen. Und gäbe es eben die LINKE nicht, da würde die SPD ihrer Rolle wieder gerecht, wahrscheinlich auch, weil die Wähler der LINKEN einfach nicht zur Wahlurne gingen und dann die SPD mit Hilfe einer 55 Prozent-Wahlbeteiligung vielleicht doch noch 30 Prozent aller abgegebenen Stimmen erreichen würde. Dass Lafontaine und die LINKE aber eine Reaktion auf die inhaltslose Sozialdemokratie der letzten Jahre sind, darauf kommen die Tichys dieses Landes natürlich nicht - dürfen und wollen sie gar nicht kommen. Denn das würde ja bedeuten, dass die Agenda 2010 als Mißerfolg in Szene gerückt werden müßte - aber gerade das ist sie ja nicht gewesen. Daher heißt es Ursache und Wirkung vertauschen und eine neue Realität erschaffen.

Fieberschübe und Schüttelfrost begleitet das Krankheitsbild des deutschen Journalismus, da hilft auch keine allwöchentliche Gruppentherapie bei der ARD mehr, eher scheint es sogar so, als würde diese Maßnahme einem möglichen Heilungsprozess im Wege stehen. Aber wer glaubt denn ernsthaft noch daran, dass diesem Patienten wirklich zu helfen ist? Zu sehr haben ihn gesundheitsgefährdende Parasiten ergriffen - solche die mit ihren Kapitalinteressen den journalistischen Organismus beeinträchtigen, nicht auskurieren lassen und ihn unheilbar infiziert haben. Uns wird wohl nichts weiter übrigbleiben, als den hiesigen Journalismus machtlos bis zu seinem Ableben zu begleiten. Dennoch sollte man immer noch hoffen, ein Wunder nicht vollständig aus seinem Denken verbannen...

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Ridendo dicere verum

"Ich möchte Sie heute mal ermuntern, viel öfter ins politische Kabarett zu gehen. Im politischen Kabarett sind Sie ja stets von lauter engagierten Gesellschaftskritikern umgeben. Einige sind auch leise engagiert, manche auch geradezu engagiert leise, aber im Engagement sind alle, denn wer heutzutage nirgendwo im Engagement ist, der kann sich ja die Gesellschaftskritik einer Kabaretteintrittskarte kaum noch leisten. Zumindest nicht in den Tempeln der Kleinkunst, da wo das literarische Kabarett zelebriert wird – wo man die knallharte Gesellschaftskritik in weiche Polstersessel aufhängt und wo man das im Halse steckengebliebene Lachen in der Pause mit Champagner runterspült. An solchen Orten, da läßt man sich die Kritik am eigenen Lebenswandel genauso folgenlos um die Ohren schlagen, wie in der Kirche.
[...]
Kabarett ist eine Art moderner Ablasshandel. Das schlechte linke Gewissen aus dem Feuer springt, wenn das Geld in der Kleinkunstkasse klingt! Und deshalb sollten Sie Kabaretteintrittskarten immer gut aufheben. Wenn dann irgendwann einmal, nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus, wenn dann jemand zu Ihnen kommt und fragt: „Na, was hatten Sie denn für eine Funktion in diesem System?“ Dann sagen Sie: „Halt! Moment!“ Holen den großen Karton mit den Kabaretteintrittskarten raus und sagen: "Hier! Ich war dagegen! Hier ist der Beweis, ich war im Widerstand. Ich habe laut und öffentlich gelacht, wenn meine Regierung verspottet wurde, ich habe geklatscht, ich habe anhaltend geklatscht, wenn das System kritisiert wurde, und wenn seine Unmenschlichkeit in lustigen Sketchen entlarvt wurde. Was wollen Sie von mir? Ich war keine Blockflöte, war eine Querflöte! Ich habe meinen Müll sortiert und Franz Alt gelesen. Ich habe mich freiwillig an Tempo 100 gehalten, zumindest in geschlossenen Ortschaften. Ich habe für vom Aussterben bedrohte Arten gespendet: für Kurden, Robben, Grüne, Linke, Intellektuelle. Ich war doch dagegen! Ich war für "Schwerter zu Pflugscharen", für "Politiker zu Menschen". Ich bin doch auch nur ein Mensch!" Und wie steht es über den Menschen geschrieben? - Wer zu spät geht, den bestraft seine Natur."

- Volker Pispers -

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Drei Großväter

Samstag, 13. September 2008

Es waren einmal drei Großväter. Der erste lebte Verzicht und Selbstaufgabe zugunsten seiner Enkelkinder; der zweite Großvater gab sich Mahnungen und verwirrender Zahlenmystik hin, während der dritte als Hoffnungsträger und Erneuerergestalt auftrat. Nun hatten alle drei einen braven, folgsamen Enkelsohn, der ihnen jeden Wunsch von den Augen ablas. Und da dieser vorbildliche junge Mann - rein zufällig - Journalist und Chefredakteur einer großen Tageszeitung war, bot er den Mitgliedern dieses fidelen Seniorenbundes an, sie in seinem Blatt zu erwähnen. Es war nicht nur das gute Herz eines Enkels, welches ihn zu dieser generösen Handlung trieb, sondern vielmehr die erschlagende, befreiende, aufklärerische Weisheit seiner vitalen Vorväter, die er jedem Leser nähergebracht wissen wollte.

So erteilte er dem ersten Großvater das Wort, ließ ihm davon berichten, wie dieser seine nicht gerade üppige, doch für ihn zufriedenstellende Rente beschnitt, um der Staatsverschuldung ein wenig Einhalt zu gebieten. Dem liebevollen Enkelsohn standen Tränen in den Augen, als der Weise völkisch-pathetisch erklärte, dass er dem jungen Volke nicht auf der Tasche liegen möchte und dass er dies eigentlich auch von allen älteren Menschen des Landes erwarte. Das wehleidige Klagen und Jammern, so hieß es aus diesem klugen Munde der Lebenserfahrung, könne einfach nicht mehr ertragen werden. Der Enkel griff diese Weisheiten auf, machte daraus ein kleines Heldenstück des Alltags und war sich sicher, damit das Herz seiner Leserschaft erobern zu können.

Danach widmete sich das herzensgute Kindeskind dem zweiten Großvater, der mit agiler Lebensfreude, eingehüllt im Dunste belebenden Kettenrauches, mit Zahlen um sich warf, welche ihn zu Schlußfolgerungen trieben, die - so sagt der Greis selbst - unpopulär seien. Mit staatsmännischem Stoizismus schwelgt er in Sphären uneinholbarer Weisheit, wenn er erklärt, dass flächendeckende Lohntarife die Entwicklung hemmen oder der Arbeitsmarkt immer noch zu eingeengt sei. Nach einer rituell anmutenden Inhalation an der Zigarette fährt er fort: Der Kündigungsschutz ist zu starr, das Arbeitslosengeld zu hoch und der Anreiz zur Annahme von Arbeit zu gering! Und als er dann auch noch verkündet, dass man mit Sozialhilfe und etwas Schwarzarbeit immer noch ausreichend gut leben könne, da erhob sich der brave Enkelsohn, verbeugte sich respektvoll, mußte danach gar vom Großvater ermahnt werden, sich von den Knien zu erheben. Der junge, strebsame und nun doch sehr ergriffene Mann wollte diese Weisheit aus allzulanger Lebenserfahrung belohnt wissen und ersann sich eine Trophäe, die jenem zweiten Großvater übergeben werden sollte. Zwar war ihm natürlich aufgefallen, dass die Zahlenmystik des Greises, gerade als er von Erwerbsquoten und dergleichen sprach, etwas hinkte und die Amtszeit eines ihm sehr ähnlich sehenden Senioren beschönigte, in der die Erwerbsquote deutlicher "unter 50 Prozent der Gesamtbevölkerung" lag, doch dies tat dem Elan des Enkels keinen Abbruch, seinem Großväterchen zur Schlagzeile zu verhelfen.

Es bedurfte einiger Selbstdisziplin, um sich des staatsmännischen Alten zu entziehen, sich des dritten Großvaters, der Heilandfigur, zuzuwenden. Doch auch seinem dritten Großvater brachte er jene Liebe entgegen, die zuweilen ein junger Mensch einem älteren Weisen entgegenzubringen vermag. Und da der dritte Großvater am wenigsten Substanz hatte, um eine Leserschaft zu interessieren, ermöglichte es der von allen geliebte und respektierte Enkelsohn diesem älteren Herrn, in mehreren Artikeln seines Blattes Eingang zu finden. Auch wenn das letzte Mitglied dieses Seniorenbundes kein Weiser war, nicht mit Selbstaufgabe und großväterlicher Ratgebung brillieren konnte, so wurde er doch von ganzen Herzen von seinem Enkelchen geliebt und gemäß seiner Notwendigkeit eben nicht mit einem durchschlagenden Artikel belohnt, sondern mit vielen kleinen Artikeln, die freilich nur kleine Löcher schlugen, welche aber letztendlich irgendwann einen Durchschlag erzielten. So ließ er den geschätzten Großvater zum Erlöser einer moribunden Partei ernennen; zu einem Messias, der einst die Seinen verließ, um nun zu ihnen zurückzukehren; einer Gestalt, die geradewegs von seiner himmlischen Wolke gefallen scheint. Und er wiederholte es täglich, an jeder Stelle, ließ seine Mitarbeiter diese Einsichten ebenso herunterbeten und wußte damit seinem Opa ein Stück Lebensfreude gesichert.

Es waren also einmal drei Großväter, die ihren liebevollen Enkel liebten und sich geliebt wußten. Und jener war so beeindruckt von der Weisheit der Alten, dass er sie hofierte, dass er seinen Großvätern auf ihre alten Tage hin, noch einmal eine Freude bereiten wollte. Nebenbei freut er sich selbst ebenso, denn die drei Senioren bescheren ihm ein sattes Säckel und die Gewißheit, dass es sein Blatt ist, worüber man redet in diesem Lande. Dies macht die Binsenweisheit aus dem Volksmund zur Wahrheit, wonach nur der Glück und Segen erfährt, der sich um seine Alten kümmert und sie nicht verstößt. Dies sei die Moral dieser Geschichte.

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