Nie wieder!

Samstag, 30. Januar 2010

Mit Nie wieder! Nie wieder! haben sie den kürzlich begangenen Holocaustgedenktag erfüllt, Betroffenheitsmiene und Bestürzungsgesicht inbegriffen, beteuert und versichert, dass das, was einst geschah, nie wieder, nie wieder geschehen dürfe. Es war wie in den Jahren zuvor, wie eigentlich immer schon, ein höchst ritualisiertes Gedenken, zwischen bundestäglicher Rührung und eigens für den Anlass herausgekramten Mitfühlens, eingepackt in einstudierte Ansprachen, die keinen Gemeinplatz ausließen, die vor Binsenweisheit strotzten, sich so anhörten, wie schon unzählige Ansprachen zuvor, so klangen, als habe man archivierte Reden abgestaubt und auf ein Neues vorgetragen.

Ansprachen voller Nie wieder! Vorträge betrunken von Nie wieder! Festreden übersatt an Nie wieder! Wenn es doch nur ein gelebtes, beseeltes Nie wieder! wäre! Ein aufrichtiges, ein ehrliches, ein verwurzeltes Lebensgefühl dieser politischen Marktschreier-Gilde, die da in den Sitzbänken lümmelte, den Rednern gebannt lauschend, dabei lobend und affirmativ nickend und lebhaft applaudierend. Wenn dem ritualisierten Gedenken nur eine Philosophie zugrunde läge! Eine Lebensphilosophie! Doch wo ein hohes Gut, beispielsweise jenes Nie wieder!, in Fleisch und Blut überging, da ist kein Gedenktag mehr notwendig. So benötigt man keinen festgelegten Tag, an dem man eine Liturgie auf das Atmen begeht, mit allerlei Bräuchen, Riten und Atemübungen. Zu atmen ist dem Menschen in Fleisch und Blut gegeben, er tut es unbedacht - dem Unbedachten muß nicht gedacht werden. Aber Nie wieder! Nie wieder!: es ist nötiger denn je!

Da glänzen feiste Antlitze und aufgedonnerte Festtagsgesichter aus den Reihen, aufgelöst in Andacht und Betroffenheit - jedenfalls allem Anschein nach -, klatschen, bestätigen und schwören der Barbarei von einst ab, drehen sich dann, nach getaner Lauscharbeit, zu den Kameras und Objektiven der Alltagspolitik, um in ihrem ordinären Trott zu schwelgen. Nach abgeschlossener Betroffenheitsarbeit folgt das Tagwerk. Noch ein kurzes, stärkendes Nie wieder! sich selbst geflüstert, um sich des hochherzigen Anspruches, dessen man sich selbst verschrieben hat, nochmals zu versichern, ihn sich von neuem einzubläuen - und dann in die Hände gespuckt, schließlich ist Werktag und man hat sich am Tagesgeschäft abzuschuften. Zu schuften an den Heeren von Sozialschmarotzern, die man in Interviews und Stellungnahmen verurteilt, verunglimpft und strenger bestraft sehen will; zu schuften an Legionen von Ausländern, Moslems bevorzugt, die der deutschen Leitkultur nicht unter Selbstaufgabe ihrer terroristischen Herkunft nachgehen wollen; zu schuften an fortschrittlichen Ideen wie Ausweisung bei Zuwiderhandlung und Zwangsarbeit bei Arbeitslosigkeit.

Bei so einer Plackerei kann man das Nie wieder! schon mal aus den Augen verlieren. Und weil dem so ist, weil man nur zu gerne vergisst und verbummelt, sind Gedenktage unentbehrlich. Man erinnere jene hohen Herrschaften aus Politik, Presse und Fernsehen, aus den Vorzimmern der staatlichen Allmacht, allerdings nur an jenem Gedenktag an dieses Nie wieder! Während des Jahres erntet man Giftpfeile, wenn man die Hetzpropaganda jener braunen Tage mit derjenigen vergleicht, die heute in gebräunten Runen von weißem Papier stieren. Soetwas könne heute gar nicht mehr vorkommen, beschwichtigt man, der Pogrom sei ausgeschlossen, Volksverhetzung verboten, das Nie wieder! habe man ja auch rituell geschworen. Nur nicht übertreiben! Nicht Äpfel mit Birnen vergleichen! Bloß nicht dramatisieren!

An jenem Gedenktag, diesem geheucheltem Gesellschaftsritual, gilt das Nie wieder! den Morden, den Gruben voller Leichen, der Vergasung, den Kopfschüssen, der Marter durch Arbeit. Nie wieder! Nie wieder! Aber was davor geschah, die Schmähung, die Beleidigung, der Rufmord an einer ganzen Gesellschaftsgruppe, die Verleumdung, die Treiberei, das Gehetze, Berichte voller ehrabschneidender Unwahrheit, Betonung der Fremd- und Andersartigkeit, der Faulheit und Verschlagenheit, all dies und noch mehr, dieses Vorspiel der Vernichtungslager, diese enorme Komposition des deutschen Kampagnenjournalismus' jener Tage - all dies beinhaltet Nie wieder! nicht. Es ist, als wollte man in solchen Gedenkzeremonien verdeutlichen, man könne die letzte, die mörderische Konsequenz unschädlich machen. Aber alles andere, das erzeugte Klima aus Angst und Hass, aus Aufwiegelung und Lynchakten, alles was vor dem Mord und dem Arbeitslager kam, könne man behalten. Nie wieder! für Mord, Immer wieder gerne! für den Weg dorthin, für das Geplänkel davor.

Nie wieder! Auschwitz wiederholt sich nicht. Massengräber wird es möglicherweise nicht mehr geben, Gaskammern schon gar nicht. Auch wenn der Mensch aus seiner Geschichte kaum lernt, nicht imstande ist, positive Schlüsse aus ihr zu ziehen, so lernt er aus ihr doch, wie er seine Bosheit derart kostümieren kann, dass sie weniger boshaft aus der Wäsche schaut. Nach Auschwitz führt das erzeugte Klima dieser Tage fürwahr nicht. Es reicht, wenn das vergiftete Klima dazu beiträgt, ungeliebte Personen sozial kaltzustellen, sie in städtische Randbezirke, banlieues und Ghettos zu pferchen, ihnen Chancengleichheit für Bildung und Beruf zu rauben, sie kulturell und infrastrukturell auszugrenzen. Man mordet veredelt, man tötet nicht physisch, man beseitigt psychisch - körperliche Spätfolgen ohne Gewähr.

Nie wieder! Nie wieder!, beten sie alljährlich ihren Kanon herunter. Man wünschte sich, sie würden nie wieder Nie wieder! rufen - rufen müssen! Nie wieder Gedenktage, die an Nie wieder! erinnern müssen! Solange man erinnern muß, ist die Grundlage des Nie wieder!, nämlich der Mensch als Peiniger und Schlächter des Menschen, nicht in weite Ferne gerückt - es steht unmittelbar ante portas...

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Sit venia verbo

"Toleranz gegenüber dem radikal Bösen erscheint jetzt gut, weil sie dem Zusammenhalt des Ganzen dient auf dem Wege zum Überfluß oder zu größerem Überfluß. Die Nachsicht gegenüber der systematischen Verdummung von Kindern wie von Erwachsenen durch Reklame und Propaganda, die Freisetzung von unmenschlicher zerstörender Gewalt in Vietnam, das Rekrutieren und die Ausbildung von Sonderverbänden, die ohnmächtige und wohlwollende Toleranz gegenüber unverblümten Betrug beim Warenkauf, gegenüber Verschwendung und geplantem Veralten von Gütern sind keine Verzerrungen und Abweichungen, sondern das Wesen eines Systems, das Toleranz befördert als ein Mittel, den Kampf ums Dasein zu verewigen und die Alternativen zu unterdrücken. Im Namen von Erziehung, Moral und Psychologie entrüstet man sich laut über die Zunahme der Jugendkriminalität, weniger laut über die Kriminalität immer mächtigerer Geschosse, Raketen und Bomben – das reifgewordene Verbrechen einer ganzen Zivilisation."
- Herbert Marcuse, "Repressive Toleranz" -

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Weigerung, allzu heimisch zu werden

Donnerstag, 28. Januar 2010

Ich? Ich und weltfremd? Na hören Sie mal! Das ist ja bodenlos - eine bodenlose Frechheit! Woher nehmen Sie nur diese dreiste Kaltschnäuzigkeit? Weltfremd, hm? So eine Frechheit! Eine Frechheit, mir so ungehemmt die Wahrheit an den Schädel zu schleudern!

Jaja, ich bin weltfremd. Ihr haltloses Mundwerk hat den Kopf mit dem Nagel getroffen, die Wahrheit quasi ans Haupt gespießt. Ich bin dieser Welt entfremdet, bin ein Fremder in einer Welt, in der ich gar nicht allzu heimisch sein möchte. Als Mensch mit ethischen Grundsätzen muß man sich weigern, hienieden heimisch zu werden. Man richtet sich zwar ein, schafft sich etwas Quasiheimisches, etwas Heimeliges für den Privatgebrauch sozusagen, aber zuhause ist man als in die Welt Geworfener nie so recht.

Sie haben ja so recht! Ich bin weltfremd! Das heißt aber nicht, dass ich wie ein Fremder wegblicke, unerfreuliche Dinge übersehe; Dinge, die mir so fremd sind, wie ich ihnen. Mir fremd, weil ich sie nicht dulde, nicht als Selbstverständlichkeit hinnehmen kann. Ich kann nicht erlernen, das kalkulierte Jammertal zu verkraften, dieses Gebräu aus gewollter Armut und praktizierter Kalamität als Normalität zu akzeptieren. Das Leid in dieser Welt, jedenfalls das materielle Leid, wäre in beinahe allen Fällen zu beheben - wenn diese Welt es nur möchte. Hunger, Obdachlosigkeit, Ausbeutung, Unterdrückung und dieserlei - das sind doch keine Naturgesetze, man könnte sie bändigen. Diese materiell so gesunde Welt wäre imstande, das Leid weitestgehend abzuschaffen, den Kampf ums Dasein zu beenden.

Sie will es nur nicht! Und wo eine Welt nicht das will, was ich mir als Mensch an Idealen und Werten bewahrt habe, so bin ich ihr fremd. Wir reden hier immerhin von einer Welt, die mir als Kind schmackhaft gemacht wurde, die ich aber in dieser schmackhaften Variante bis heute nicht erleben durfte. Dazumal hat man mir erzählt, Ehrlichkeit und Freundlichkeit würden sich auszahlen, mit Ehrlichkeit und Freundlichkeit vergolten. Außerdem, so warb man weiter für diese Welt, würde die Gerechtigkeit stets trotzig ihren Weg gehen - ehrlich währt am längsten und so! Davon habe ich bis heute, nach etwas mehr als drei Dekaden Lebens, wenig gespürt. Die angepriesene Welt war nichts anderes als ein Propagandatrick der Erwachsenenwelt an ihren Kindern. In dieser Welt aus eitlen Werbeparolen, ja, da wäre ich vielleicht zuhause gewesen - aber in diesem müden Abklatsch einer Welt, die sich für mich nicht erfüllt hat, die sich nicht erfüllen konnte, weil es sie so nie gab, da bin und bleibe ich weltfremd. Mit Leidenschaft!

Richtig gehört, ich will weltfremd bleiben! Das ist das eigentliche Ziel des Auf- und Abgeklärten. Wieviele haben sich schrittweise eingenistet, sich in die Welt wie sie ist und nicht wie sie sein sollte, integriert? Wieviele haben ihre jugendliche Fremdheit abgelegt und der Welt das Du angeboten? Ich gebe ja zu, dass es mir leidtut, dass ich mir eine Welt vorstellen kann, in der es menschlicher zugeht, eine Welt, in der jeder sein kleines Werk tut, um einen besseren Ort entstehen zu lassen. Ja, es tut mir leid, aufrichtig leid, dass ich der Ansicht bin, es sei eines jeden Menschen Pflicht, an der Verbesserung dieses ausgemergelten Globus' mitzuarbeiten. Und das heißt nicht, irgendwo eine Stellung anzunehmen, seinen gottgegebenen Dienst zu tun, ohne zu jammern und zu meckern, um hernach zu hoffen, das reiche aus, die Erde zu einem weniger beschissenen Ort zu machen - so ist die Welt eh schon, so soll sie nicht bleiben müssen. Es ist doch Ehrensache, dass im Falle, in dem eine Welt der Leidensabschaffung diametral entgegenwirkt, ich nicht dazugehören, im Gegenteil, fremd bleiben will. Junge Menschen spüren das zuweilen noch, das liegt ihnen im Blut. Sie erkennen die Differenzen zwischen Propaganda für eine heile Welt, die sie angeblich mit offenen Armen empfangen wird, und den Realitäten der wirklichen, der grausamen Version, die man dann tatsächlich antrifft.

Wie meinen Sie? Wer seine Weltfremdheit aus Jugendtagen nicht ablegt, der wird zum Spinner? Zum weltfremden Spinner? Was erlauben Sie sich denn? Wie kommen Sie nur dazu, mir so schonungslos die Wahrheit ins Gesicht zu werfen? Sie haben erneut in die Mitte getroffen! Ein Spinner! Der bin ich! Ich bin ein Spinner mit Leib und Seele! Ein in eine fremde Welt, unter Wehen und Gekreische, herausgepresster Spinner! Man spinnt sich eine Welt, wie sie sein könnte, wie sie sein sollte, wie sie sein müßte. Man spinnt sich einen neuen Stoff, weil der vorhandene Stoff zu kratzig und unbequem dünkt, weil man so ein borstiges Material einfach nicht zu einem Hemd verarbeiten möchte. Man ist sich doch selbst wertvoll genug, bessere Stoffe über den Körper zu werfen - was bleibt denn da anderes übrig, als selbst mit der Spinnerei zu beginnen?

Da sitzt man dann fremd in dieser Welt, spinnt sich einen Topos, der einem in Kinderjahren versprochen wurde und wird schief und fassungslos angestarrt. Spinner!, rufen sie. Als ob das eine Beleidigung wäre! Was ist denn daran schlimm, sich etwas zu spinnen? Solche, die mit dem Vorhandenen zufrieden, die satt und wohlig in dieser Welt heimisch sind, gibt es wie Sandkörner in der Wüste. Zuweilen erkennt man den Staub in Ecken und den verfilzten Teppichboden seines Heimes nicht - erst der Fremde, der zu Besuch kommt, macht darauf aufmerksam. Der Weltfremde, emsig vor sich her spinnend, weist auf den Dreck und den Unflat hin, er sieht, was derjenige, der im Alltagstrott steckt, in seiner Alltagsblindheit nicht mehr erkennt.

Oh ja, in dieser Welt bin ich fremd! Wie recht Sie doch haben! Schön, dass Sie mich entlarvt haben. Vieles hat man mir schon unterstellt. So nahe dran, war bislang noch keiner!

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Im Exil

Mittwoch, 27. Januar 2010

"Die völlige Ungewissheit, über das, was der nächste Tag, was die nächste Stunde bringt, beherrscht seit vielen Wochen meine Existenz. Ich bin verurteilt, jede Zeitung [...] wie eine an mich ergangene Zustellung zu lesen und aus jeder Radiosendung die Stimme des Unglücksboten herauszuhören."
- Walter Benjamin, in einen Brief an Theodor W. Adorno -
Was Benjamin einstens in anderem Zusammenhang an Adorno richtete, dürfte wohl die Befindlichkeit von Millionen von Menschen schildern, die heute in einer anderen doch ähnlichen Situation warten. Benjamin schrieb hier als Exilant, schrieb über sein Empfinden im Exil. Exilanten sind auch jene, die dieser Tage in Gazetten blättern, dem Radio lauschen, im Internet stöbern oder sich vom Fernsehen berieseln lassen. Exilanten des Inneren, Menschen, die sich allmählich in ein inneres Exil zurückziehen, weil sie den fanatischen Eifer, mit dem sich öffentlich gejagt oder verunglimpft werden, nicht mehr ertragen können.

An mich ergangene Zustellung nannte Benjamin das, was seinerzeit zur Exilantenpolitik geschrieben und berichtet wurde. Ähnlich scheint es heute, wenn in allen Tageszeitungen über die Faulheit der Erwerbslosen (vulgär Hartz IV-Empfänger genannt) gemosert, wenn der spärliche Regelsatz zur drallen Apanage verklärt wird; Radiofeatures in dieselbe Kerbe schlagen und dabei vermeintliche Experten fabulieren lassen; in Talkshows über den geförderten und alimentierten Müßiggang und den geschlussfolgerten Arbeitszwang diskutiert wird. Die Stimmen des Unglücksboten sind nicht nur vereinzelt herauszuhören, die gesamte Berichterstattung ist von solcherlei Stimmen durchsetzt.

Wer derzeit als Betroffener die Zeitungen aufschlägt, muß sich geradezu zum Empfänger solcher Botschaften genötigt fühlen. Eine völlige Ungewissheit beherrscht die Existenz, ungewiss blickt man in die nahe Zukunft, fragt sich, was der nächste Tag, die nächste Stunde bringt. Das Leben des Exilanten war unstet, nicht planbar, durchwoben mit Furcht vor dem Morgen, zudem bürokratisch gestört, immer auf der Hatz nach Visa und Genehmigungen. Es war ein Leben in Ausgrenzung, ohne Heimatgefühl, ein Leben des Überflusses, in dem man überflüssiger Esser, überflüssige Arbeitskraft, überflüssiger Mensch war. Ein Leben, in dem lächelnde Mitmenschen rar, Verständnis Bückware, Mitgefühl unbekannt war. Stattdessen Hiobsbotschaften, die aus den Zeitungen sickerten, die man persönlich nehmen mußte, weil sie über Leben und Tod, über Hunger und Sattheit, Integration und Exklusion des Exilanten entschieden.

Frühstücksei und Croissant, dazu ein intensiver Blick in die Morgenzeitung - für den gemeinen Exilanten war das undenkbar. Nicht nur, weil es an Geld mangelte und ein Frühstück nicht finanzierbar war. Für ihn war dieser erste täglich Blick kein Genuss, den man mit gutem Essen garnieren sollte - für ihn war dieser Blick existenziell. Gemütliches Blättern und schmatzendes Lesen kamen ihm dabei nicht in den Sinn. Nein, er schlief abends schlecht ein, ruhte nachts meist unruhig, immer ängstlich, was wohl morgen in den Zeitungen wieder über ihn, den Exilanten, zu lesen sein wird. Hoffentlich geht mir morgen keine Zustellung zu! Hoffentlich ein Paar Stunden, ein Paar Tage in bescheidener Ruhe! Hoffend, nicht weinen zu müssen; hoffend, nicht an einem cholerischen Anfall ersticken zu müssen; hoffend, keinen Ärger hinabschlucken zu müssen, der wieder einmal Herzstechen und Brustziehen bereiten würde; hoffend, das längst fällige Motiv für einen Selbstmord nicht herauszulesen.

Vielleicht sind jene Exilanten nicht vergleichbar mit denen, die heute ihr Exil nur innerlich bestreiten müssen. Was heißt eigentlich nur? Mag sein, dass das innere Exil viel schlimmer, viel ruheloser, viel tödlicher ist, als die Flucht in wirklichen Welten; vielleicht ist die Flucht der Füße erbaulicher, als die Flucht der Gedanken. Einerlei, denn die heutigen Opfer der öffentlichen Jagdsaison leiden ganz ähnlich, schwanken zwischen Furcht und Desillusion, ängstigen sich vor den journalistischen Pogromen, die an ihrer gesellschaftlichen Stellung verübt werden. kennen kein heimatliches Gefühl mehr. Zwischen Minderwertigkeitskomplex und Gewaltbereitschaft pflegen sie ihre Ausgrenzung. Heute volle Hosen aufgrund eines beleidigenden Artikels und neuer rabiater Kürzungs- und Zwangsforderungen in der Postille, morgen weil eine Einladung in den heiligen Tempel, in das Jobcenter ansteht. Immer Angst, immer Ungewissheit, immer Furcht vor neuen Attacken.

Vieles sagt man dem Arbeitslosengeld II nach. Dass es Exil ist, dass sämtliche Maßnahmen darauf abzielen, den Empfänger zum Exilanten zu machen, davon wird wenig gesprochen. Der Leistungsbezieher wird in einem steten Klima der Angst gehalten, lebt in einem furchteinflössendem Biotop, welches ihn erziehen und prägen soll. Ständig der Angst ausgesetzt, täglich gesagt zu bekommen, man koste zu viel, nütze wenig, sei generell minderwertig, wird man zu willfährigen Knechten oder Mägden erzogen, die bereit sind, für Butterbrote zu schuften. Die ebenso bereit sind, aus Angst vor Rückfall, beispielsweise vereitelte Lohnfortzahlung bei Krankheit nicht zur Anzeige beim Arbeitsgericht zu bringen. Aus jenem Exil gibt es keine Fluchtmöglichkeit - man gehört nicht mehr dazu, selbst dann nicht, wenn man schlechtbezahlte, aufzustockende Arbeit findet. Hartz IV manifestiert den Bodensatz, exiliert eine ganze Gesellschaftsschicht.

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... was Arbeit schafft!

Dienstag, 26. Januar 2010

Roland K. aus Frankfurt denkt innovativ. Er ist jener vielgepriesene Typus Staatsbürger, der mit kraftvoller Dynamik und selbstloser Rührigkeit, die Gesellschaft zu einem Hort günstigerer Lebensumstände wandelt. Er schwatzt nicht nur, er schöpft und gestaltet, legt Hand an, wo andere nur Zungen schnalzen lassen. Roland K. schafft Mut, er schafft Hilfe zur Selbsthilfe, schafft Beschäftigung. Indem er ausspricht, was andere sich auszusprechen nicht trauen, eröffnet er neue Märkte, stößt er in frische Beschäftigungsfelder vor, expandiert er an neue Gestade.

Roland K. ist ein Macher, kein Klatschweib - er gehört zu gebrauchten Sorte, ist Mann von Format, Visionär und Antreiber. Wo er spricht, erheben sich die Faulpelze von ihren opulent verzierten, mit elegantem Brokat überzogenen Chaiselonguen, wie weiland Gelähmte von Jesu auferlegter Hand. Sie richten sich auf, recken ihrem Heiland die sonst so phlegmatischen Hände entgegen, ziehen sich hie und da die hinabrutschenden Jeanshosen aus elegantem Hause über die mit Kaviar wohlgenährten Ranzen und danken für die erlösenden Worte des Propheten. Roland K. mobilisiert, treibt an, macht Blinde sehend, Lahme gehend, Stumme sprechend.

Er legt die ungewaschenen Finger in die Wunden, treibt mit der Peitsche an, inspiriert zu neuen Erwerbsanreizen. Roland K. treibt den gemeinen Faulenzer zur Arbeit, zum Studieren explosiver Fachliteratur, zum ästhetischen Spiel mit der Bombenphysiognomie, zum Schabernack durch Drohschriftstücke. Er trieb an, forderte den Ausbruch aus Sofagefilden, neuen Fleiß und Einsatz - nun wird er ausgezahlt. Ganze Gruppen ehemals fauler Kumpanen haben sich erhoben, nur um dem Anspruch des K. gerecht zu werden, nur um sich mit K. selbst, mit ihm und seinen Besitz zu beschäftigen. Sie sind beschäftigt! Roland K. schafft Beschäftigung, gibt Arbeit, ist Arbeitgeber. Er hat einen Ausweg aus der Resignation gezeigt, hat aus der Faulheit gewiesen, hat einer Handvoll Menschen eine neue Perspektive geschenkt.

Obzwar beschäftigt, scheint es doch eine fadenscheinige Beschäftigungsart zu sein. Keine, die dieser Gesellschaft menschlich nützen würde. Aber das tun solche, die in anerkannten Beschäftigungen wuchern, auch nicht. Auch sie nützen der Gesellschaft nicht menschlich. Solche, die sich um K.s Unwohlsein kümmern sind so schäbig und halbseiden, wie solche, die in Pöstchen nisten, in Pöstchen vermitteln, bearbeiten, erfragen, festhalten, vernehmen und pressen. Das menschlich Obskure läßt sich nie rechtfertigen, es ist immer unmenschlich und zu hinterfragen, egal ob es an Bombenattrappen schraubt oder aus staatserhaltenden Ämtern heraus tyrannisiert.

Wenn aber hinterfragend hinter die Fassade geblickt wird, muß man auch jene verstehen, die in schummerigen Beschäftigungen harren. Muß verstehen, warum Pöstchenhalter ihr bürokratisch-exekutives Geschacher beibehalten. Ökonomischer Zwang, heißt es dann lapidar. Was wären sie ohne ihr Geschacher? Womöglich auch Freude von K.s Unwohlsein? In solcher Weise muß man auch die bombastischen Jünger des Roland K. begreifen. Man muß auch sie verstehen, wenn man auch ihr Tun vielleicht menschlich nicht teilen kann. Den Vorreiter des Bundesarbeitsdienstes zu verschrecken, würden sie vermutlich verlautbaren, gleicht der Beseitigungsaktion des Schöpfers des Reichsarbeitsdienstes. Lieber zu früh tätig werden!, würden sie ausrufen. Was wären sie ohne ihre Aktion? Neunstellige Nummern beim Autobahnbau?

Roland K. jedenfalls hat ein Beschäftigungsfeld erschlossen, hat Gruppen von Menschen Arbeit gebracht, Erwerbslosigkeit zerstoben. Unmenschliches Werk zwar, aber wer will sich in Mitleid ergehen mit einem Mann, der seine Geister selbst rief? Zudem es nur sein Luxus ist, der in die Lüfte gehen soll, nicht er selbst. Luxus, den er besitzt, den er aber denen nachsagt, die auf Diwane lukullische Fressorgien und regelsatzgeschuldete Saufgelage veranstalten. Die Arbeitsamen von seiner Gnaden wollen ihn an den Luxus und sie wollen die Gesellschaft vom Luxus befreien; vom Luxus, sich einen falschen Propheten zu unterhalten. Es ist selbstverständlich, die Maßnahmen der in Beschäftigung Gekommenen zu verachten - so selbstverständlich, wie deren Motive, die das Stillhalten unerträglich werden lassen, zu beachten. Eine Gesellschaft kann, und muß vielleicht sogar, Bomben verachten - aber solange sie sich nicht fragt, weshalb Bomben notwendig wurden, hat sie nichts gelernt und wird weiter mit solcherlei Folterwerkzeug leben müssen.

Roland K., so darf man munkeln, wünscht sich heute nichts sehnlicher, als die Faulheit und Trägheit der erwerbslosen Massen zurück, eine Faulheit und Trägheit, die nur in seiner bettlägerigen und kranken Phantasie existiert hat. Er ist jedenfalls nicht bereit, seinen Wohlstand zu Pulver werden zu lassen, um weitere Beschäftigungsmärkte zu erschaffen. Sein Glauben hat Grenzen. Ein seltsamer Heiliger...

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Rezension & Empfehlung

Montag, 25. Januar 2010

Eine Rezension von Markus Vollack.

Der Titel des Buches mag für Uneingeweihte womöglich distanzierend, ja sogar isolierend wirken. Jemand der sich als "Unzugehörig" betrachtet, marschiert nicht mit, sagt Nein, wenn andere Ja sagen und wehrt sich gegen vorgegebene Normen, die nicht selten als Naturgesetze gepriesen werden. Roberto legt in vielen Artikeln den Finger in die Wunde, regt zum Nachdenken an und ist stets bemüht anderen die Augen zu öffnen oder zumindest mit dazu beizutragen, dass sie ihre Perspektive erweitern mögen. In "die Eingezäunte Welt" (S. 170) thematisiert er mit bitterböser Ironie, die selbstverschuldete Unmündigkeit und die ach so gehegte und gepflegte Engstirnigkeit vieler Menschen. Denn sie wollen die Welt so sehen, wie sie ihnen wohltue und selten so, wie sie wirklich ist: Blähbäuche, Hungersnöte, Mord, Totschlag, Folter, Betrug und dergleichen Unwörter mehr tue ihnen einfach nicht gut – also wird so getan, als gäbe es das alles gar nicht. Robertos große Intention all seiner Texte ist der ewige Kampf gegen Engstirnigkeit, Ignoranz und Verleugnung der Tatsachen.
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Eine Empfehlung von Margareth Gorges.

Robertos Texte fordern zum Handeln auf, seine Sprache ist schonungslos einfühlend, schonungslos aufdeckend, schonungslos aufklärend, schonungslos anklagend, schonungslos fragend und schonungslos auffordernd zum Selberdenken!
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De auditu

Samstag, 23. Januar 2010

Die abschreckende Wirkung gehört zum täglichen Repertoire der Berichterstattung. Sie erscheint als Begriff in mannigfaltigen Bereichen - im Sozial- und Arbeitswesen ebenso wie bei der Verbrechungseindämmung. Kann man im letzteren Falle noch eine dünne Logik hinter der Verwendung von abschreckenden Wirkungen ausmachen, fällt es in den anderen Bereichen zunehmend in das Feld der Menschenverachtung. Wenn ein Sozialwesen auf abschreckende Wirkungen baut, damit die Bürger verschreckt werden, dann erschrecken alle aufgeklärten Gedankengänge, erschrecken Demokratie und Sozialstaatsgedanke.

Die abschreckende Wirkung bei Verbrechensbekämpfung klingt logisch, baut allerdings, wie oben erwähnt, auf dünnem Eis. Sie ist letztlich nur ein Mythos, denn die Todesstrafe läßt vor Mord nicht zurückschrecken, gleichwohl ein Meer von Kameraobjektiven ebensowenig vor Straftaten abschreckt. Ob das uferlose Überwachungszeremoniell auf Flughäfen fruchtet, kann nur vermutet werden. Es ist jedenfalls seltsam, dass beinahe wöchentlich von vereiteltem Flugzeugterror berichtet wird, obwohl der dortige Überwachungsmarathon doch eigentlich jeden Terroristen abschrecken müßte. Selbst wenn diese Totschlags nur am Reißbreit der Geheimdienste entworfen sein sollten, stützt es doch die These, wonach abschreckende Wirkungen keine Maßeinheiten sind, mit der polizeiliche Arbeit betrieben werden könnte. Denn wenn nicht mal der kreative Geheimdienstler der Überwachung Abschreckung einräumt, weil er ständig neue Terroristen ins Rennen schickt, dann ist es um den Gehalt des Begriffs nicht gut bestellt.

Ob nun die abschreckende Wirkung im Sozialwesen eine Einheit ist, mit der man rechnen kann, soll hier gar nicht beantwortet werden. Darf gar nicht beantwortet werden! Es verbietet sich darüber überhaupt auch nur nachzudenken. Derzeit hinterfragt man die abschreckende Wirkung der Praxisgebühr. Warum hat sie nicht mehr Patienten zurückschrecken lassen, einen Arzt aufzusuchen? Schrecken fünf Euro pro Arztbesuch vielleicht erfolgreicher ab? Nochmals: es verbietet sich, darüber zu sinnieren. Wo Patienten von ihrem Arzt abgeschreckt werden sollen, sollte sich der Bürger erschreckt genug zeigen, vor Konfrontation mit den Schreckensreformern nicht mehr zurückzuschrecken. Wird erstmal in dieser Weise über Patienten verfügt, dann ist es um den Gehalt von Demokratie und Sozialstaat schlecht bestellt. Kranke sollten eben nicht abgeschreckt, sie sollten zum Arztbesuch ermuntert werden.

Aber davon keine Spur! Ganz im Gegenteil. Man rekrutiert einen Terminus aus dem polizeilichen und juristischen Werktag und platziert ihn im Sozialwesen. Nicht nur dort freilich, abschreckende Wirkung soll so allerlei haben. So sollen Sanktionen in empfindlicher Höhe Arbeitslose davor abschrecken, zu unsittlicher Arbeit Nein zu sagen. Die übertriebene Kriminalisierung von Schwarzarbeit soll abschrecken, während jedoch nicht danach gefragt wird, warum Menschen überhaupt dazu genötigt sind, in solchen Verhältnissen zu buckeln. Man entlehnt den Begriff der Polizeiarbeit und Verbrechensbekämpfung, setzt ihn - wie im aktuellen Beispiel - in die Vorzimmer von Krankenkassen. Beim entlehnten Wort bleibt es aber nicht, denn hinter Worten stecken Intentionen. Mit dem zwielichtigen Wort wandern zwielichtige Hintergründe hinüber ins Gesundheitswesen. Der Verbrecher muß abgeschreckt werden - der Patient auch. Das Schlechte und Verhindertswerte, das Verbrechen, bedarf der Abschreckung - wenn Patienten abgeschreckt werden müssen, konnotiert man sie mit dem Schlechten und Verhindernswerten. Verhindert nicht mehr die Krankheit, verhindert den Kranken! Plötzlich sitzen die Abgeschreckten im gleichen Boot. Der Verbrecher wird nicht Patient, aber der Patient wird unterbewusst zum Verbrecher. Krankheit als Verbrechen!

Eine Gesellschaft, die die sozialstaatlichen Maximen auf abschreckende Wirkungen platziert, damit sich beispielsweise Patienten vor dem Arztbesuch fürchten, hat die Mitmenschlichkeit vollständig verspielt. Eine solche Gesellschaft braucht keine abschreckenden Wirkungen zum eigenen Erhalt, sie ist sich selbst abschreckende Wirkung genug und über kurz oder lang nicht erhaltbar. Was ist das nur für ein Staat, in dem Patienten verschreckt werden sollen?

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Wenn rauskommt, wie was reinkommt

Freitag, 22. Januar 2010

Ein Gastbeitrag von Lutz Hausstein.

Vom früheren SPD-Schatzmeister Friedrich Halstenberg wird ein Ausspruch kolportiert, nach dem er einmal folgendes gesagt haben soll:

„Wenn rauskommt, wie was reinkommt, komme ich wo rein, wo ich nicht mehr rauskomme.“

Hierbei bezieht er sich auf die Praxis der illegalen Parteispenden. Öffentliche Beachtung müssen allerdings nicht nur illegale Parteispenden in all ihren Facetten, sondern auch die, nach aktueller Rechtslage, legalen Spenden mit ihren Auswirkungen auf die Politik finden. Korrekterweise müsste die gesamte Parteienfinanzierung (staatliche Mittel – früher Wahlkampfkostenerstattung, Parteispenden, Parteistiftungen, „Parteisteuern“ – „freiwillige“ Beiträge von Mandatsträgern, Abgeordnetendiäten) einer kritischen demokratischen Überprüfung unterzogen werden. Und zwar nicht durch die Parteien selbst, wie aktuell, oder durch Parteienvertreter, sondern durch völlig unabhängige Vertreter ohne irgendwie geartete Interessensverstrickungen. Dass eine Anrufung des Bundesverfassungsgerichtes für solche Belange nur der Regierung und den Parteien vorbehalten bleibt, ist ein weiterer pikanter Punkt dieser Schieflage. Selbst namhafte Verfassungsrechtler wie Hans Herbert von Arnim kritisieren seit Jahren diese Punkte, wurden jedoch nur marginal wahrgenommen. Stattdessen kam es zu noch weiteren Aufweichungen der Begrenzung der Parteienfinanzierung.

Illegale Spenden haben eine Vielzahl von verheerenden Auswirkungen für das Gemeinwohl, welche auch jenseits der Wahrnehmung der Bevölkerung liegen. Neben der Einflussnahme auf politische Entscheidungen, bei denen sich aufgrund der Nichtbekanntgabe von Spenden kein erkennbarer Zusammenhang herstellen lässt, spielt dabei auch der weniger bekannte Gesichtspunkt der staatlichen Begünstigung von Parteispenden eine entscheidende Rolle, bei denen beide Seiten auch finanziell zusätzlich profitieren. Kann vom Spender auf der einen Seite eine Parteispende bis 3.300 Euro (6.600 Euro für gemeinsam veranlagte Ehepaare) steuerlich abgesetzt werden und trägt somit der Steuerzahler nicht unerheblich dessen Spende mit, so erhält der Spendennehmer bei Spenden bis 3.300 Euro zusätzlich noch einen staatlichen Zuschuss auf diesen Betrag von 38 Prozent. So kommt es dann auch, dass größere Spendenbeträge gern nichtlegal gestückelt werden, um diese Vorteile in Anspruch zu nehmen. Dass vertrauliche Absprachen über Stückelungen nur äußerst selten das Licht der Welt erblicken, liegt dabei in der Natur der Sache.

In Zeiten sich immer weiter verstärkender Lobbyarbeit sind selbstverständlich auch legale Parteispenden eine Spielart der Einflussnahme. Wenn dies nun auch wieder einmal auf die FDP zutrifft, ist dies wenig verwunderlich. Nachdem monatelang von allen Seiten gerätselt wurde, welche Wachstumsbremse die FDP durch eine Mehrwertsteuer-Reduzierung für Hotels lösen wollte, dürfte das Geheimnis um ihre Beharrlichkeit nun endgültig gelöst sein. Schon direkt nach Bekanntgabe dieses Vorhabens erhob sich ein Sturm der Entrüstung über eine solche Klientelpolitik, die ihre Begründung in der Nichtwirksamkeit einer solchen Steuererleichterung fand. Die inzwischen vorhandenen Erkenntnisse, dass die reduzierte Steuer sich nicht in verringerten Übernachtungspreisen niederschlägt, wie propagiert, bestätigt dies. Stattdessen wurden dadurch die Einnahmen der Kommunen weiter ausgedünnt, die in immer größere Finanzierungsschwierigkeiten ihrer öffentlichen Aufgaben geraten.

Wenn nun der FDP-Vorsitzende Westerwelle schein-entrüstet vor die Presse tritt und jeglichen Zusammenhang leugnet, dokumentiert er letztlich nur, weshalb sich in der Bevölkerung eine immer größere Politikverdrossenheit breit macht. Denn wieder einmal sitzen sie zwar in der ersten Reihe, müssen allerdings miterleben, wie Politiker und Parteien sie für blöd verkaufen wollen. Einfachste logische Schlüsse werden abgestritten und die Bevölkerung steht hilflos dabei, da ihr keine demokratischen Rechte zustehen, dies zu verhindern.

Doch selbst beim gerichtsverwertbaren Nachweis illegaler Praktiken halten sich viele Politiker beinahe schadlos. Exemplarisch sei hierbei der Fall des „Ehrenwort“-Ex-Bundeskanzlers Kohl genannt, der vom Gericht für sein Schweigen mit einer, für seine Verhältnisse, unerheblichen Geldstrafe von 300.000 DM und keiner weiteren Bestrafung belegt wurde und anschließend wieder öffentlich als „Kanzler der Einheit“ gefeiert und mit öffentlichen Preisen überhäuft wurde. Es gab die „Vergesslichkeit“ des CDU-Fraktions-Vorsitzenden Schäuble, der an eine Spende des derzeit vor Gericht stehenden Waffenhändlers Schreiber mühsam „erinnert“ werden musste, dennoch kurz darauf wieder als Bundesinnenminister und nun als Bundesfinanzminister an der Spitze der Politik sowie des Staates in leitenden Positionen auftauchte. Die CDU-Spendenaffäre in Hessen überstand der Ministerpräsident Koch völlig unbeschädigt, da der damalige Staatskanzleichef Jung seinen Dienstherrn schützte, als Bauernopfer fungierte und zurücktrat. Dessen „Strafe“ bestand darin, 2005 als Bundesverteidigungsminister ins Kabinett Merkel berufen zu werden. Die wegen der Einlösung eines vom Kunden vergessenen Pfandbons entlassene Supermarktkassiererin hingegen wird gesichert nie wieder an einer Kasse arbeiten dürfen. Es steht sogar zu befürchten, dass sie aufgrund ihres Arbeitszeugnisses gar keinen Job mehr erhalten wird. So bleibt zu konstatieren, dass das Vertrauensverhältnis des Unternehmens zu ihr dadurch so stark zerrüttet ist, dass eine Weiterbeschäftigung für dieses unmöglich wird. Das Vertrauensverhältnis des angeblichen Souveräns gegenüber dem Politiker hingegen ist nicht zu zerstören. Weil es wohl nie bestand.

Es ist unübersehbar, dass Parteienspenden, legal oder illegal, einer Ausrichtung der Politik auf das im Grundgesetz verankerte Gemeinwohl entgegenstehen. Selbst der Korruption überführte Politiker können sich, mehr oder minder, aufgrund ihrer Machtposition in ihren Parteien und deren Einflussnahmemöglichkeiten auf verschiedenste Institutionen, beinahe vollständig schadlos halten. Mögliche Strafen laufen in der Regel auf Geldstrafen hinaus, bei denen die Herkunft dieser Gelder nicht einmal gesichert ist, sodass es möglich sein könnte, dass sie aus weiteren "Hilfsfonds" des Spendengebers stammen. Es ist an der Zeit, dieser Aushöhlung der Demokratie einen Riegel vorzuschieben. Das aktuelle Beispiel der FDP-Spende, nur wenige Wochen nach der Bekanntgabe ihrer „Strafe“ für die letzte bekannt gewordene Spendenaffäre, noch unter dem früheren FDP-Vorsitzenden Möllemann, und ihrer eilends eingelegten Intervention dazu, zeigt überdeutlich, dass es sich dabei um systematische Vorgänge handelt, welche keinesfalls auf einzelnen Verfehlungen basieren.

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Sei höflich und sag Dankesehr

Donnerstag, 21. Januar 2010

Sag artig Danke, Kind von Haiti! Reich der Tante und dem Onkel aus Übersee die Hand. Komm schon! Ja, das wissen wir doch! Wir wissen doch, dass du Schmerzen hast und deine Mama im Schutt suchst. Aber soviel Zeit muß sein. Sei brav, sag Danke! Schau, der Industriestaaten-Onkel hat dir geholfen, da kann er doch ein wenig Dank erwarten. Findest du nicht? Du bist ihm Dank schuldig, Kind von Haiti. Wer seine Hilfe anbietet, der hat doch auch Anspruch darauf, ein winziges Danke geschenkt zu bekommen. Komm her, streck dem Onkel deine Hand entgegen und zeige dich erkenntlich. Bezahle deine Dankesschuld. Ist denn der Dank zu viel verlangt, Kind von Haiti?

Sei dankbar! Zeig uns kurz und schmerzlos deine Dankbarkeit. Sei doch nicht geizig mit dem Dank. Die Tanten und Onkel waren doch auch nicht geizig. Verärgere uns nicht, Kind von Haiti. Wenn du nicht gleich folgsam Danke sagst, müssen wir von Undankbarkeit ausgehen. Willst du deine Retter beleidigen? Willst du sie enttäuschen? Danke ihnen dafür, dass sie sich endlich einmal deiner angenommen haben! Danke ihnen, dass sie ihre Gleichgültigkeit abgelegt, ihre gesenkten Augenlider aufgeschlagen haben! Bedanke dich dafür, dass sie dir nun Geld schicken, nachdem Lebensmittel dank industriestaatlicher Freihandelsmaximen und Spekulationsmanie unerschwinglich wurden! Kind von Haiti, ist dir das nicht Antrieb genug?

Es wird Zeit, sprich endlich dein Dankgebet! Ein Hoch auf die Brotgeber, die einst Brot nahmen, um es heute wieder zu erteilen. Natürlich, sie waren es nicht, die Brot nahmen - nicht in Person. Doch sie waren es letztlich doch, mit ihrer Wut, die ganze Welt in einen billigen Ramschladen zu verwandeln, in der Konsumgüter zu Pfennigpreisen verschleudert werden sollen. Spekulation hier, Ausbeutung hilfloser Länder dort, Arbeitskraft auf Basis von Hungerentgelt allerorten - am Ende heißt es dann, man müsse den industriestaatlichen Wohlstand verteidigen. Verteidigen, auf deine Kosten. Aber das gibt dir nicht das Recht, den Dank zu verweigern! Verdammt nochmal, sei doch nicht so dickköpfig! Immerhin haben sich Oheim und Muhme besonnen, immerhin haben sie an dich gedacht, als sie ihr Liebstes spendeten. Kannst du nicht verzeihen, Kind von Haiti?

Aber warum dich belehren? Du bist ja noch zu jung, um zu wissen, wie schrecklich lieb dich dein ferner Onkel doch hat. Deine Vorväter hat er zwar ruppig behandelt, hat immer wieder in ihre Inselpolitik eingegriffen, manipuliert, interveniert, hat Landstriche verwüsten lassen - doch zu streng sollte man mit ihm nicht sein. Reich ihm doch die dankbare Hand! Sei anständig! Bedanke dich, auch wenn du den feisten Spendieronkel nicht leiden magst. Es gehört sich so! Er hat es doch begriffen, er hat seine Ignoranz für deine und deiner Väter Nöte schändlich bereut. Und grundsätzlich verachtet hat er euch ja nie! Das siehst du im Moment doch selbst. Wenn dein Leid unerträglich wird, springt er in die Bresche. Laissez-faire! Er hat dich und deine Eltern machen lassen, ohne sich wesentlich einzumischen - von Intervention und Raubbau mal abgesehen! -, hat sich dabei immer im Stillen um dich gesorgt. Aber wer sei er denn, hat er sich gedacht, wer sei er denn, sich in die Erziehungsarbeit, die aus Hunger, Krankheit und Analphabetismus bestand, einzumischen! Kind von Haiti, siehst du nun, was dem Onkel an dir lag?

Sei höflich und sag Dankesehr! Du hattest Erwartungen an jene, die ihre Erwartungen ansonsten immer unerfüllt ließen. Und nun erwarten dieselben, dass du etwas tust. Ein kleines Lächeln, ein artiger Blick, ein schüchternes Danke. Man kneift dich in die Wange, streicht dir übers Haar, lächelt dich liebevoll an und vergisst dich für immer. Nein, natürlich nicht für immer! Bis zur nächsten Katastrophe! Dann stehen Tantchen und Onkelchen wieder mit der Börse bei Fuß. Bedanke dich also, du weißt ja nicht, wie nötig du die buckelige Verwandtschaft eines Tages noch haben wirst. Sei brav und bedanke dich - es kann eine profitable Anlage für deine Zukunft sein. Nur ein Wort, nur dieses eine Wort, Kind von Haiti! Wer gibt, der will auch etwas nehmen, der will seine Mildtätigkeit mit Gegenleistung vergolten haben - und sei es nur mit einem Dankeschön! Nur zu, ein Wort - und es sei dir versprochen, dass du sie los bist, deine Retter. Sie werden dich nicht weiter belästigen, sie werden beglückt im Andenken an jenem Moment sein, an dem du freudestrahlend Danke flüstertest. Du willst also wirklich nicht, Kind von Haiti?

Schön. Dann eben nicht! Dann setzen wir dein Danke eben als Aufmacher auf unsere erste Seite, ob du es gesagt hast oder nicht! Das sind wir uns schuldig! Wir sind uns schuldig, für unsere gute Tat auch ein Danke gespendet zu bekommen - und wenn wir es uns selbst spenden müssen! Wenn wir schon beim Spenden sind, dann ist ein Danke, dir fälschlicherweise in den Mund gelegt, auch noch nebenher gleich mitgespendet. Wäre doch gelacht, wenn wir uns von einem Kind von Haiti auf der Nase herumtanzen ließen. Dankesehr!, glänzt es dann in feinen Lettern. Und was kannst du dagegen machen? Nichts! Sollst du auch gar nicht. Noch haben wir dich nicht gänzlich satt, aber in einigen Tagen solltest du verschwinden. Schlimm, was dir widerfahren ist - aber wir können dieses Leid nicht täglich aufsaugen. Wir wollen doch nicht zur depressiven Gesellschaft werden! Dafür hätten wir gar keine Zeit. Das stemmen unsere maroden Gesundheitswesen gar nicht! Und wer soll in der Zwischenzeit die Welt verramschen, unseren Wohlstand verteidigen? Nimm das Geld und melde dich erst wieder, wenn es gar nicht mehr anders geht. Nicht mal ein Danke waren wir dir wert! Da will man gar nicht mehr hilfsbereit sein. Kind von Haiti, bist du nun zufrieden?

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Eine Buchempfehlung

Eine Empfehlung von Dr. Bernhard Schülke.

Meine Buchempfehlung ist das Erstlingswerk von Roberto J. de Lapuente, manchem bekannt von seinem Blog ad sinistram. Das Buch hat den Titel:

Unzugehörig - Skizzen, Polemiken und Grotesken

Robertos Texte sind sehr mitnehmende, gefühlsbetonte Erzählungen. Sein drastische Ausdrucksweise entspricht seiner Wut, einer berechtigten Wut, die er so artikuliert, dass er jedes Thema präzise auf den Punkt bringt - auch und gerade emotional. Seiner so mit großer Klarheit geäußerten Kritik gesellschaftlicher Zustände kann man nur beipflichten.

Wenn Sie mehr über Robertos Buch lesen möchten, dann habe ich zwei Links mit Rezensionen für Sie:
  1. Margitta Lamers Rezension und
  2. Dr. Christian Klotzes Rezension
Das Buch ist erschienen im Renneritz-Verlag - Bestell-Link.

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Spendenaufruf!

Mittwoch, 20. Januar 2010

Armeen von Menschen wurden in den letzten Jahren per Gesetz kriminalisiert, wurden gegängelt, gepresst und unmündig gemacht. Sie wurden finanziell an einem zu knappen Strick gehalten, derweil man den Arbeitsplatzmangel in ihre Schuhe schob. Menschenfluten fielen der Reform mit Namen eines in exquisiten Garn gekleideten Zuhälters zum Opfer; Legionen von Erwerbslosen ebenso wie Schwärme von solchen, denen ihr Lohn zum Leben nicht reicht, die aufstocken müssen, weil ihnen ihr Dienstherr ihren prekären Posten nicht gütlich honorieren will.

Daher seid Ihr aufgerufen, Ihr Erwerbslosen und Leiharbeiter, Ihr Geschädigten der Zuhälterreform und Opfer Eurer Blutsauger! Spendet monatlich einen Euro von Euren Reichtümern! Wer mehr hat, soll zwei Euro spenden, wer weniger hat, darf auch Centbeträge überweisen! Sammelt Kapital, spendet Euch einen Grundstock zusammen, schafft per vollen Konto Macht und Einfluss! Spendet monatlich, spendet bis in den Herbst 2013 regelmäßig, bis zur nächsten Bundestagswahl. Errechnet Euch selbst die Summe, die zusammengetragen werden kann, wenn jeder Geknechtete einen Beitrag leistet. Leistet Beitrag - seid Leistungsträger!

Währenddessen wird ein Gremium Kontakt zu den einschlägigen Schatzkammern aufnehmen, wird die gelben und blauen Kammerherrn der freien Korrupten zu Gesprächen bitten. Jenen wird eine zweistellige Millionensumme in Aussicht gestellt, wenn sie sich für Aufhebung von Hartz IV, für eine Humanisierung der Sozialpolitik und für ein Verbot von Leih- und Zeitarbeitspraktiken aussprechen. Es wird ihnen regelmäßige Zuwendung in Millionenhöhe angeboten, leistungsbezogen und mit Anreizen zur Eigeninitiative. Wenn sie schrittweise die Forderungen der potenten Geldgeber erfüllen, erwerben sie neue Parteispenden - nur mit Erwerbsanreizen ist mit den freien Korrupten ins Geschäft zu kommen.

Spendet! Seid solidarisch zu Euch selbst! Wenn die Enthumanisierung der Sozialpolitik, die bereits ausreichend als Irrweg entlarvt wurde, nicht mit demokratischen Mitteln zu beseitigen ist, so besticht man sie fort. Oder mit den Worten Klaus Baums: "Revolutionen trägt man heute nicht mehr mit der Waffe aus, man kauft sich einfach, was man braucht."
Spendet! Akkumuliert! Hortet Kapital! Wendet die Logik derer an, die Euch heute noch verachten und bekämpfen. Wenn man den feudalen Herren nicht mit Vernunft beikommen kann, so wenden wir eben die Unvernunft ihrer Logik auf sie an, erlauben uns unsere eigene kleine List der Vernunft.
Spendet! Denkt an die Geknechteten! Denkt an Euch! Es ist Eure soziale Verantwortung, die Konten der Korrupten zu schmieren, sie zum Bersten zu bringen. Sozial ist, was Korruption schafft! Wer heute nicht die Geldbörsen der Begüterten füllt, entzieht sich seiner sozialen Verantwortung! Kauft Euch bei den Käuflichen, den Bestechlichen, den Korrupten ein! Kauft ein Stückchen Macht, indem Ihr Euch ein Stückchen, einen Anteilsschein Korruptheit anschafft!
Spendet! Schafft Euch Abgeordnete an! Laßt sie für Euch anschaffen gehen. Ölt den Strich, auf dem sie handtäschchenschwenkend lavieren. Lavierend zwischen Lobbyismus und Objektivität; lavierend zwischen Diäten und Zuwendungen. Spendet! Stiftet! Vermacht! Schmiert den Apparat, der Euch ein besseres Leben ermöglichen kann.

Spendet, Ihr Armseligen, damit den Armseligen geholfen werden kann! Spendet und merkt Euch, Selbstinitiative ist auf der Spendenquittung zuhause. Wenn man Euch erneut unterstellt, Ihr wäret leer, ausgepumpt, hättet keinen Antrieb mehr, dann haltet die Quittung hoch und verkündet feierlich, dass Ihr drauf und dran seid, die Gesellschaft zu verändern - eigenverantwortlich und selbstinitiiert.
Spendet! Es wird Euch nützen. Es wird den Korrupten nützen! Und später, wenn die Gesellschaft so aussieht, wie wir es unseren Bestechlichen aufgetragen haben, dann sammeln wir erneut Gelder, um sie den freien Korrupten und ihren Parteigängern aus allen Parteien zu reichen. Wir sammeln dreistellige Millionensummen und überreichen sie ihnen just in dem Moment, da sie sich auflösen. Wenn wir Korruption schon nicht ausmerzen können, so bestechen wir sie eben solange, bis sie uns zusagt und beglaubigt, nicht mehr sein zu wollen. Davor nutzen wir die Korrupten, lassen sie unsere nützlichen Idioten sein.

Proletarier aller Länder spendiert für Euch!

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Ridendo dicere verum

"Sieh! Da steht das Erholungsheim
einer Aktiengesellschafts-Gruppe;
morgens gibt es Haferschleim
und abends Gerstensuppe.
Und die Arbeiter dürfen auch in den Park...
Gut. Das ist der Pfennig.
Und wo ist die Mark... ?

Sie reichen euch manche Almosen hin
unter christlichen frommen Gebeten;
sie pflegen die leidende Wöchnerin,
denn sie brauchen ja die Proleten.
Sie liefern auch einen Armensarg...
Das ist der Pfennig. Und wo ist die Mark... ?

Die Mark ist tausend- und tausendfach
in fremde Taschen geflossen;
die Dividende hat mit viel Krach
der Aufsichtsrat beschlossen.
Für euch die Brühe. Für sie das Mark.
Für euch der Pfennig. Für sie die Mark!

Proleten!
Fallt nicht auf den Schwindel rein!
Sie schulden euch mehr als sie geben.
Sie schulden euch alles! Die Länderein,
die Bergwerke und die Wollfärberein...
sie schulden euch Glück und Leben.
Nimm, was du kriegst. Aber pfeif auf den Quark.
Denk an deine Klasse! Und die mach stark!
Für dich der Pfennig? Für dich die Mark!
Kämpfe - !"
- Kurt Tucholsky, "Wohltätigkeit" -

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Sozialverträglich ableben

Dienstag, 19. Januar 2010

Bereits im März 2004 riefen die Vereinten Nationen nach Hilfsgeldern für Haiti. Vor knapp zwei Jahren wurde nur zögerlich davon berichtet, dass aufgrund der steigenden Lebensmittelpreise der Hunger in Haiti wüte. Als ob das nicht ausreichte, sicherte die Weltgemeinschaft Gelder zu, die nie im vollem Umfang eintrafen. Die Wälder Haitis werden seit Jahrzehnten systematisch gerodet, was Verkarstung und regionalen Klimawandel nach sich zieht. Rodungen, auch im Namen industriestaatlicher Unternehmen, die mit dem Raubbau Profite erzielen. Nein, das Erdbeben hat die Lage nicht wesentlich verschlechtert - es hat der chronischen Armut nur die Krone aufgesetzt.

Wo waren damals die emsigen Helfer, denen es eine Herzensangelegenheit war, den Menschen Haitis unter die Arme zu greifen? Wo die Spendengalas? Wo hochtrabende Prominente, die mit Leichenbittermiene um einige Groschen bettelten? Wo versteckte sich die emotionalisierte Berichterstattung der üblich verdächtigen Gazetten? Wo haben die einschlägigen Medien über teuere Lebensmittel berichtet? Wo über den einstigen Hilferuf der Vereinten Nationen? Und wenn, wie groß war der Aufmacher?

Ihr Elenden dieser Welt, ihr solltet spektakulär sterben! Nur dann, wirklich nur dann, nehmen euch die selbstgefälligen Industrienationen wahr. Industrienationen, die arrogant von der Weltgemeinschaft sprechen, wenn sie von sich selbst erzählen. Sie sind die Gemeinschaft der Welt! Sie sind die Welt! Solange ihr in eurer Baracke still dahinsiecht, langsam ausmergelt, immer dünner, immer knochiger werdet, interessiert man sich für euch nicht. Man sieht eure Not nicht, den bohrenden und ziehenden Hungerschmerz, die durchschüttelnden Krämpfe, den geistigen Verfall, der mit Hunger einhergeht. Selbst euer körperlicher Abbau ist nicht zu erkennen, weil er langsam, etappenweise vollzogen wird - langsam, aber zielsicher auf den Tod hinarbeitend.

Auch der Tod will selbstvermarktet sein, ihr Elenden! Der edle Spender westlicher Art will etwas geboten bekommen für sein Geld. Er will das Leid, das er abzuhelfen sich vorstellen könnte, zunächst begutachten; er will ein Showelement, will am Laufsteg des Elends staunen, am Catwalk der Qualen stutzen, um seine Spendenbereitschaft liebkost und geschätzt zu wissen. Raus aus euren Hütten! Rein ins Rampenlicht! Ihr erhaltet nur Zuwendung, wenn euch bebende Erdplatten mit Trümmern bedecken oder gigantische Fluten wegspülen. Man will den Tod sehen, im gewaltigen, unaussprechlichen Maßstab, man will in Massengräber starren, die noch nicht zugeschüttet wurden, in denen die Toten wild übereinander und kreuz und quer liegen. Show birgt Mitleid! Krampfende Hungerbäuche nimmt keiner wahr! Was ist schon der Hungertod, der in Raten verabreicht wird, gegen das sekundenschnelle Auslöschen von Leben? Der eine stirbt evolutionär, sich behäbig zum Tode hin entwickelnd, der andere revolutionär, die vitalen, atmenden Zustände von einen auf den anderen Moment ins Gegenteil umwerfend. Ihr elenden Hungerleider, ihr leidet und verendet letztendlich nicht sozialverträglich!

Sozialverträgliches Ableben bedeutet hierzulande, kurz vor Rentenantritt, bei bester Gesundheit, kurz und schmerzlos und preisgünstig, direkt an dem schon ausgehobenen Grabschacht umzufallen. Bei euch, ihr Gequälten, bedeutet es, im Angesicht von Naturgewalten verendet zu sein. Verschieden in Springfluten, abberufen durch Erdbeben, hingeschieden dank Wirbelstürmen! So gestorben, freilich in großer Anzahl, einer Massenveranstaltung gerecht, nennt man es sozialverträgliches Ableben. Denn wenn so gestorben wird, versucht sich die Weltgemeinschaft sozial zu verhalten, sozial Gelder lockerzumachen, sozial mit Mitleid und Anteilnahme zu hantieren. Ein solches Ableben ist sozial, weil es hernach ein klein wenig Soziales in euer Leben bringt! Wie unprofitabel so ein betulicher und schleppender Hungertod doch ist!

Der tägliche Tod, das stündliche Hungern - es leidet an schlechter Beratung. Wem geholfen werden will, der durchdenke seine Strategie. Der moderne Spender will keine nachhaltige Hilfe leisten, er will ungestüm und kopflos immer dann helfen, wenn es sowieso schon zu spät ist. Er will ruinierten Verhältnissen, die durch Naturgewalt zu Ruinen von Ruinen wurden, wieder zu altem Rost verhelfen. Erst dann zückt er seinen Geldbeutel! Erst dann ist er bereit, zum verantwortungsvollen Weltbürger zu werden! Solange ruinierte Verhältnisse aber herrschen, solange der Hunger hinter den Fassaden solcher Verhältnisse versteckt werden kann, kümmert es ihn wenig. Daher müssen die Elenden neue Wege beschreiten, dem Charity-Markt gerecht werden, kundenorientiert verscheiden. Wer sich weigert, findet nie einen Brotgeber. Ihr armen Kerle, werdet marktgerechter! Nur so krallt ihr euch Brotgeber! Wer leise stirbt, kein Spektakel offeriert, der berührt kein noch so aktionistisches Event-Herz, der stirbt letztlich ungehört. Unterstreicht eure Vorzüge, ihr Jammerbilder, nur wer sich selbst darstellen kann, wird zum Erfolg kommen!

Wenn euch das gelingt, wenn ihr das industriestaatliche Event-Geheische aufrüttelt, wenn die Hilfe und die Spende zum Massenereignis für kurzzeitig aufgewachte Hilfsbereite wird, dann regnet es Anteilnahme. Jedoch nicht zu üppig, einige Milliönchen müssen reichen. Wohin kämen wir mit dem Leistungsprinzip, wenn es lukullische Hilfsgelder regnen würde? Wer leistet, dem wird paradiesisch geholfen; wer Banken an die Wand fährt, dem wird das Paradies zuteil. Aber ihr, ihr armen Schlucker, ihr habt nur kurzzeitig das Gewissen aus dem Schlaf gerissen - das will freilich bezahlt sein, aber nicht in wucherischem Ausmaß. Verschüttetsein ist ja, wenn man es recht durchdenkt, keine Leistung, die man uferlos honorieren müßte!

Diese Gesellschaft tut was sie kann - zu spät und im kleinsten Maßstab. Haiti ist in aller Munde. Gelitten wurde jedoch schon vormals, interessiert hat es damals kaum jemanden; gelitten wird auch hernach wieder, interessieren wird es dennoch niemanden. Niederträchtig sind aber jene, die die fröhliche Spendengala als Verlogenheit entkleiden, als Katharsis dieser Gesellschaft, als Selbstreinigungsprozess, als Gewissensbisse, die gewissenhaft vorheucheln, gutes Gewissen zu sein. Wir tun doch was!, verkünden sie. Wir sind gute Mitmenschen! Wir helfen! Bis die Hilfsbereitschaft vergessen ist, weil von den Aufmachern dieser Gesellschaft andere Themen prangen. Bis Haiti wieder so vergessen ist, wie es immer war...

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De dicto

Montag, 18. Januar 2010

"Es ist schon fast unanständig, mit diesem Vorstoß zu suggerieren, dass die Arbeitslosen arbeitsscheu wären."
- DGB-Vorsitzender Michael Sommer, laut Welt am Sonntag vom 17. Januar 2010 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Arbeitszwang, Abschreckungselemente innerhalb der Arbeitslosenhilfe, Hartz IV trotz allem immer noch eine angenehme Variante - so und noch reizender, brechreizender, äußerte sich Hessens demokratisch legitimierte Antwort auf Herrschsucht, Roland Koch, zum ewigen Thema deutscher Sozialpolitik. Das zweibeinige Vomitivum erntet dafür Kritik - mit seinen Positionen kultiviere er die allgemeine Ansicht, Erwerbslose seien arbeitsscheu. Und wer dies tue, der ist fast schon unanständig. Unanständig!

Das Hauptaugenmerk ist nicht auf unanständig gerichtet. Man lese genau: er ist fast unanständig - er strampelt demnach nicht schon in der handwarmen Brühe der Unanständigkeit, nein, er steht noch davor, am Becken- oder Kochtopfrand, ist noch nicht hineingesackt. Nur eben fast, jedoch gerade noch auf sicherem Boden. Repressionen bei den Menschen zu fordern, die am Sockel der Gesellschaft kauern, ist noch nicht gänzlich unanständig; den Furor in die Unterschichten zu tragen, ist gerade noch am Rande der Unanständigkeit; die ärmlichen Lebensumstände zu veredeln und damit zu verspotten, ist haarscharf an der Unanständigkeit vorbei. Fast unanständig! Noch nicht unanständig, gerade noch im Bereich der Anständigkeit! Zu suggerieren, dass Arbeitslose arbeitsscheu seien, so verkündet Sommer - man entschuldige die Wiederholung, aber man sollte sich dies schon mehrmals auf der Zunge zergehen lassen! -, sei fast unanständig; was auch heißen kann: zu suggerieren, Arbeitslose seien arbeitsscheu, ist gerade noch im anständigen Bereich anzusiedeln. Vielleicht nicht mehr von vornehmster Etikette, aber doch vergleichsweise unantastbar, weil immer noch im Bereich guten Benehmens.

Wortklauberei! Sicherlich. Auch das. Aber eben nicht nur. Sprache entlarvt! Sprache zieht der verborgenen Gesinnung verräterische Kleider an. Und es sind jene Gestalten, die offiziell als Sachwalter der Arbeitnehmer und Erwerbslosen auf Bühnen steigen, die aber schon seit Jahrzehnten keinen Mut besitzen, der allgemeinen Unzufriedenheit ihrer entfremdeten Klientel Taten folgen zu lassen - Taten im Namen ihrer Mitglieder, Taten im Namen der einst hehren Ziele der Gewerkschaftsbewegung. Nachdem die Tatbereitschaft austrocknete, verwelkt nun immer öfter der Mut, Schweinereien auch beim Namen zu nennen. Die offiziellen Sachwalter, die inoffiziell freilich nur Sachwalter ihres privaten Glücks sind - ihres und ihrer Freunde Glück -, kennen keine kompromisslose Sprache, nicht mal mehr, um den Showeffekt zu wahren, wonach man Vertreter der eigenen Klientel sei. Sie setzen entkräftende Partikel an Satzanfänge oder Phrasenenden: fast, möglicherweise, nahezu, ziemlich. Nichts ist, alles könnte oder würde; alles ist konjunktiv, indikativ ist nichts. Der Ist-Zustand ist, dass nichts ist - nur danach aussieht. Das Ist jener Sachwalter leitet sich nicht vom Wörtchen Sein ab, es gestaltet sich lediglich als Präsens von Schein. Aus Äußerungen wie jener des Kochs, werden dann folglich fast unanständige Vorstösse; aus Sarrazins Gewäsch werden ziemlich bedenkliche Aussagen; aus Mehrwertsteuersenkungen nach Parteispenden gewinnt man bestenfalls Eindrücke, wonach nahezu korrupte Zustände herrschen könnten. Für jene wie Sommer, leidet die Gesellschaft nicht an Schweinerei, nein, sie ist in einem undefinierbaren Zustand des Fast. Die Dinge beim Namen zu nennen, ist in einem solchen Fast einfach unmöglich. Im Fast fastet man mit konkreten Äußerungen. Nicht enden wollende Fastenzeit!

Nur nicht offen aussprechen, dass unanständig gar kein Wort mehr ist, mit dem man Koch treffend umschreiben könnte. Er wäre als kriminell, verschlagen, demokratiezersetzend, zwielichtig zu titulieren - das wäre sogar noch kulant. Vokabular, mit dem Sommer und Kollegen aber nicht aufwarten. Nicht aufwarten wollen! Nachher müßte man sich nur genieren, wenn man dem Zwielichtigen, den man öffentlich auch so genannt hätte, in die Augen blicken müßte - bei der gemeinsamen Suppe. Mensch Michael, klopft man so aber später kameradschaftlich auf die sommerliche Schulter, fast unanständig hast du mich genannt! Fast unanständig. Das war gut! So gut, dass ich es fast selbst geglaubt hätte...

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Standpunkte eines Frommen

Sonntag, 17. Januar 2010

Blasphemie ist das Allerletzte! Doch Irland schreitet wieder einmal voran, weist Europa den Weg, bekämpft mit strenger Hand das Allerletzte. Richtig so! Was mußte ich mich schon ärgern, was hat man mir schon an den Kopf geworfen, mir und meinem Gott! Die Iren handeln gezielt und richtig, sie hauen den Lästermäulern gesittet und nachdrücklich auf die Zungen. Unsereins hat genug von diesen Besserwissern, die einem brühwarm ins Gesicht speien, es gäbe keinen Gott, nur um sich dann an unseren feuerroten Zornesgesichtern zu ergötzen.

Ergötzen! Denn auch solche Kinder Gottes, entfremdete Kinder fürwahr, dienen einem Gott. Einem falschen, einem garstigen Gott - einem Götzen. Wenn wir rot anlaufen, wenn uns die Wut ins Gesicht buchstabiert ist, wenn einigen unserer Schwestern die Tränen aus den Augenwinkeln triefen, dann ergötzen sie sich, dann vollziehen sie ihren frevelhaften Ergötzungsdienst gleich einem schändlichen Götzendienst. Unsere Wut, das Leid, das sie uns achtlos antun, ist ihr Götze, ihr täuschendes Idol, ihr teuflischer Gott. Man höre mir mit Atheisten auf! Ständig bekehren sie einen, dauernd sind sie in Mission, fortwährend teilen sie der halben Welt mit, es gäbe kein höchstes Wesen, auch dann, wenn die halbe Welt davon gar nichts wissen will. Früher waren es wir, wir Gotteskinder, die missioniert, die Proselytenfängerei betrieben haben - was man uns heute immer noch vorwirft. Heute tun das die Gottlosen, wenn sie ihren entwichenen Gott vor die Nasen halten und dabei erklären, dass das, was sie vor den Nasen hin und her schwingen, nichts weiter sei als das Nichts. Und wie sie es nihilistisch vor den Angesichtern baumeln lassen! Ganze Omnibusse bepinseln sie mit ihren unfrohen Botschaften! Dabei haben sie die Gottgläubigen innovativ überrundet. Wir hatten befestigte, immobile Orte unseres Glaubens, jene jedoch sind mobil, betreiben einen fahrenden Altar, chauffieren ihren Glauben, der weismachen will, er glaube an nichts, durch die Straßen. In Kriegszeiten kannten auch wir mobile Altäre, die mit einigen feldgeistlichen Griffen zu errichten waren. In Kriegszeiten wohlgemerkt! Und genau darin befinden sie sich, diese chronisch Gottlosen. Sie befinden sich im Krieg mit uns, weswegen sie ihre provokativen Feldaltäre durch die Innenstädte sausen lassen.

All das macht mich wütend! Dieses ganze unwissenschaftliche Geschwafel von Gottlosigkeit. Verdammt, sicherlich ist es auch unwissenschaftlich, einen Gott zu erhoffen. Aber wir waren früher da, waren vor den penetranten Gottlosen auf der Welt! Wir haben ein Anrecht darauf, unser Primat zu pflegen! Und wir wollen geschützt werden von denen, die uns unsere Hoffnung ruinieren wollen. Das haben die Iren verstanden und umgesetzt. Dass man von solchen Gestalten, von diesen verirrten Schafen, erst überhaupt geschützt werden muß, ist schon ein Trauerspiel für sich. Dass aber die entflohenen Schafe dieser Welt pikiert blöken und ihre Kränkung als Verstoß gegen irgendein mutmaßliches Menschenrecht hinstellen, weil man ihnen nun gesetzlich Respekt vor Gott verordnet, läßt mich zürnen, weckt meinen heiligen Zorn. Die tun ja gerade so, als sei die Blasphemie ein Grundrecht, Kruzifix nochmal! Wir hätten kein Recht auf Märchen, erklären sie stolzierend. Aber Gottlose schon, oder wie? Die dürfen wohl die Mär von einer gottlosen Welt erzählen, gottverdammt!

Gotteslästerei gehört bestraft! Um uns zu schützen, um unseren Herrn zu würdigen und - das unterschätze man nicht! - um unsere aufkochende Wut zu bändigen. Es kann der Brävste nicht in Frieden glauben, wenn es den Boten des Teufels nicht gefällt. Sakrament, dabei habe ich lange Zeit am Mittelmeer gelebt, in Italien, später in Spanien. Nirgends sind die verirrten Schafe so störrisch wie im nördlichen Europa. Diese nordeuropäische, diese deutsche Eigenart, ständig bekehren zu wollen! Bekehren zu müssen! Dieser krankhafte Zwang! Sogar im Säkularen bekehren sie, spritzen den Menschen Ideologien in die Venen, pfropfen ihnen aberwitzige Glaubenskanons wie Kappen über die Rüben. Der italienische Faschismus war nie derart in den Italienern verankert, wie der jüngere Nationalsozialismus in den Deutschen - er war keine Religion, zu der er nördlich der Alpen herausgeputzt wurde. Natürlich hätte der faschistische Papst und seine Kardinäle gerne gesehen, dass ihr Volk zum Liktorenbündel kröche - aber es fehlte an begnadeten Missionaren und am allgemeinen Glaubenseifer der Gemeinde. Der jüngere deutsche Ableger konnte das Original nur überrunden, weil man im nördlichen Europa einen markanteren Hang zur Bekehrung intus hatte. Und immer noch hat! Heute bekehren sie die Menschen zur materiellen Lebensweise, zum ökonomisierten Weltbild, zum Geschichtsnihilismus - zwar schlägt das auch in Südeuropa zuweilen durch, aber weitestgehend nimmt man jene Damen und Herren, die in Missionarsstellungen penetrieren, für nicht ganz gescheit und läßt sie beten. Läßt sie beten und den lieben Gott einen guten Mann sein!

Selbst ihre Gottlosigkeit predigen und verkünden sie wie einen Gott! Das weckt all meine Wut, heilige Scheiße nochmal! Sicher, auch in Italien lästerten zuweilen einige Herrschaften über Gott und seine erfundene Existenz. Aber diese Lästereien waren hoffnungslose Unterfangen, denn sofort stürzten sich einige Fromme auf das Schandmaul, traktierten es mit Hieben und überzogen es mit Wutausbrüchen. Porco Dio!, riefen sie dem gotteslästerlichen Frevler zu. Madonna puttana!, wünschten sie ihm, oder Porca Madonna! In Spanien war es nicht anders. Wenn sie sich auf Lästerzungen warfen, schlagend und schimpfend, dabei ihr Me cago en dios y la virgen! grölend, oder ihr Me cago en dios y en todos los santos!, dann wagte es kein Gottloser mehr, den göttlichen Pöbel zu beleidigen.

Und hier? Hier erntet der Gottlose Applaus! Naja, jedenfalls wird er toleriert. Kein Mob, der ihn bändigt, der ihn im Namen des Herrn zur Vernunft bringt, ihn beschimpft und betitelt. Irland macht es ganz richtig. Wenn sich keine göttlichen Heerscharen der Frommen von alleine formieren, dann muß der Staat einschreiten, muß ein Gesetz erlassen, das den Gottlosen an Ketten nimmt. Gottverdammt, unser Herr vermag es nicht, sich selbst zu schützen, daher schicken wir den Staat an die Front. Der moderne Staat hat zur Aufgabe, Wehrlose zu beschützen - so wie er Mittellose, Alte, Kranke schützt. Schützen sollte - zumindest theoretisch! Und er muß Gott schützen, einen Gott, der wehr- und schutzlos, der mittellos, alt und krank geworden ist. Irland hat das begriffen, Irland ist ein moderner Staat, weil dort der Fürsorgepflicht an Hilflosen nachgekommen wird.

Von wegen Rückschritt ins Mittelalter! Im Mittelalter wurden Wehrlose getreten und geschändet, in modernen Zeiten schützt man sie - zumindest theoretisch. Irland ist modern! Modern ist, wer unserem Herrn in seiner Hilflosigkeit ein Gesetz in die Hand gibt! Sozialfälle brauchen keine liberale Mildtätigkeit, die heute gegeben und morgen unterlassen werden kann. Sie brauchen eine sichere Burg - der Herr kann nur eine sichere Burg sein, wenn er in einer sicheren Burg einsitzt. Wenn er weiß, der Staat nimmt sich seines Sozialfalles an. Irland stärkt Gott, gibt ihm ein Gesetz in die faltig gewordene Pranke, damit seine Kinder, die Gläubigen des Landes, nicht auf Mildtätigkeit der Gottlosen hoffen müssen. Darauf hoffen müssen, dass der Atheist hoffentlich schweigend seines Weges geht, ohne seinen Nihilismus missionarisch zu verbreiten. Ohne Gesetz bleibt nur die Hoffnung. Als Sozialfall mit einer Unmenge von Gesetzen und Gerichtsentscheidungen im Rücken, lebt es sich sicherer - zumindest theoretisch.

Wer nicht mehr arbeiten kann, wer erkrankt, wer unvermittelbar ist, wer zu betagt ist, den muß die Gesellschaft stützen. Die modernen Gesellschaften sorgen sich um jene, die hilflos geworden sind - zumindest theoretisch. Schon alleine deswegen ist Irlands Intervention zu begrüßen. Bevor der Greis zu Boden stürzt, verabschiedet man ein Sozialgesetz, das eine Gehhilfe zusichert. Gottlose sind grausam, weil sie dem Greis keinen besonderen Schutz zusprechen wollen. Gott braucht aber Schutz, er benötigt einen Stock - die moderne Gesellschaft ist es ihm schuldig...

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Unterdrückte Wucht

Freitag, 15. Januar 2010

Drunten mehren sich die Fressen, in die zu prügeln man geneigt ist. Ein Meer aus Visagen entsteht, eine weites, wogendes, mit Horizont ausstaffiertes Meer. Drunten schwimmt man hilflos in einem Meer aus Fressen, schwimmt zwischen allerlei Meeresgetier hindurch, zwischen seriösen Mienen ebenso wie zwischen boshaften Grimassen. Man treibt nicht gerne in diesen Fluten, man hofft auf Rettung, hofft endlos auf einen Kutter, der einen aus den Wogen fischt, aus dieser gigantischen Brühe voll Nasen, Mündern wie Augenpaaren, aus dieser Suppe von verschwitzten Köpfen. Friedfertigkeit, die entkrampfte Faust, so träumt man halbschlafend im Ozean hin- und herschwappend, wäre die erhoffte, die rettende, die idyllische Insel, das paradiesische Eiland schmalziger Novellen - endlich faustlos, endlich friedvoll, endlich frei vom blutbesudelten Handrücken.

Doch dann, immer noch paddelnd in jener Kloake, zwischen Mundgerüchen und Schweißperlen, zwischen dämlichen Blicken und lächerlichen Frisuren, zwischen großen wie kleinen Nasen und anliegenden wie abstehenden Ohren paddelnd, baut sich eine erneute Fresse auf, ein weiteres Antlitz, dass in Breiform ansehnlicher schiene, in die zu dreschen man schier gezwungen wird. Vielerlei Art kann eine solche Fresse sein - die stinkende und dampfende Fresse eines Arbeitgebers, die für wenig Geld viel Arbeitskraft fordert, die gängelt und drückt, die kürzt und bescheisst, die Löhne zurückhält und Kündigungen verteilt wie weiland Christus Seligpreisungen. Oder die faulige und selbstgerechte Fresse eines Arbeitsvermittlers, die bedrängt und presst, die das Existenzminimum in tiefere Minima minimiert, die Hungerlöhne an Hungerfürsorge knüpft, die aus einem gemachten Nest heraus Nester zerpflückt. Oder aber wahlweise die prahlerische Fresse eines Pedells, die für seinen Herrn hingehalten wird, die Geld erpresst und Vogelkarikaturen auf Zeug kleistert, die in die stickige Gosse marschiert, um den gesäumten Alleen den notwendigen Reichtum zu gewähren. Das Leben im Meer ist mannigfaltig, kaum zu katalogisieren und zu erfassen; das Leben im Meer ist eine unbegrenzte Ansammlung von Fressen, denen man die Faust hineinrammen möchte.

Drunten angekommen regiert die Faust, ganz metaphorisch, immer in der Jackentasche geballt. Man vermöbelt selten - viele schlagen gar nicht, aber die Option, diese brachiale Alternative, sie wird einem auferlegt. Drunten wirken Worte, andächtig vorgetragene Rechtfertigungen, durchschlagende Bekundungen nicht. Durchschlagend wäre nur der Fausthieb - wenn man ihn sich zutraute. Durchschlagend für einen kurzen Moment, eine Auflehnung gegen das Meer, gegen die Naturgewalt der triezenden Fressen. Durchschlagend, wie ein Schlag ins Wasser, für einen Augenblick Wassermassen durchpflügend, nur damit sie wieder zusammenfließen, sich zusammenfügen können. Zusammengeflossen reihen sich die Visagen aneinander, setzen den bis aufs Blut Gereizten nochmals zu, holen die Büttelfresse zum Dienst, die Richterfratze auf den Hochstuhl, lassen den durchschlagenden Fausthieb zum Sieg eines Pyrrhus verkommen. Drunten ist das, was enthobeneren Schichten das Damoklesschwert ist, die Faust; eine Faust, die stets und pausenlos vor den Gesichtern und Zerrmasken tänzelt.

Vorbildlich und zur Freude der Peiniger, der Quälgeister, der Ausbeuter stecken die Fäuste tief ins Futter der Tasche gegraben fest. Keine Gewalt!, rufen sie in die Täler hinab. Sprecht, argumentiert, kämpft mit Zunge und Lippen, lasst euren Kehlkopf zur Faust werden, aber hackt euch eure Fäuste ab, bleibt Lämmer, ihr Esel! Häufig bleibt man es - häufig, oh ja, viel zu häufig. Dann trottet man wie die Sau zum Bolzenschuss, nicht quiekend, nicht wimmernd, sondern geistesabwesend, mit der Faust ringend, mit der Frage kämpfend, ob denn nun eingewuchtete Gesichter sittsam wären, damit der nach unten Tretende bemerkt, dass im Kadaver der Gosse noch Atem ist, noch Kampfkraft. Lebensgeist! Dass er bemerkt, wie drunten noch eine letzte Neige Stolzes, ein kleines Fünkchen Selbstwert logiert. Doch die Faust steckt in der Tasche, festgemauert in der Weste. Einbetoniert ins Gehirn; einbetoniert, dass Gewalt sittenwidrig sei, weil sie gewaltig verletzt und gewaltig nach hinten losgeht und den Gewalttätigen gewaltsam überwältigt.

Drunten ahnt man, weiß man, spürt man, dass die Faust ein trauriger Lebenspartner ist, ein wenig geliebter Kamerad. Wie gerne würde man dem Ozean endgültig entsteigen, um nicht in jeder Fresse einen Sandsack vermuten zu müssen. Fressen, die selbst lächelnd, höflich, mit der zeitgemässen Maske des Dienstleistungslächelns verunziert, wie Sandsäcke wirken. Gedankenverloren wogt man im Wasser, im Meer aus Gesichtern, träumt sich in Zeiten, in denen Gesichter einem wieder zu Menschen werden. Phantasiert sich an Gestade, an denen Fressen Antlitze sind, wo Pedelle, Vermittler und Ausbeuter, überhaupt dieses ganze nach oben vermittelnde Gesocks, nicht mehr zum Futter für geballte Hände taugt. Wo Blut und ausgebrochene Zahnfragmente nicht mehr zur Befriedigung der eigenen Armseligkeit beitragen müssen.

Seid gewaltlos!, belehren sie hinab, seid gewaltlos, damit wir euch weiterhin Gewalt androhen können! Drunten vergräbt man die Hände in den Taschen und folgt der Herrenmoral, folgt ihr im Ruch der Vernunft, folgt auf die Schlachtbank. Drunten ist keine Fresse respekteinflössend. Respekt flösst nur die Faust ein, die oben eben nicht in die Tasche gesteckt wird, die nur umgetauft wurde - die dort Gesetz, Paragraph, Sanktion oder Haft oder sonstwie heißt. Taufte man drunten die Faust zur Gerechtigkeit und Befreiung, würde man sie Emanzipation und Autonomie nennen oder Selbstwert und Notwehr, sie würde einige Verständige mehr finden. Befürworter allerdings nicht, denn selbst drunten, im öligen Spülwasser, lassen sich keine Befürworter zur Faust finden. Sie sind nicht Befürworter, sie haben nur keine andere Wahl mehr. Sie würden gerne streicheln, liebkosen, fingern - doch drunten ist die Faust verkrampft, fast nicht mehr zu öffnen. Die Faust klammert sich ans Drunten - das Drunten gebiert die Faust.

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Keine politische Justiz?

Donnerstag, 14. Januar 2010

Ein Gastbeitrag von Frank Benedikt.

Von den Palmer Raids der Zwanziger Jahre bis zu den Fällen Peltier und Abu-Jamal durchzieht ein roter Faden die amerikanische Rechtsgeschichte – der der politischen Justiz.

Zwei mal drei Meter – das sind die Abmessungen der Zelle, in der der wohl bekannteste Todeskandidat der Welt seit 1995 eingekerkert ist. Seit 1982, als er wegen Polizistenmordes in einem fragwürdigen Verfahren zum Tode verurteilt wurde, hat der Journalist und Aktivist Mumia Abu-Jamal stets den Tod vor Augen. An seiner Schuld bestehen seit langem erhebliche Zweifel, dennoch droht ihm weiter die Hinrichtung. Das Todesurteil, das im März 2008 vorläufig aufgehoben wurde, wird in den kommenden Tagen vom Obersten Gerichtshof der USA entweder bestätigt oder in lebenslange Haft umgewandelt werden, ungeachtet weltweiter Initiativen, die seit langem eine Freilassung Abu-Jamals oder zumindest eine Wiederaufnahme des Verfahrens fordern. Dass es bei dem Verfahren gegen das ehemalige Black Panther- und MOVE-Mitglied zu eklatanten Verstössen gegen rechtsstaatliche Standards kam, heben auch internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch hervor. Gerade letztere Organisation betont auch nicht zuletzt die politische Komponente in diesem Fall, die bei der Urteilsbemessung eingeflossen sei. Ein „militanter“ Afroamerikaner – eine doppelte Herausforderung für das überwiegend weiße und konservative Justizsystem der USA, das auf emanzipatorische und „linke“ Bestrebungen schon früher mit staatlicher Härte reagiert hat.

„Red Scare“ und die Palmer-Raids

Schon mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg breitete sich in den Vereinigten Staaten Angst vor Fremden und Spionage aus. Ein erstes Resultat war die Verabschiedung des Espionage Acts im Juni 1917, der unter anderem dazu führte, dass der dreimalige Präsidentschaftskandidat der Sozialistischen Partei, Eugene V. Debs, verhaftet und zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Auch der bekannte Schriftsteller E. E. Cummings wurde wegen „Spionage“, die sich darin erschöpfte, dass er keinen Hass gegen die Deutschen zu empfinden vermochte, zu dreieinhalb Monaten in einem Militärlager verurteilt. Der Sedition Act, der 1918 als Zusatz dem Espionage Act hinzugefügt wurde, stellte auch generell Kritik an der Regierung unter Strafe und markierte den einstweiligen Höhepunkt in der legislativen Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten in den USA.

Mit dem Ausbruch der Russischen Revolution wuchs nicht allein in den europäischen Ländern die Furcht vor einem Übergreifen der revolutionären Dynamik: in den Vereinigten Staaten existierte eine vielfältige Arbeiterkultur, zusammengesetzt aus Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten aus aller Herren Länder. Die Anarchisten waren schon gelegentlich durch Attentate aufgefallen und Gewerkschaften wie die Wobblies (IWW – Industrial Workers of the World) waren nicht nur gut organisiert, sondern auch „internationalistisch“ eingestellt. Der offene Konflikt zwischen Arbeiterschaft und Kapital hatte bereits lange vor dem Krieg begonnen, denn schon im ausgehenden 19. Jahrhundert gab es blutige Auseinandersetzungen zwischen den Molly Maguires und den Kohlenbergwerksbetreibern Pennsylvanias. Andere massive Arbeitskämpfe sollten folgen und die gesellschaftlichen Verhältnisse waren bereits zu Beginn des Krieges angespannt.

Weitere große Streiks, staatliche Repression aufgrund der neuen Gesetze, und eine Serie von Bombenanschlägen, die den Galleanisten, einer anarchistischen Gruppierung zugeschrieben wurden, verschärften die Situation und der neue Generalstaatsanwalt, Alexander Mitchell Palmer, ließ – zusammen mit dem jungen J. Edgar Hoover – zwischen 1919 und 1920 die sogenannten „Palmer Raids“ durchführen. Bei Massenfestnahmen ohne offizielle Anklage wurden ca. 10.000 Personen landesweit festgenommen, unter ihnen auch die bekannten Anarchisten Alexander Berkman und Emma Goldman, die, zusammen mit rund 500 anderen „ausländischen Anarchisten und Kommunisten“, kurzerhand nach Russland abgeschoben wurden, welches sich zu dieser Zeit noch im Bürgerkrieg befand. Der Höhepunkt der ersten „Rotenfurcht“ sollte damit aber auch überschritten sein, da Palmer die Unterstützung der Bevölkerung einbüßte, nachdem sich seine Prognose, „die Roten“ würden für den 1. Mai 1920 eine Revolution in den USA planen, als völlig haltlos erwies. Bereits im Juni desselben Jahres beendete der Bundesrichter George W. Anderson die größte Massenverhaftung der US-Geschichte, aber zu diesem Zeitpunkt waren bereits viele Menschen grundlos inhaftiert oder gar deportiert worden.

Die Mörder sind unter uns

In der Zeit der „Palmer Raids“ und der ersten „Roten Angst“ ereignete sich auch der bekannte Fall der italienischstämmigen Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, der in Kunst und Literatur seinen Niederschlag gefunden hat. Die beiden Arbeiter, die sich dem Kriegsdienst verweigert bzw. entzogen hatten, hatten sich der Bewegung um Luigi Galleani angeschlossen und sollen im April 1920 bei einem Raub in South Braintree, Mass., zwei Menschen erschossen haben. Trotz zweifelhafter Zeugenaussagen und weltweiter Proteste wurden Sacco und Vanzetti 1927 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Ihre Schuld gilt bis heute als nicht erwiesen und anläßlich des 50. Jahrestages ihrer Hinrichtung hat sie der damalige Gouverneur von Massachusetts, Michael Dukakis, postum rehabilitiert.

Leonard Peltier – der letzte der Lakota?

Im selben Jahr, als Mike Dukakis Sacco und Vanzetti rehabilitierte, wurde Leonhard Peltier, ein Mitglied von AIM, des American Indian Movement zur Befreiung von der Unterdrückung durch die weiße Mehrheit, zu zweimal lebenslänglich verurteilt, da er für die Ermordung von zwei Bundesagenten des FBI verantwortlich sein soll. Bürgerkriegsähnliche Zustände in der Pine Ridge Reservation in South Dakota hatten ihn und andere AIM-Mitglieder dazu veranlaßt, das Reservat aufzusuchen, um ihren Stammesbrüdern beizustehen.

Der indigene Aktivist, der sich bereits in jungen Jahren für die Interessen der unterdrückten Ureinwohner einsetzte, dürfte inzwischen wohl der dauerhafteste „Politische“ in den USA sein: seit Dezember 1976 ist Peltier bereits inhaftiert, wiewohl auch hier die Indizien und Zeugenaussagen dürftig genug schienen, um ihm beispielsweise die Unterstützung von Amnesty International und seitens des Dalai Lama einzutragen. Nachdem 2009 ein Gnadengesuch von der Parole Commission abgelehnt wurde, besteht die nächste Möglichkeit für ein Gnadengesuch erst wieder 2024 – Leonhard Peltier wird dann 79 Jahre alt sein und seine Strafe läuft voraussichtlich noch bis 2040.

Zusammen mit Mumia Abu-Jamal gilt Leonhard Peltier heute als der bekannteste politische Gefangene in den USA und ist auch – gerade hinsichtlich der zweifelhaften Beweislage – das doppelte Sinnbild für einen unschuldig und politisch Verurteilten.

Keine politische Justiz?

Die Wertung kann nur der Leser vornehmen, wenn es auch danach „riecht“ und renommierte Menschenrechtsorganisationen dies unumwunden so bezeichnen. Ein System, welches Menschen – schuldig oder unschuldig – ohne die Möglichkeit zu einer Rehabilitation dauerhaft „wegsperrt“ oder gar tötet, kann nach mitteleuropäischen Maßstäben und Ansicht des Autors kein humanes und gerechtes sein. Zwischen „Rache“ und „Gerechtigkeit“ wird es stets einen normativen Unterschied geben.

Freiheit oder Tod?

Fast scheint es so, wenn man sich Mumia Abu-Jamals akute Lage vor Augen ruft. Die „Freiheit“ wird er wohl, dem Rechtssystem in den USA geschuldet, kaum erlangen können, aber Freiheit von ständiger Bedrohung mit dem Tod wäre schon sehr viel. Da tritt spätestens dann auch die Schuldfrage in den Hintergrund, denn dieser Mensch hat in über 28 Jahren „alle seine Sünden gebüßt“ – es wäre an der Zeit, ihn zu begnadigen!

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Sit venia verbo

Mittwoch, 13. Januar 2010

"Wer ein Optimist ist, soll verzweifeln. Ich bin ein Melancholiker, mir kann nicht viel passieren. Zum Selbstmord neige ich nicht, denn ich verspüre nichts von jenem Tatendrang, der andere nötigt, so lange mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, bis der Kopf nachgibt. Ich sehe zu und warte. Ich warte auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen. Aber ich warte darauf wie ein Ungläubiger auf Wunder."
- Erich Kästner, "Fabian - Die Geschichte eines Moralisten" -

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Des Zweifels beraubt

Dienstag, 12. Januar 2010

Erfreulicherweise haben wir Gutachter und Experten. Leute, die es annähernd wissenschaftlich zu bewerten und zu klassifizieren verstehen. Die uns die Welt erklären und die Dinge in der Welt fundamentieren können. Oh menschlicher Verstand, was wärst du nur ohne Gutachter?

Und so hat uns jene Gilde herausgearbeitet, dass Thilo Sarrazin, der eitle Geck aus Bänkerkreisen und Sprachrohr der neuen deutschen Mitte von rechts, rassistische Äußerungen von sich gab. Welch Erleuchtung! Vormals bedrückte die Kritiker und Erbosten, die mit diesen Äußerungen auf Kriegsfuß standen, eine Gestimmtheit zwischen vagem Vermuten und unscharfer Ahnung. Beinahe bekam man als Kritiker ein schlechtes Gewissen, weil man den biederen Herrn angriff, ohne vorher eine gutachterliche Studie eingeholt zu haben. Was, so zweifelte man an sich, wenn die Aussagen Sarrazins nur subjektiv rassistisch sind? Was, wenn sich nur mein halbspanisches, mein türkisches, mein schwarzhäutiges Ehrgefühl beleidigt fühlt, obgleich seine Aussagen objektiv betrachtet womöglich unantastbar wären?

Der Beleidigte äußerte sich zwar, manchmal sachlich und rechtschaffen, manchmal rotzfrech und kokett, betrachte daraufhin den Zulauf des Rattenfängers, Umfragewerte und den aufmarschierenden wissenschaftlichen Flankenschutz, und verfiel nach und nach in tiefste Zweifel. War es am Ende doch nur die immer dünner werdende Haut, die man sich in einer Gesellschaft, in der man sich zeit seines Lebens unzugehörig fühlte, die einen überreagieren ließ? Hat man überreagiert, überspitzt, überzeichnet, kurz gesagt, hat man selbst übertrieben? Ist man der eigenen emotionalisierten Gestimmtheit erlegen?

Nach der Kritik verlor man den Boden, zweifelte an sich und seinen hehren Werten. Möglicherweise, haderte man, seien diese Werte romantisches Geplänkel; möglicherweise, verzweifelte man, habe die ausgezerrte Biedermanngestalt eine Wahrheit ausgesprochen, die zu erkennen man nicht klug genug sei; möglicherweise, trauerte man, müsse man die Demütigungen an Schmarotzern und Moslems wie dich und mich stillschweigend ertragen lernen. Die dünne Haut, redete man sich schwankend zwischen den Positionen ein, habe überhitzt reagieren lassen; man sei geschädigt, weil man selbst nie dazugehörte, weil man immer am Rande stand, so wie Türken und Araber, diese angeblich so nutzlosen Bevölkerungsgruppen. Nachdem man gegen die Mauer sarrazinischer Befürworter geprallt war, den Wust an Beteuerungen und weiteren Ausfeilungen seiner Thesen über sich ergehen lassen mußte, zum Romantiker und multikulturellen Abendlandsfeind, zur Gestalt voller Groll gegenüber den Westen erklärt wurde, fiel der Vorhang, befiel einen der grenzenlose Zweifel.

Sie oder ich?, rätselte man. Romantiker oder Humanist?, befragte man sich. Wie herrlich, dass es Gutachter gibt, die einem auf die Sprünge helfen, die jeden Zweifel von damals beseitigen, die den Rassisten als Rassisten entblößen. Der Verstand alleine, der mit humanistischen Idealen geschliffen wurde, reicht in diesen Zeiten, in Zeiten hemmungsloser Wildheit und in Zeiten der Massenmobilisierung der Stammtische nicht mehr aus. Wer sich alleine auf seinen Verstand verlässt, auf den Edelmut seines Denkens, auf Ideale wie Gleichheit oder Freiheit, der zerreißt sich an den scharfkantigen Bruchstellen dieser Gegenwart, der zerschellt an den Mauern der Dummheit, ertrinkt in den Fluten gewaltgierigen Geifers, zerbricht in den Abgründen massentauglicher Verruchtheit.

Welches Glück, dass es Gutachter gibt, die denen den Boden unter den Füßen befestigen, die zwischen Ideal und Wirklichkeit schwankten, die sich selbst als krankhaft idealistisch, als psychisch labil entlarvt meinten. Welches Glück, dass es Gutachter gibt, die den Parteikollegen des Sarrazin nun attestieren, dass sie fahrlässig geschwiegen haben, dass sie einen Rassisten in ihren Reihen duldeten und gelegentlich beglückwünschten für seinen Heldenmut - ihr menschlicher Verstand hat sie damals im Stich gelassen, war blind und taub. Oh, menschlicher Verstand, wo bist du nur ohne Gutachter? Doch warum sich grämen? Für was gibt es denn Gutachter, die sehend und hörend machen? Und welches Glück, dass die Sozialdemokraten einen Gutachter gewählt haben, der nicht in Seeheim kreist.

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Buchempfehlung

Montag, 11. Januar 2010

Eine Empfehlung von Margitta Lamers.

"Unzugehörig - Skizzen, Polemiken und Grotesken" von Roberto J. De Lapuente


Gesellschaftskritische Bücher gibt es viele, De Lapuentes Buch ist ganz anders. Quer durch alle Schichten der Gesellschaft legt er den Finger in die Wunde und demaskiert die bürgerliche Spießigkeit. Mal makaber, mal provokativ schreibt er sich die Wut von der Seele, ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten des Lesers zu nehmen. Konsequent vermeidet er, Ratschläge zu geben, wie es besser zu machen wäre. Der Leser bekommt für sein Geld ein Buch mit Texten wider den Stumpfsinn und geistiges Mittelmaß, wortgewaltig und für jeden verständlich geschrieben. Diesem Buch ist daher größtmögliche Verbreitung zu wünschen und es sollte zur moralischen Notfallausrüstung in jedem Haushalt gehören.

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Die alimentierte Ministerin

Die sozialen Gewissen erblühen, gedeihen mitmenschlich und fürsorglich, die Barmherzigkeit trägt sattes Grün. Nach Rüttgers, der mit ausgekochter Raffinesse den verständnisvollen Reformer figurierte, schien es nur eine Frage von Stunden, dass ein weiteres personifiziertes Sozialgewissen zum durchtriebenen Wort schreitet, um den besonnenen Reformer zu verkörpern, der jedoch genau beleuchtet mehr einem Scharfmacher gleicht. Auf Rüttgers' Leistung muß sich lohnen, dessen durfte man sicher sein, würden weitere reformerische Umtriebe feilgeboten. Und siehe da, schon äußert sich die amtierende Herrin der desaströsen Armenverwaltung, preist ihren Reformgeist an und, wie es bewährte Tradition in diesem Lande ist, geißelt den untätigen Müßiggänger.

Es sei nicht akzeptabel, wenn jemand ohne nachvollziehbaren Grund nicht oder nur wenige Stunden arbeitet, erklärt von der Leyen. Wir werden es nicht akzeptieren..., ist ihr genauer Wortlaut. Wer Wir sein soll, bleibt unkenntlich - vermutlich die Lobbyisten, die rund um ihr Ministerium kampieren. Dies in Zeiten, in denen weitere Arbeitsplätze im Sterben liegen, weitere Menschen in Arbeitslosigkeit geraten werden! In solchen Zeiten hat diese Frau und die gesamte Clique, die sich derzeit als reformerisches Sozialgewissen aufführt, nichts anderes zu verkünden, als Drohgebärden und existenzielles Kurzhalten. So, als gäbe es eine endlose Auswahl an Arbeitsplätzen, die von Faulpelzrotten partout nicht in Anspruch genommen würden. Arbeitslosigkeit wächst an, das Aufstocken mit Arbeitslosengeld II ist zum Renner geworden und wird wahrscheinlich erst noch Hochsaison haben - und von der Leyen stellt sich provokativ hin und baut schon mal vor, stachelt die Kommunen zur strengeren Sanktionsmentalität an und tut so, als sei Arbeitslosigkeit eine Sache freier Wahl: eine freie Wahl zwischen Sofa und Werkbank, eine Wahl zwischen Faulheit und Fleiß.

Dabei inszeniert sich diese Clique scheinbar einsichtsvoller und scharfsinniger Reformer als Rächer. Rächer, die dem Fördern und Fordern auf die Sprünge helfen wollen, nachdem nun jahrelang ausreichend gefördert wurde - nun sei es an der Zeit, auch Leistung zu verlangen, zu fordern, endlich die Unzahl Taugenichtse zu mobilisieren. Nun soll gerächt werden, dass man seit Ewigkeiten nur förderte, nun rächt man das zu kurz gekommene Fordern. Besonders makaber gerät die Inszenierung, wenn von der Leyen auftritt und so tut, als sei das Prinzip des Förderns ausgeschöpft. Dies aus dem Mund einer Person, die monatlich mit etwas mehr als 1.400 Euro Kindergeld gefördert wird - zusätzlich zum Gehalt ihres Gatten, Arzt und Hochschullehrer, und zusätzlich zu ihrem Salär. 1.400 Euro - das entspricht in etwa dem ALG II-Anspruch einer vierköpfigen Bedarfsgemeinschaft. Während Bedarfsgemeinschaften jeden Cent ausbreiten, sich das Kindergeld als Einkommen anrechnen lassen müssen, wird dort oben, wo die Luft anscheinend so dünn ist, dass sie zu hoher Denkleistung nicht mehr befähigt, das Kindergeld ohne Auflagen ausbezahlt - ob es notwendig ist oder nicht.

Die monatlich geförderte Ministerin, gänzlich frei von Schamgefühl, stellt sich allen Ernstes vor die Erwerbslosen und erklärt, dass nun das Fordern an der Reihe sei, während sie das Fördern totschweigt oder, schlimmer noch, als ausreichend erachtet. Es ist, als rate sie Sanktionswut an, damit ihre und ihrer Kollegen Alimentierung gesichert ist. Die alimentierte Ministerin tritt auf, ein gefördertes Zubrot in der Tasche, mit dem eine vierköpfige Bedarfsgemeinschaft einen Monat auskommen müßte, und fordert dreist Sanktionen an denen, die sowieso nichts haben. Und sie, die gutbetucht ist, die einem Haushalt angehört, der zweifaches Gehalt auf jeweils hohem Niveau kennt, schiebt sich guten Gewissens jene Gelder ein, die anderen Kindern, Kindern aus Hartz IV-Familien, Monat für Monat fehlen. Wo sind die Menschenmassen, die solche Pfeffersäcke nicht mehr fördern wollen, sondern von ihnen etwas fordern? Die fordern, dass man nicht nur mütterliches Mitfühlen mit Hartz IV-Kindern zum Programm macht, sondern selbst verzichtet, selbst das Gehalt anrechnen läßt, damit denjenigen mehr bleibt, die im Überfluss Mangel haben?

An Personen wie von der Leyen, läßt sich der gesamte moralische Verfall dieser Republik ablesen. Wenn geförderte Reiche sich über das Fördern der Habenichtse aufregen, dann gibt es kein Fundament mehr, auf das man einen moralischen Neuaufbau setzen könnte - wenn er denn politisch geplant wäre! 1.400 Euro pro Familie ist der Ruin des Sozialstaats, lehrt man die Leser und Zuschauer in diesem Lande - aber 1.400 Euro Kindergeld für Familien, die durch zwei Spitzenlöhne ausreichend versorgt sind, gelten als Investition für die Zukunft.

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