Aus meinem Reisetagebuch

Dienstag, 30. August 2011

Am Platz, der seinen Namen trägt, lauert er zu Füßen jener Wolkenkratzer, die heute Deutschland repräsentieren. Der Dichterfürst, einst Aushängeschild eines Landstrichs - einen Staat gab es damals noch nicht -, der sich als Hort der Dichter und Denker verstand, er kauert vor denen, die heute als Aushängeschild wirken. Sie dichten auch wie jener, wenn sie handliche Slogans für Werbespots entwerfen - und sie denken auch: vornehmlich an Profit. Frankfurt symbolisiert, wie keine andere Stadt in diesem Lande, die Veränderung, die wir in den letzten zweihundert Jahren erlebten. Da besucht man als Tourist die Paulskirche, die so was wie das erste demokratische Aufbegehren abbildet - und im Hintergrund bewundert man Hochhäuser berstend voll Bankster, die auf Demokratie bestenfalls mit Skepsis reagieren. Der Geheimrat, der als Sprachgenius und Paradeexemplar deutscher Kultur, als Kind seiner Stadt, einen Platz und eine Statue gewidmet bekam, wird erdrückt von der monumentalen Bildgewalt, mit der sich pekuniäre Genies und Paradebeispiele kapitalistischer Kultur in die Szenerie rücken. Skyline nennen sie das dann in Frankfurt.

Dem Wahren Schönen Guten. Nirgends sonst in Frankfurt dürfte der eklatante Zwiespalt zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen hehren Motiven und aktueller Realpolitik so drastisch ins Auge stechen. An der Alten Oper prangt Dem Wahren Schönen Guten - der platonische Dreiklang als Stachel in der Lende einer gänzlich unphilosophischen Weltanschauung. Dahinter den Turm der UBS, einer Schweizer Bank. Ob sie dem Wahren, dem Schönen und dem Guten verpflichtet ist? Dem Wahren sicher nicht, denn der eigenen Geschichte, als Geldwäscher der Nationalsozialisten, als Aneigner gestohlenen jüdischen Eigentums, will man sich nicht stellen. Dahinter dürfte nichts Gutes stecken, wenngleich man dem Schönen sicherlich gerne nachkommt. Man will sich von seinem Reichtum doch was Schönes leisten - das ist nur menschlich.

Wo Goethe ist, da ist auch sein Freund (und Neider?) nicht weit. Der große Sohn der Stadt besitzt einen eigenen Platz - dessen Kumpan weilt indes in der Taunusanlage, vis-à-vis der Europäischen Zentralbank, etwa fünfhundert Meter Luftlinie zum Verfasser des leidenden Werthers - heute litte er, die Leiden des ollen Goethe, wenn er die Sprache der Bankheinis und Werbefritzen, der Versicherungstanten und Ratingonkels lesen müsste. Der humanistische Dramatiker Schiller, mittendrin zwischen EZB und Deutscher Bank. In einer Parkanlage, in der Bank- und Versicherungsangestellte speisen, flanieren und, wenn man genau hinhört, dabei das Geschäftliche zum Mittagsplausch erheben: in diesem Milieu gedenkt man Schillers. Die Geister, die einst das kulturelle Deutschland repräsentierten, sind zu Gespenstern gemindert. Zu längst gespenstischen Stimmen aus einem vergangenen Irgendwo, deren Denkweise, deren Kunstbeflissenheit, deren vergeistigtes Lebensprinzip in dieser modernen Welt aus Banken und Profiten keinen Platz mehr findet. Der Stolz auf den Fürsten deutscher Kultur, der Stolz als Wiege deutscher Demokratie, das sind zwei ausgehöhlte Mechanismen, denen man nicht inbrünstig nachgeht, sondern quasi ritualisiert. Was kümmert das heutige Frankfurt das Edel sei der Mensch, hilfreich und gut dieses berühmten Sohnes der Stadt? Was interessiert die Angestellten hierarchisch organisierter Konzerne, in denen Mitbestimmung und Transparenz als demokratische Teufeleien gelten, denn das Museum in der Paulskirche? Das ist nur sentimentales Brimborium, etwas, das gut ist für die PR der Stadt, nicht aber wertvoll für die Konzerne, die sich in dieser Stadt unter dem Label Dienstleister ausgebreitet haben, für die sie arbeiten.

Frankfurt, so wie es sich gestaltet, zwischen Damals und Heute, zwischen kulturellem Nachruf und kulturzersetzender Ökonomie, zwischen Weimarer Klassik und Bankenviertels Klassismus, zwischen antiquierten schönen Künsten und aktuellen hässlichen Hochhausbrünsten... dieses Frankfurt, es scheint das Vergangene architektonisch zu verspotten. Wer Dem Wahren Schönen Guten neben Wolkenkratzer von denen, die, orwellianisch gesprochen, dem Unwahren Unschönen Unguten nachgehen (treffender wäre: dem Verlogenen Hässlichen Schlechten), erblickt, der braucht schon viel Humor...



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Kinder falscher Leute

Freitag, 26. August 2011

Das Elterngeld ist eine gescheiterte Zuchtprämie. Es hat dieser Gesellschaft nicht mehr Kinder aus vermögenden Lenden gepresst. Deswegen wollen es manche Politiker auf den Prüfstand heben. Nur deswegen natürlich. Dass es chronisch ungerecht ist, weil es das Kind armer Eltern schlechterstellt, als das Kind vermögender Eltern, kümmert nach wie vor niemanden. Für ein Kind aus der Unterschicht sind 300 Euro im Monat zu viel - für eines aus der Oberschicht sind 1.800 monatliche Euro (was der Höchstsatz ist) noch zu wenig. Für ein prekäres Kind sind 300 Euro derart viel, dass man gar dazu überging, es beim Bezug von Arbeitslosengeld II anzurechnen. Gnädig, dass man den Höchstsatz, als Ausgleich quasi, nicht nach oben geschraubt hat, um akademische Kinder zu fördern, genauer: auf die Welt zu befördern. Bessergestellte nicht noch besser zu stellen, während man Schlechtergestellte kaltstellt: das sind heutzutage schon beträchtliche Anzeichen sozialen Gewissens...

Glück, wer da noch eine Großmama hat, die gelegentlich einige Groschen beisteuern kann. Eine Gesellschaft, die nur noch ungerne Sozialstaat ist, benötigt familiäre Bande, die abfedern, was der Sozialstaat nicht mehr zu leisten bereit ist. Nun kappt das Landessozialgericht Chemnitz auch diese Säule der Unterversorgung und erlaubt es den Behörden amtlich, finanzielle Zuwendungen, die eine Großmutter ihren Enkeln angedeihen läßt, anzurechnen. Denn dies sei erzieltes Einkommen, argumentiert man unter Sozialrichtern. Arme Kinder, die ja immer auch arme Eltern im Gepäck haben, dürfen nicht zu große Unkosten aufwerfen - und spendable Großmütter dürfen sie auch nicht mehr haben. Man muß der Armut schließlich zeigen, was man von ihr hält - man muß ihr klarmachen, dass man sich in der Armut so einrichten muß, dass das normale Alltagsleben ein durchgehend unzureichender Zustand ist. Armut hat ärmlich zu sein - ohne Ausnahme, ohne Omas mit finanziellen Polster. Wenn man zwischen Armut und Reichtum ein unüberwindbares Loch gräbt, so glauben die Zucht- und Fertilitätsgelehrten nämlich, dann bekommen auch die richtigen Leute Nachwuchs. Demographie als eugenische Lehre...

Nun könnte man zum großen Entwarnungs-Halali blasen. Die Kinder dürfen das Geld ja nun doch behalten, die Behörde zeigte sich gnädig. Auch eine Säule dieses Sozialstaates, den man nicht sehr liebt: man ersetzt Rechtssicherheit und Fairness durch Kulanz, die man hin und wieder walten läßt. Nicht weil man das für richtig oder gar gerecht erachtet, sondern weil es bessere PR abwirft, wenn im Sozialstaat manchmal auch der Mensch zählt. Nicht immer, das geht freilich nicht - aber manchmal sollte es doch klappen. So sieht es auch nicht danach aus, als würde sich diese Elite des Sozialstaates entledigen, als würde sie nur bestimmten Kindern von bestimmten Eltern in bestimmten sozialen Höhenlagen unter die Arme greifen. Die amtliche Gnade ist ein nützliches Feigenblatt, um die haltlosen Zustände, die ins SGB II notiert sind, zu bedecken.

Kinder falscher Leute haben immer schon am eigenen Leib erfahren, was sie sind. In der Schule, im Sportverein und wo immer man auch auf Vorurteile stoßen konnte. Der Sozialstaat sollte hier ansetzen, er sollte Vorurteile erschweren, weil er denen, die unter gesellschaftlicher Ausgrenzung leiden, hilfreich zur Seite steht. Nun leben wir aber in einem Sozialstaat, der in seinen Regeln und Gesetzen, keine Hilfestellung sein will, sondern ein Instrument der Vorurteilsverschärfung. Er wurde in seiner eigentlichen Funktion pervertiert und soll nicht Gleichheit erzielen, sondern falsche Leute davor bewahren, Kinder in die Welt zu bringen. Und falls sie es doch tun, so bestraft man sie. Dann gibt es weniger hier, weniger dort und immer wieder Ungleichbehandlung mit solchen Kindern, deren Eltern die richtigen Leute in Augen der Zuchtmeister sind. Der Sozialstaat, so hat man oben erkannt, kann sinnstiftend verwertet werden, wenn er nicht absichert, sondern verunsichert.



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Nomen non est omen

Donnerstag, 25. August 2011

Heute: "Zumutbarkeit"
"Es gibt tatsächlich keine Untergrenze bei der Zumutbarkeit."
- DGB-Sprecherin Falk in der taz vom 18. Dezember 2004 -
Das SGB II ist die Bibel von ALG II-Sachbearbeitern. In ihr wird z.B. auch festgehalten, welche Lohnarbeit dem Erwerbslosen als zumutbar gilt und welche nicht. Die Zumutbarkeit unterliegt demnach nicht mehr der eigenen Einschätzung und Beurteilung, sondern dem Sachbearbeiter bzw. dem Gesetzgeber. In Kapitel 2 "Anspruchsvorraussetzungen", § 10, wird die Zumutbarkeit definiert.

Artikel 12 "Berufsfreiheit, Verbot der Zwangsarbeit" des Grundgesetzes besagt:
"(1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.
(2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.
(3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig."
Die Zumutbarkeitskriterien des SGB II widersprechen dem Grundgesetz, auch wenn sich Befürworter auf Absatz 1 des Artikel 12 beziehen würden: Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden. Damit lässt sich der Gesetzgeber quasi immer ein Hintertürchen, wie im Falle des SGB II, offen. Absatz 2 und 3 hingegen laufen konträr zu den Zumutbarkeitskriterien im SGB II:
"(2) Eine Arbeit ist nicht allein deshalb unzumutbar, weil
1. sie nicht einer früheren beruflichen Tätigkeit entspricht, für die die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person ausgebildet ist oder die früher ausgeübt wurde,
2. sie im Hinblick auf die Ausbildung der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person als geringerwertig anzusehen ist,
3. der Beschäftigungsort vom Wohnort der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person weiter entfernt ist als ein früherer Beschäftigungs– oder Ausbildungsort,
4. die Arbeitsbedingungen ungünstiger sind als bei den bisherigen Beschäftigungen der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person,
5. sie mit der Beendigung einer Erwerbstätigkeit verbunden ist, es sei denn, es liegen begründete Anhaltspunkte vor, dass durch die bisherige Tätigkeit künftig die Hilfebedürftigkeit beendet werden kann."
Die freie Berufswahl wird durch die Zumutbarkeitskriterien stark eingeschränkt. Ebenso bedeuten Ein-Euro-Jobs für die Betroffenen faktisch eine Zwangsarbeit, denn wer sie ablehnt, muss mit Sanktionen und Geldkürzungen rechnen. Der Begriff Zumutbarkeit ist hier ein Euphemismus für Zwang, Druck und Erpressung. Der Erwerbslose wird zu einer stets verfügbaren, entmündigten, umherschiebenden Masse erklärt. Das SGB II ist in vielerlei Hinsicht verfassungswidrig. Die Zumutbarkeitskriterien des SGB II sind aus dem Geiste geboren, den Niedriglohnsektor und das Lohndumping in Deutschland zu etablieren.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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In eigener Sache

Freitag, 19. August 2011

oder: ich bin dann mal weg.

Die letzten Monate waren nicht einfach. Familiäre Verwerfungen! In steter Anspannung harrend, dass endlich Entspannung an die Tagesordnung tritt... aber egal, nicht zu viel aus dem Nähkästchen an dieser Stelle. Es waren also, kurz gesagt, schwierige Tage, die ich verlebte. Dazu der Zweifel, der wöchentlich zu Gast ist, für was man eigentlich jeden Tag schreibt, formuliert, die Wände hochgeht.

Der letzte Zweifel geriet schnell in Vergessenheit, wenn wir schon davon sprechen... das heißt, wenn ich davon spreche und Sie mir schon zuhörend ausgeliefert sind... also, letztens rufe ich das Service-Center eines großen deutschen Unternehmens an, ich brauchte etwas, was ist egal, und buchstabiere da meinen Namen. Doraemil, Platz lassen, Ludwigantonpaula... Haben Sie einen Blog, fragte die Stimme des vorzüglich netten Mannes. Ja, sagte ich, vorzüglich überrascht. Ad sinistram? Ja, antwortete ich. Er lese mich täglich und er schätze es sehr, was ich da tue.
Schreibt man, formuliert man, geht man Wände hoch, um solche Erlebnisse zu haben? Ich tue es in erster Linie, weil ich muß, weil ich befürchte, dass es mich sonst innerlich zerreißt, weil mich die Empörung fest im Griff hat - aber wer von uns ohne Eitelkeiten ist, der werfe zuerst seinen Spiegel ein, in dem er sich narzisstisch bewundert. Natürlich sind das trotzdem Augenblicke, die aufbauen, die Mut zusprechen, die verdammt erfreuen.

Ich ufere aus, ich wollte nur sagen, dass die letzten Monate nicht sehr besinnlich waren und ich daher erstmal ein wenig urlaube. Heißt: ich werde in den nächsten zwei, drei Wochen kürzertreten. Ab und an schreibe ich was, damit es mich nicht zerreißt - aber ich weigere mich, regelmäßig zu sein, in der nächsten Zeit. Und geht die Welt in diesen Tagen auch ihrem Ende entgegen, ich schreibe nur darüber, wenn ich dazu aufgelegt bin, keine Verpflichtung, kein Muss. Die Welt braucht keinen Kommentar von meiner Seite, wenn sie sich dazu entschließt, den Freitod zu wählen.

Was mir aber an dieser Stelle aber Muss ist, ist der Dank an all jene, die mich, die ad sinistram regelmäßig unterstützen. Ich nenne keine Namen, was ich gerne wollte. Aber Datenschutz und so. Also vielen herzlichen Dank an die anonymen Unterstützer, die für mich nicht namenlos sind!

In diesem Sinne nicht wundern, ad sinistram ruht nur kurz. Ich ziehe mich nicht langsam aber sicher zurück, ich tanke nur langsam aber sicher etwas Entspannung - und das fern der Heimat, aber nicht zu fern vom Laptop. Ein bisschen auf die faule Haut leg ich mich, mehr nicht. Bin jedoch bald zurück, und ich hoffe, Sie sind es auch...

Lieber Leser, wenn Sie mögen, so dürfen Sie ad sinistram unterstützen. Entweder per Paypal (siehe rechte Seitenleiste) oder über den gewöhnlichen Bankweg. Hierzu ließe ich den Datenschutz ruhen und teilte Ihnen gerne meine Kontodaten mit.



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Kann denn Liebe Sünde sein...

Donnerstag, 18. August 2011

Christian von Boetticher war nie der Rede wert. Jetzt ist er es, sollte es aber eigentlich nicht sein. Folgende Zeilen könnten als Verteidigungsschrift für ihn gelesen werden - sie sind es aber nicht. Was verteidigt wird sind all jene, die unter dem falschen Gebrauch des Moralbegriffes leiden. Boetticher ist nur die weinerliche Charaktermaske, die mehr oder minder zufällig in den Tumult seiner Partei und bestimmter Presseorgane stolperte. Als politische Erscheinung ist er niemand, der Verteidigung verdient hätte, denn wer unkritisch in der Gefolgschaft der Christdemokraten mitmarschiert, wer Alter Herr einer pflichtschlagenden Studentenverbindung ist, wer Sinti und Roma in Anbetracht deutscher Geschichte nicht als schützenswerte Minderheit wahrnimmt und wer als Doktor den Rücktritt eines akademischen Schwindlers bedauert, den kann man nur schwerlich verteidigen wollen. Seine politischen Anschauungen sollten von Sittenwächtern beobachtet werden, nicht aber sein Privatleben. Dieses gehört, weil das Privatleben aller unantastbar sein sollte, verteidigt.

... darf es niemand wissen, wenn man sich küsst...

Boetticher hat nicht strafrelevant gehandelt. Der einvernehmliche Beischlaf mit einer Sechzehnjährigen ist nicht strafbar - ferner war sie ihm auch keine Schutzbefohlene. Hätten es einer von beiden nicht gewollt, dann gäbe es einen Straftatbestand. Das Mädchen äußerte sich aber mit keinem Wort, dass es gezwungen worden wäre. Ganz im Gegenteil. Moralisch antastbar wäre diese Handlung aber auch, wenn das Mädchen mit anderen Mitteln als unmittelbarer Gewalt zum Sex gezwungen worden wäre, wenn also nicht ihre Reife, ihre sexuelle Mündigkeit sie zu diesem Schritt mit einem älteren Mann, sondern beispielsweise gebotenes Geld oder falsche Versprechungen sie dazu ermutigt hätten. Von dergleichen ist jedoch auch nicht die Rede gewesen bislang.

Nichts, was da zwischen Boetticher und dem Mädchen geschah, ist von öffentlichen Interesse. Juristisch gesehen trafen sich da zwei sexuell mündige Menschen, die nicht nur sexuelle Handlungen teilten, sondern, wie beide bejahten, Liebe füreinander empfanden. Es war keine Affäre, wie kolportiert wird, beide waren in Liebe oder was sie dafür hielten. Gut, werden manche einwenden, ein so junges Ding weiß doch gar nicht, was Liebe bedeute - kann sein, kann nicht sein. Wer will das bewerten? Ein Staatsanwalt, der die Liebesgesinnung erschnüffeln soll etwa? Ein Psychiater, der Liebesfähigkeit im öffentlichen Auftrag diagnostizieren darf? Wenn heute jemand von Liebe spricht, dann müssen wir sie ihm abnehmen, aus Mangel an Gegenbeweisen - so funktioniert letztlich rechtsstaatliches Denken. Darf es niemand wissen, wenn man sich küsst? Im Falle Boettichers hätte es niemand wissen brauchen, denn es ist mitnichten Aufgabe der Öffentlichkeit, Liebes- oder Sexualverhältnisse zum Gesprächsstoff zu machen, die zudem in keinerlei Weise gegen geltendes Recht verstoßen haben.

... niemals werde ich bereuen, was ich tat, und was aus Liebe geschah, das müsst ihr mir schon verzeihen...

Gekonnt übergehen dabei die selbsterklärten Sittenwächter, dass beide Seiten, auch das Mädchen selbst, nichts bereuen. Das Mädchen ist dennoch Opfer, gleichwohl sie es so nicht empfindet. Boetticher selbst wird nun dazu gedrängt, Reue zu zeigen - das gehöre sich nämlich. Beide sprachen von Liebe und tatsächlich kannten sich beide schon über Monate, bevor es zum ersten Treffen kam. Wer schnell ein junges Mädchen deflorieren möchte, der buhlt um diese Gunst nicht monatelang, der könnte schneller ans Ziel gelangen - ein "gemachter Mann" wie Boetticher sowieso. Er soll nun bereuen, er soll bereuen, dass sich ein Liebesgefühl für jemanden entwickelte, den die Öffentlichkeit für zu jung erachtet. Wohlgemerkt nicht für juristisch zu jung, sondern aus einem vagen sittlichen Bauchgefühl heraus. Die politische Korrektheit unserer Gesellschaft greift somit auf die stalinistische Kampagne der öffentlichen Selbstanklage und Selbstkasteiung zurück, bei dem man Fehler öffentlich zugeben soll, von denen man nicht überzeugt ist, sie gemacht zu haben.

Er muß sich also tatsächlich für seine Liebe entschuldigen. Das ist mittelalterlich, das ist die Moral früherer Tage. Für die Liebe, so wissen wir, die wir alle liebten oder lieben, gibt es keine Barrieren. Stellt sich Liebe ein, so verschwinden alle Schranken im Gefühlsstrudel. Räumliche Entfernung, körperliche Behinderungen oder Altersunterschiede spielen keine Rolle mehr - die Liebe ist zuweilen ein großer Gleichmacher, läßt die Liebenden auf einer Stufe stehen. Für diesen Mann, der dreiundzwanzig Jahre älter war, als seine sechzehnjährige Freundin, war dieser Unterschied kein Hemmnis. Die Logik der Liebe ist, dass es keine logischen Schlüsse gibt. Wer liebt, der fragt nicht nach Barrieren, der überwindet sie. Der fragt auch nicht, ob diese Liebe ein Fallstrick für eine politische Karriere sein kann. Nur das Umfeld möchte diese Schrankenlosigkeit nicht akzeptieren, auch dann nicht, wenn diese Barrieren nur von moralindurchtränkter, nicht aber von strafrelevanter Art sind.

... jeder kleine Spießer macht das Leben mir zur Qual, denn er spricht nur immer von Moral...

Tatsächlich hat Boetticher die Macht der Liebe überschätzt. Die kleinen Spießer, die innerhalb seiner Partei wüten, verstehen das Hals über Kopf der Liebe nicht. Boetticher, der das Klima in seiner Partei mitgestaltet, trägt damit natürlich auch Schuld. Seine politische Auffassung erschafft erst diese Spießigkeit. Die Christdemokraten sind nie über das Sittlichkeitsgefühl der Adenauerzeit hinausgekommen, damals, als Sitte und Moral noch Begriffe waren, über die man angestrengt nachdachte, während man sich in aller Heimlichkeit auf dem Weg ins Puff machte. Das berühmte Presseorgan, das gerne an der Seite christdemokratischer Gesinnung springt, entstammt aus demselben Milieu, auch wenn es täglich wippende Brüste feilbietet. Nackte Mädchen ab achtzehn Jahren sind politisch korrekt, wenn man deren abgelichteten Körper nutzt, um effektiver zu onanieren - ein sechzehnjähriges Mädchen, das man liebt, das ist politisch nicht korrekt, das darf man nicht dulden.

Sie führen ethische Betrachtungsweisen im Munde, meinen dabei aber nur ihren spießigen Mikrokosmos, in dem es von schiefen Sichtweisen und kruden Thesen nur so wimmelt. Und sie reagieren im aktuellen Falle auch so kopflos, weil sie der öffentlichen Empörung zuvorkommen wollen - denn sie wissen auch, die Öffentlichkeit prüft nicht kritisch, prüft nicht, ob diese Liebe zweier ungleicher Menschen, von öffentlichen Interesse ist, sie reagiert emotionalisiert und will Konsequenzen sehen. Die Öffentlichkeit mit ihrer Stammtischmoral macht sich zum Richter, wo gar kein Richter vorgesehen ist. Diese Stammtischmoral, die nicht reflektiert entsteht, sondern durch Emotion, Überspanntheit und Aufregung, ist freilich auch die Leistung dieser frömmelnden Partei - sie hat kein Interesse an denkenden Bürgern, sie ist ja vielmehr froh, dass die Masse unkritisch reagiert. In anderen Fragen natürlich, wenn es um Reformen geht - aber die Nichtdenke der Masse schwappt eben auch, und gerade dorthin, ins Boulevardeske.

... Liebe kann nicht Sünde sein, doch wenn sie es wär', so wär's mir egal...

Boetticher ist ein politischer Windbeutel. Ein Parteisoldat, der nachäffte, was man ihm vorgab. Aber er hat in dieser privaten Angelegenheit in Liebe gehandelt. Und somit nicht strafrelevant - man kann es nicht oft genug betonen! Wer die Liebe kennt, der weiß, was sie bewegen kann. Boetticher muß man nicht sympathisch finden, aber ihn deshalb zu kriminalisieren: das ist kriminell! Seine politische Faxenmacherei müsste eigentlich verurteilt werden. Wie kann es sein, dass keine siebzig Jahre nach dem Mord an Sinti und Roma, sich jemand wie Boetticher arrogant hinstellen kann, um dieser gesellschaftlichen Gruppe keinen besonderen Schutz zu bewilligen? Das sollte strafrechtlich geprüft werden, nicht seine Liebe zu dieser noch sehr jungen Frau. Sie kann keine Sünde sein, sie war legitim und sollte schnellstens aus der Öffentlichkeit verschwinden. Sie geht uns nichts an, weil kein Richter im Namen des Volkes einschreiten braucht. Anderes ginge uns was an, aber darüber schreibt kaum jemand...



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Eine Männerquote für die Rente

Mittwoch, 17. August 2011

Rekord für deutsche Rentner! Im Durchschnitt erhalten Rentnerinnen in Deutschland knapp 21 Jahre lang Rente - Männer etwas mehr als 16 Jahre. So lange wie nie zuvor. Auch wenn bei Männern die Kurve, wie bei den Frauen gleichfalls, nach oben tendiert, so muß man fragen: Muß man in einer Gesellschaft, die nicht müde wird zu betonen, die Gleichstellung sei oberste Priorität, nicht unzufrieden sein, wenn man weiterhin fünf Jahre hinterherhinkt? Ist es nicht Zeit, um mit Camus zu sprechen, in eine metaphysische Revolte zu treten? Was heißt: in eine aussichtslose Revolte, was Camus nur sprachlicher galanter umschrieb?

Da kann man wenig tun, das ist wahr. Aber man darf sich doch mal polemisch einem Thema nähern, auf das man als Mann oder Vater oder als Mann und Vater immer wieder trifft. Ungleichheit! Letztens, da wurden Rentenanwartschaften geprüft und die väterliche Erziehungszeit, die ich in Anspruch nahm, plump abgebügelt. Als Vater nicht, als Mutter schon, sagte sie. Schöne Gleichberechtigung, ich darauf. Ist so, weil normalerweise sind es immer die Mütter, meinte sie. Keine Rücksicht auf Einzelfälle, dankte ich. Dann ging es doch, dann kam das Formular, das als Namen einen Buchstaben und eine dreistellige Zahl trägt, doch noch zum Einsatz. Denn es ist ja so: man hat auch als Vater Rechte und Ansprüche, manchmal jedenfalls - und manchmal nur gut versteckt und hinter der Betonköpfigkeit des gender mainstream lauernd. Aber man läuft zuerst eigentlich immer gegen Wände, das Ressentiment sitzt tief im Fleisch dieser Gesellschaft, die Gleichstellung betreibt, aber in bestimmten Nischen des alltäglichen Lebens das Primat der Frau wie ein Heiligtum aufrechterhält.

Vor einigen Tagen startete eine große deutsche Zeitung eine ihrer üblichen Serien. Alleinerziehend oder so ähnlich, hieß die. Da ereiferte sich eine Mama, dass "der Vater nicht für mein Kind bezahlt" - zahlen darf er, soll er, muß er: aber es ist ihr Kind. Gut, so können Mütter manchmal denken. Machen wir der Frau keinen Vorwurf. Aber dass man das so kritiklos hinnimmt, dass es normal ist, wenn eine Frau so dominant ihre Besitzansprüche auf ein Kind anmeldet, wo man einem Vater mit einer solchen Ausdrucksweise schon lange Einhalt geboten hätte, im Namen der politischen Korrektheit und im Namen des Kindeswohls, das ist ausreichend skandalös. Und es zeigt, welcher Geist der Gleichstellung durch die Lande spukt. Gleichstellung hatte viel mit Verbesserung der Lebenssituation der Frau zu tun, das war immer richtig, auch notwendig in früheren Jahren - aber sie bedeutete auch, und das ist der Fehler daran, dass man dort, wo man von alters her bevorteilt war, unbedingt den Vorteil wahren wollte. Und ausbauen, wenn es sich machen ließe. Gleichstellungsbeauftragte, die Frauen wie Männer gleichgestellt beraten, sind daher undenkbar - Familienminister, ohne -in als endenden Partikel, kann es daher nicht mehr geben. Denn das Familienrecht hat vor patriachalischen Einkerbungen, und geschlechtliche Blindheit wäre nach herrschender Lehre patriachalisch, beschützt zu werden.

Natürlich funktioniert es auch anders. Männer sind alleinerziehend. Viele sogar. Aber sie sind keine Mütter, haben nicht unter Schmerzen ein Kind zur Welt befördert, können nicht stillen und dem Kind keine mütterliche Fürsorge angedeihen lassen. Das merken alleinerziehende Väter zuweilen auch bei den Behörden, die der Mutter immer eine Favoritenrolle zuteilen. Da ist man unter emanzipierten Frauen stolz darauf, sich der Natur entwunden zu haben, nicht mehr stillen zu müssen, wie weiland unsere Großmütter es noch tun mussten, nimmt aber dieses verlorene biologistische Argument dennoch dankbar entgegen. Die Mutter liegt im Vorteil, auch weil sie unleugbar Mutter ist. Sie war es ja, der das Kind entschlüpft ist. Der Vater wird nur genannt, er nimmt nicht teil. Darauf beruhte stets die Rollenverteilung des Familienrechts, schon ich archaischen Gesellschaften: die Mutter ist bekannt, der Vater nur genannt. Das sind familienrechtliche Rudimente in einer Gesellschaft, die sich des natürlichen Weges entledigt hat. Was Mütter nach der Geburt können, können heute auch Väter tun - und tun sie auch. Und sie können als Väter auch biologisch bewiesen werden, wenn es denn sein muß. Das gab es früher auch nicht. Damit wäre die emotionale oder biologistische Komponente, die als Vorurteil jedem Vater ins Gesicht schlägt, eigentlich ausgehebelt. Sie ist ein Anachronismus, lebt aber gesund und munter in der öffentlichen Meinung vor sich hin.

Kindeswohl ist für die Öffentlichkeit weitestgehend Mütterlichkeit. Die Frau ist das Wohl des Kindes. Hier bedarf es keiner metaphysischen Revolte, dazu ist, bleiben wir in der Ausdrucksart Camus', eine historische Revolte notwendig. Eine, die Aussichten hat; eine, die lohnenswert sein kann. Empörung, gegen jeden moralisierenden Widerstand der fest verankerten öffentlichen Ressentiments. Und wenn wir schon dabei sind, dann seien wir gleich noch so polemisch und dreist zu fordern, die Lebensarbeitszeit für Männer zu senken, damit auch sie 21 Jahre Rentenbezug erhalten können. Manche Gleichstellungsbeauftragte würde das andersherum vielleicht sogar fordern - ähnlich Dämliches fordern sie ja bereits. So jedenfalls würde aus der metaphysischen eine historische Empörung. So könnte auch die Gleichstellung gefestigt werden.



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Sit venia verbo

Dienstag, 16. August 2011

"So verkehrt sich, was das größte Glück dieser eurer Insel auszumachen schien, dank der ruchlosen Habgier weniger Menschen ins Verderben. Ist doch diese Teurung der Lebensmittel einer der Gründe, weshalb ein jeder soviel Dienerschaft als möglich entläßt: wohin, frage ich, wenn nicht zur Bettelei oder, was ritterlichen Gemütern vielleicht besser eingeht, zur Räuberei?...So viel ist gewiß: solange ihr diese Übel nicht heilt, rühmt ihr euch vergebens eurer gerechten Strafen gegen den Diebstahl! Sie nehmen sich gut aus, aber gerecht und nützlich sind sie nicht. Denn wenn ihr die Menschen in jämmerlicher Erziehung aufwachsen, ihre Charakter von zarter Jugend an verderben laßt, um sie dann hinterher zu bestrafen...Ich bitte euch, was tut ihr anderes, als daß ihr selber sie erst zu Dieben macht und dann den Richter spielt?"
- Thomas Morus, nicht über die aktuelle Lage, sondern über die Zustände im England Heinrichs VIII. -

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Politik der Entpolitisierung

Montag, 15. August 2011

Was auf der britischen Insel geschähe, sei keine politische Manifestation mehr, sondern kriminell. Das schreiben die Gazetten an der Einheitsfront der Meinungsbildung einträchtig. Chaoten, Randalierer, kriminelle Marodeure! Höchstwahrscheinlich mag dieses Urteil sogar stimmig sein. Forderungen an die Gesellschaft stellen diese Jugendlichen vermutlich nicht, jedenfalls liest man davon nichts. Sie wüten als Mob durch die Straßen und brandschatzen. Dennoch ist das eine politische Dimension, auch wenn konservative Zeitungen gerade dies zu leugnen trachten.

Eine Gesellschaft, in der über Nacht alle Hemmungen fallen, Häuser anzuzünden, in der man eben mal Menschen mit Gewalt konfrontiert, muß sich doch fragen lassen, was schiefgelaufen ist. Gelangweilte Jugendliche sind nicht per se für "jeden Spaß zu haben" - sind nicht in nuce kriminell oder gewalttätig veranlagt. Da muß schon mehr dazu kommen, um diesen bedenklichen Schritt zu gehen. Perspektivlosigkeit ist es eher, was Menschen eine Laufbahn als Verbrecher einschlagen läßt - nicht gehört, nicht wahrgenommen zu werden, die Gesellschaft nicht zu interessieren, der ungeliebte Bodensatz eines nach und nach durchmanchestesierten Kapitalismus' zu sein: das animiert zu Brandstifterei, ermutigt dazu, die Spielregeln der Gesellschaft, die einen nicht liebt, zu unterwandern und für nichtig zu erklären.

Auch wenn der Mob keine Forderungen diktiert, auch wenn er nur durch die Straßen Britanniens schwappt, um Feuer und Angst zu schüren: das ist politisch! Wenn Politik und Wirtschaft seit Jahrzehnten reformerisch nurmehr zum Sozialabbau tendieren, Bildung zu einem Luxusgut machten, Jugendlichen sukzessive eine Aussicht auf eine Zukunft in Würde raubten, dann sind unzufriedene junge Menschen (die Unzufriedenheit im jugendlichen Leichtsinn gerne mal mit Macht alles kaputt! verwechseln), keine unpolitische Modeerscheinung. Sie sind das Erzeugnis politischer Kumpanei mit dem Kapital; sie sind das Produkt einer Gesellschaft, die politische Entscheidungen nicht nach Wertvorstellungen erringen wollte, sondern "ökonomisch abgewogen," nach Kosten, Nutzen und den Interessen von Konzernen. Fragt eine Gesellschaft nicht danach, was ihre Jugend will, fragt sie nur danach, was ihre Geldhaie möchte, dann darf sie sich nicht wundern, wenn die Jugend die Spielregeln des Zusammenlebens nicht mehr anerkennt.

Die Entpolitisierung seitens der Medien ist Programmatik - und damit Politik. Es ist der Versuch, die Schuld auf die Jugendlichen selbst zu verlagern. Wir dürfen allerdings nur von Teilschuld sprechen. Für Morde und Brandstifterei muß sich natürlich jeder selbst verantworten. Für die Dimension, für die aufgekeimte Bereitschaft junger Leute, überhaupt so weit zu gehen, tragen andere die Verantwortung. Diejenigen, die seit Jahrzehnten eine Politik gegen die Jugend, überhaupt gegen gesellschaftlich Benachteiligte, betreiben, diejenigen sind die Anstifter der Brandstifter. Sie haben ermöglicht, dass die Insel brennt. Der soziale Friede ist, wie jeder Friede, nichts, das alleweil gilt, wenn er einmal verwirklicht war - man muß ihn fortwährend stützen, jeden Tag neu erarbeiten. Wenn man das Engagement im Namen des sozialen Frieden einstellt, und die europäische Politik hat schon vor langer Zeit aufgehört, für diesen Frieden zu arbeiten, dann marodieren letztlich unzufriedene Gesellschaftsschichten.

Aus diesen nun Verbrecher und Kriminelle zu machen, die kein politisches Begehren aufweisen, ist Politik: eine Politik des Vergessenmachens, des Bemäntels, des Abwiegelns jeglicher Verantwortung. Die Bereitschaft zum Randalieren ist nicht unpolitisch, sie ist eine politische Erscheinung. Dem Willen zur Zerstörung wohnt somit auch ein stilles politisches Motiv inne.



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Ideologie und Paranoia

Freitag, 12. August 2011

Schwule! Überall waren Schwule. Das Land schien schwulstig zu verkitschen. Die gute alte Familie: ein Auslaufmodell! Nurmehr Sodomie. Männer, die beim Knaben lagen, wie beim Weibe. Homosexuelle Lehrer gefährdeten das Kindeswohl, infizierten die unschuldigen Menschlein mit diesem heimtückischen Homo-Virus. Die Gesellschaft musste dringend aus den Pranken der um sich greifenden Verschwulung errettet werden. Und gottlob, es gab ja wackere Recken gegen diese Pandemie, die da unkontrollierbar überhandnahm. Da war John Briggs, ein kalifornischer Senator, der mit seiner Gesetzesinitiative schwule und lesbische Lehrer und Lehrerinnen mit Berufsverbot belegen wollte. Denn erwiesen sei, schärfte er der amerikanischen Öffentlichkeit ein, dass Schwule und Lesben Kinder zu ihresgleichen bekehrten, wenn man sie nicht aufhielt. Saftwerbefachkraft Anita Bryant, mittlerweile ins politische Fahrwasser geschwommen, predigte vom Teufel, der in jedem schwulen Leib eingefahren sei und der die Nation gefährde, indem er sie homosexuell werden ließ. Da klang sie ganz wie Präsidentenschwester Ruth Carter Stapleton, eine evangelikale Furie, die den Schwulen den Heiland ans Herz legte, um endlich von dieser grausamen Krankheit geheilt zu werden. Vorallem Bryant wurde in jenen Jahren zur Stilikone der Anti-Schwulen-Bewegung.

In dieses vergiftete Klima, in dem Homosexuelle geprügelt und hin und wieder, unter Desinteresse der Behörden, ermordet wurden, betrat Harvey Milk die Szenerie. Der Schwulenaktivist wurde Stadtratsabgeordneter San Franciscos und fand in Bürgermeister George Moscone einen liberal denkenden, progressiv agierenden Koalitionspartner für diverse Gesetzesvorhaben. Ein anderer Stadtrat, im selben Jahr wie Milk gewählt, dessen Name Dan White war, wandte sich angewidert von diesem liberalen Geist ab und geriet im Stadtrat auch deshalb mehr und mehr in Isolation. Bald schon trat er zurück, überlegte es sich binnen Tagen aber nochmal anders und versuchte einen Rücktritt vom Rücktritt. Moscone jedoch gewährte ihm dieses Zurück nicht mehr.

Dan White äußerte sich in seiner Zeit als Abgeordneter öfter zur Sittenlosigkeit, die seine Stadt ergriffen habe. Familien sähen sich von Schwulen gefährdet, die Werte der Nation würden verächtlich gemacht, der schwule Lebensentwurf verhöhne die Vereinigten Staaten. Bryant und Briggs standen ihm geistig nahe. Als Milk ein Gesetz in den Stadtrat einbrachte, welches die Gleichstellung von homosexuellen Bürgern zur Absicht hatte, stimmte nur White dagegen. Bestärkt durch das Engagement der Anti-Schwulen-Bewegung, wähnte sich White als das letzte Bollwerk gegen das Sodom und Gomorra, das sich San Francisco nannte. Bryants, Briggs und Carters Thesen waren die Melasse seines Denkens, der Hass auf Homosexualität versuppte sich zu einem paranoiden Weltbild, in dem es vor Schwulen und Lesben, die das gute alte Patriachat und traditionelle Lebensweisen angeblich zertrümmern wollten, nur so wimmelte. Wie die Fratzen von enorm benasten Juden, die im hitleristischen Deutschland von Propagandaplakaten grinsten, so glaubte White allerorten die Verschlagenheit Klischeeschwuler zu erahnen. Er war ein von geilen Schwulen und maskulinen Lesben verfolgter Stadtrat, das Kastell unmittelbar an der Front, die Bastion der nationalen Vernunft an der Basis.

Bürgermeister Moscone, der keine drei Wochen vorher Milks Gesetz zur Gleichstellung homosexueller Personen unterschrieben hatte, bat White unter vier Augen in sein Büro, gewährte ihm aber, wie schon erläutert, kein Zurück mehr. Deshalb zog White eine Pistole und schoss. Moscone war sofort tot. Der Schuss hallte durch das Rathaus, aber noch war nicht klar, woher er stammte. So hatte White ausreichend Zeit, um Harvey Milk in seinem Büro aufzulauern. Er trat ein, zog erneut die Pistole und tötete auch den ehemaligen Stadtratskollegen.

Danach kam es zu Unruhen, zu Demonstrationen. Und zu vielen Entkräftungen. White habe im Kurzschluss gehandelt, sei depressiv gewesen, durchgedreht. Vor Gericht lautete die Entschuldigung, er habe sich fehlerhaft ernährt, was eine Depression zur Folge hatte und die Tat zu einer Affekthandlung mache. Warum jemand aber im Affekt eine Pistole mit sich führte, wurde nur sehr leise gefragt. Und weshalb jemand im Kurzschluss gezielt das Büro desjenigen Abgeordneten aufsucht, den White für die Sittenlosigkeit verantwortlich machte, schien überhaupt nicht von Interesse zu sein. Es durfte nicht sein, was man still erahnen konnte. Das stetig anti-schwule Klima, das sich für viele konservative und reaktionäre Eiferer zu einer ausgewachsenen Paranoia verdichtete; die krude Thesen Briggs, das fleißige Engagement der hausmütterlichen Bryant, das fromme Getue der Präsidentenschwester - die übrigens Milk mal eine Rückkehr zu Jesus empfahl, obwohl dieser Jude war! -, es hat in White bewirkt, sich als Vorposten der nationalen Sittlichkeit zu fühlen. Dass man ihn nicht zurück in den Stadtrat ließ, war vermutlich nur der finale, der ausschlaggebende Punkt. Und irgendwer musste ja aufräumen mit dem Sündenbabel, mag er sich entschuldigt haben.

Natürlich haben die Ikonen der Anti-Schwulen-Bewegung niemals zum Mord aufgerufen. Sie würden sich gewehrt haben, hätte man ihnen das unterstellt. Aber die von ihnen publizierte Niedertracht, die sie für freie Meinung erachteten, hat doch eine Atmosphäre entstehen lassen, die je und je angespannter wurde. Irgendwann musste die Spannung gelöst werden. White hat sie gelöst - auf paranoid-ideologische Art. Die einzige denkbare Art, wenn man fort und fort ideologischer Agitation ausgesetzt wird. Ideologie promenierte schon allezeit mit der Paranoia händchenhaltend durch die Historie. So will es der Brauch.

Dan White wäre eine gelungen-traurige Parabel auf Breivik, wenn er nur erfunden wäre. Aber White gab es wirklich, er wurde 1978 wirklich zum Werkzeug derer, die ihr Sendungsbewusstsein kreuzritterlich an der Öffentlichkeit abwetzten. Von seiner Warte aus hat er nur logisch gehandelt, er hat getan, was getan werden musste, er war seinen geistigen Vätern und Müttern ein gehorsamer Sohn. Ein bisschen liegt in Tätern, die ideologisch vereinnahmt werden, denen man den Hass und die Aversion gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen ins Denken publiziert, auch ein Opfer begraben - ein bisschen steckt denen, die sich weigern, als Brandstifter bezeichnet zu werden, auch der Täter in den Knochen.

Jedes Verbrechen benötigt ein gedankliches Gerüst. Der Dieb schärft sich ein, dass in einer korrupten Welt, in der die Umverteilung der Güter nicht anständig klappt, der Diebstahl eine legitime Lappalie sei - seine Erweiterung ist der, der auch mordet, um Güter umverteilen, in seine eigene Hosentasche umverteilen zu können. Die mögen beispielsweise Max Stirner so deuten und haben letztlich sogar eine ideologische Grundlage ihres Handelns. Der hasserfüllte Mörder, der einen Schwulen deshalb tötet, um damit gegen die gay community ein Zeichen zu setzen, hat gleichfalls seine Autoritäten, auf denen er sein Weltbild baut. Menschenschlächter, die gegen eine multikulturelle Gesellschaft ins Feld ziehen, haben ihre eigenen Kapazitäten gelesen und bewundert. Nichts geschieht einfach so, alles hat eine geistige Herkunft. White wäre womöglich ohne Briggs, Bryant und Carter niemals zum Mörder geworden - und der norwegische Massenmörder wäre nicht denkbar ohne die paranoiden Stimmen der neuen europäischen Rechten, die sich kreuz und quer durch die Gazetten des Kontinents ergießen.



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Wie einst Marx

Donnerstag, 11. August 2011

Es rumort, es gärt, alle Nähte platzen. Wie dereinst Karl Marx beobachten wir die Zeichen der Zeit. Dieser meinte 1848 das Ende des Kapitalismus zu erblicken und hatte kurz zuvor noch ein Manifest, aus bald gegebenen Anlass quasi, auf den Markt geschmissen. Das publizierte Stück Marxengels blieb der Menschheit erhalten - so wie der Kapitalismus auch, der das Tohuwabohu des Jahres Achtundvierzig heil überstand. Das schon lang erwartete, analytisch ersehnte Ende des Ismus auf Kapitalbasis, entblößte sich als kurze Verschnaufpause und demonstrierte eindrücklich, welch glitschiger, windiger Bandwurm dieses Gesellschaftssystem sein kann, um nur weiterhin profitabel wirtschaften zu können.

Wie dazumal der Rauschebart, der 1848 noch wenig rauschig, noch kärglich buschig war, erblicken wir etwas, das wie das langsame, qualvolle Ende des Kapitalismus aussehen könnte. So stellen wir uns den Tod des kapitalistischen Bandwurms vor - wir wissen ja nicht, wie so ein Ende aussieht, wir haben ein solches Ende ja noch nie erlebt. Vor einigen Monaten noch Finanz- und Weltwirtschaftskrise, aktuell eine Weltmacht, die importiert und importiert und immer weniger exportiert hat - außer Soldaten und Panzer, die man überdies auf Pump finanzierte. Nun wackelt das Parkett und die darüber hetzenden Spekulanten. Seit Wochen Randale. Spaniens Marktplätze waren voller Unzufriedener, Griechenlands Straßen voller Empörter. Nordafrika erwehrt sich kapitalistisch finanzierter Despoten. Vor Jahren brannten Paris' Vorstädte, nun fackeln sie Londons Randgebiete ab. Und in Israel schreien sie derzeit nach sozialer Gerechtigkeit.

Allerorten Unzufriedenheit, Wut und nicht mehr zu domestizierende Mechanismen des kapitalistischen Fieberwahns. Wo ist das dazugehörige Manifest? Wo der Abgesang auf den Kapitalismus? Oder gleichen wir eher dem alten Marx, täuschen uns wie er einst und immer wieder, wenn wir nun festzustellen meinen, dass das Ende nahe ist? Ausgeschlossen ist es nicht, dass sie das System nochmal stützen, in einen Rollstuhl setzen, um mit ihm weiterhin durch die Gegend zu mäandern. Etwas noch kompromisslerischer gegenüber den Leistungsträgern vielleicht, etwas härter gegenüber zornige Massen eventuell - man muß das, was ruinös wird, schließlich ein wenig variieren. Als Marx meinte, den Sozialismus am Horizont zu erspähen, wurde nur der gelobte Bürgerkönig, der Jahre zuvor dem König von Gottes Gnaden folgte, durch einen zunächst staatspräsidialen, später vom Volk gekürten Kaiser ersetzt. Alles anders wie vorher - alles wie vorher, nichts anderes!

Marx hangelte sich von Hoffnung zu Hoffnung. Als 1857 die Weltwirtschaft kriselte, schlug sich Karl freudig auf die Schenkel - jetzt ist es geschehen, jetzt wird das Proletariat den Sozialismus erzwingen, eine ganz neue Welt gründen. Pustekuchen, wie wir wissen! Nach den Boom der Gründerjahre, folgte der wirtschaftliche Niedergang im Deutschen Reich - 1873 war das und Marx, mittlerweile sich von Krankheit zu Zipperlein und von Zipperlein zu Krankheit hangelnd, glaubte erneut daran, dass diese Krise die neue Gesellschaft ermögliche. Aber sie kam nicht! Der französische Börsenkrach von 1882, er erweckte letztmals Marxens Überschwang. Umsonst! Hoffnungen, nichts als Hoffnungen. Und wie diese neue Gesellschaft viele Jahre später tatsächlich ausfiel, hätte ihn vermutlich schockiert, was hier und jetzt aber nicht abgehandelt werden soll.

Die Zustände des amtierenden Kapitalismus könnten gleiche Hoffnungen nähren. Wir werden uns in den kommenden Jahren von Krise zu Krise, von Hoffnung zu Hoffnung hangeln. Dabei werden wir zu Marxisten, das heißt: werden wie er, immer wieder enttäuscht! Sei es nun Sozialismus, was man erhofft, sei es auch einfach nur ein ethischeres System, mit welchem Namen auch immer: Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Börsencrashs, Athen, Madrid, Kairo, Tunis, Banlieus in Paris, Randale in London, Verärgerung in Israel blenden einen gewaltig. So einfach läßt sich des Kapitals Ismus aber nicht wegwischen. Zu sehr liegt er uns mittlerweile im Blut. Und das Alte verschwindet nicht einfach vom Bildschirm der Geschichte, weil sich ein Paar Krisen auftun, die überdies immer noch von der wirtschaftlichen Macht kontrollierbar sind. Das Alte wird sich auf Zuckerbrot und Peitsche, auf süße Reden und Polizeiknüppel stützen - je nach Lage, je nach Bedarf, je nach Klientel, die aufbegehrt. Was wir erleben ist nicht das Ende des Kapitalismus, es ist höchstens der Aufstieg zu einer neuen, höheren Stufe des Kapitalismus. Das ist nicht, wie Marx meinte, der Sozialismus - es ist eine Form, die noch weniger Rücksicht auf die Interessen der Menschen nimmt, sich dabei aber noch aggressiver Selbstzweck ist.

Wie einst Marx, wir hoffen vergebens...



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Nomen non est omen

Mittwoch, 10. August 2011

Heute: "Realpolitik"
"Deutschland braucht Realpolitiker statt Moralapostel"
- Schlagzeile von Welt-Online vom 17. April 2011 -
Die Realpolitik bezeichnet eine Form der Politik, die sich nach pragmatischen, umsetzbaren und nach vorhandenen real existierenden Gegebenheiten richtet. Sie grenzt sich damit von einer Politik und Sichtweise ab, die normativ und werteorientiert entscheidet. Politische Entscheidungen im Sinne der Realpolitik werden zu einer verhandelbaren Masse erklärt. Alle Gesetze, Entscheidungen, Vorhaben und Ideen sollen sich nach pragmatischen Rahmenbedingungen richten. Alles was sich in diesem Spielraum bewegt, ist verhandelbar, der Spielraum selbst jedoch nicht. Der politische und wirtschaftliche Rahmen wird als gottgegeben und naturwüchsig erachtet und ist somit der Überbau des TINA-Prinzips.

Es ist schon bezeichnend, dass der Machtpolitiker Niccolo Machiavelli als einer der bedeutendsten Verfechter der Realpolitik gilt. Ethische, normative oder religiöse Überlegungen sind nur insofern in politische Entscheidungen einzubeziehen, sofern sie dem Machterhalt dienlich sind. Die Aufrechterhaltung der Macht ist, nach Machiavelli, die oberste Prämisse der Regierung. Wenn sich nun in einer parlamentarischen Demokratie Volksvertreter auf die Fahnen schreiben, sie würden in erster Linie realpolitisch agieren, dann wird die parlamentarische Verantwortung im Sinne der Bevölkerung und des Gemeinwohls zu handeln, vernachlässigt.

Realpolitik ist somit immer eine Politik der Mächtigen und Herrschenden, eine Politik die den status quo aufrecht erhalten will. Denn wenn Banken und Konzerne die Welt regieren, geben sie auch den Spielraum vor, in der sich eine pragmatisch orientierte Politik bewegen darf. Wer aus diesem eindimensionalen Kreis der Macht ausbrechen will, der wird von Realpolitikern als Spinner, Träumer oder Ewiggestriger diffamiert. Auch wenn sich Realpolitiker gerne als ideologiefrei sehen, so sind sie doch an die herrschende Ideologie gebunden.
"Welche Nöte der Realpolitik auch immer ins Spiel gebracht werden - gegen die Lesereise-Liturgin Margot Käßmann ist kein Stich zu machen."
- Meldung auf Spiegel Online vom 20. Juni 2011 -
Eine Politik, die ein klares gesellschaftliches Bild und eine Vorstellung vom gesellschaftlichen Zusammenleben formuliert, wäre dringend geboten, wenn man die Politik(er)verdrossenheit ernsthaft bekämpfen will. Zudem sind politische Entscheidungen immer menschliche Entscheidungen, denen bestimmte Wertvorstellungen und Interessen stets zugrunde liegen. Eine rein pragmatisch orientierte Politik kann es insofern nur in der Theorie geben, meist ist sie wohl eher ein Euphemismus für Machtpolitik im Sinne des Machterhalts der Herrschenden.

Realpolitik bedeutet: there is no alternative (TINA). Realpolitik bedeutet, Macht- und Eigentumsverhältnisse nicht anzutasten. Realpolitik bedeutet, im Sinne der Mächtigen und Herrschenden zu handeln. Realpolitik bedeutet, keine Vision, keine Idee und keine Vorstellung von einer besseren Welt zu haben.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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Die Radikalisierung eines Ministers

Dienstag, 9. August 2011

oder: irgendwie auch in eigener Sache.

Die Anonymität ist es! Innenminister Hans-Peter Friedrich hat nun des Breiviks Lösung. Weil das Internet ein anonymer Raum sei, könne dort die Radikalisierung wachsen und gedeihen. Die Geschehnisse auf der Insel flankieren indes seine These. Denn die Experten wissen: Nicht Jugendliche stürmen aufmüpfig Englands Straßen - Twitter randaliert. Der Anonymus ist die Gefahr. Und dort will Friedrich ansetzen. So einfach kann Welt manchmal sein.

Broder und Sarrazin schrieben niemals anonym. Sie sind namentlich bekannte Brandstifter. Sie schrieben auch nicht im vermeintlich anonymen Internet, jedenfalls nicht ausschließlich. Friedrichs Erkenntnisse sind hanebüchen. Quatsch! Aber für ihn ausreichend, um mit Konsequenzen zu fuchteln. Er fordert nun ein Internet, in dem Vor- und Zunamen selbstverständlich sein sollten. Nur so verhindert man ein nächstes Utøya. Friedrich blendet dabei aus, dass die Radikalisierung der bürgerlichen Mitte, aus der auch Breivik stammte, völlig transparent verläuft - niemand muß sich heute hinter einem Nickname verstecken, um Hetzparolen unter Kennwörtern wie "Islamkritik" oder "Sozialmissbrauch" zu verströmen. Das geht unter Namen und unter Applaus. Und es braucht dazu kein Internet - wenige Seiten Qualitätsjournalismus' reicht völlig auch.

Was Friedrich vorschwebt ist die namentliche Erfassung derer, die via Internet kommunizieren und publizieren. Dabei hat er vermutlich weniger Rechtsradikale im Sinn, als Linke, gegen die er von jeher kartätscht. Friedrich hat schon vor seiner Zeit als Minister die linke Gewalt verurteilt, während er die rechte Gewalt weitestgehend einen guten Mythos sein ließ.

Ich schreibe seit Jahren unter meinem Namen. Das hat sicherlich hin und wieder Nachteile. Wenn Friedrich nun die namentliche Erfassung fordert, die nicht alleine Erfassung, sondern folgerichtig auch Beobachtung bedeuten muß, so darf auch ich mich fortan bespitzelt fühlen. Kein Zweifel, dass der nächste Schritt zur Sperrung unliebsamer Seiten führt. Vielleicht bilde ich mir zu viel ein, aber unter Friedrichs Argusaugen, wäre das Ende des Spiegelfechters, der NachDenkSeiten oder ad sinistrams jedenfalls nicht undenkbar - linke Radikale, die die Leute beunruhigen, gehören schließlich mundtot gemacht. Die waren zwar alle vormals schon mit Namen bekannt, aber erst nach der friderizianischen Radikalreform des Internets, konnte man mit solchen Aufwieglern auch aufräumen. Seht nach Norwegen!, seht nach England!, könnte der Innenminister dann mahnen.

Dass Radikalisierung und Namenlosigkeit in keinem Verhältnis zueinander stehen, dafür ist der Innenminister selbst bestes Beispiel. Bei Islamkonferenzen gibt er sich radikal arrogant und überheblich; seine feuchten Träume zur Überwachung sind geradezu diktatorisch und stinken nach MfS; Linke hält er ausnahmslos für Stalinisten und für Feinde des Grundgesetzes - und all das geschieht namentlich, das heißt: mit der Unterschrift des Herrn Hans-Peter Friedrich. Der Innenminister war immer schon ein radikaler Schwadroneur, doch hat man in den letzten Monaten den Eindruck, als ob er sich wöchentlich noch weiter radikalisiere. Seine Radikalisierung läuft jedoch namentlich bekannt ab. Er ist somit der wandelnde Beweis dafür, dass seine These großer Unsinn ist.

Bewahre man uns davor, dass dieser Mann seine perversen Phantasien am realen Objekt erproben darf. Dann ist es mit Meinungsfreiheit ganz vorbei. Interessant wäre es allerdings dann schon, ob er rechte Seiten sperren ließe oder eher solche, die sich kritisch mit seiner Person auseinandersetzen. Die NPD hetzte munter meinte - ad sinistram gäbe es dann vielleicht nicht mehr...



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Jede Arbeit ist zumutbar

Der Atomausstieg war keine besonders gute Idee. Zehntausend Mitarbeiter von EON werden bald keine Mitarbeiter von EON mehr sein. Schuld habe auch der Atomausstieg, erklärt das Unternehmen. Ein wenig Vorwurf klingt da mit und die Betroffenen werden sicherlich sauer sein, zwar nun in einem halbwegs atomfreien Land zu leben, davon aber nichts zu haben.

Das ist die stinknormale Einstellung, die der Kapitalismus hervorbrachte. Der kümmert sich nicht um erschöpfliche Ressourcen, nicht um Folgen und Folgeschäden - er ist die Diktatur des schnellen Profits. Langlebigkeit ist nicht seine Sache - Langlebigkeit schmälert die Gewinne. Nur er bringt mit profitsüchtiger Triebhaftigkeit irrationale Ansichten hervor wie: Arbeitsplätze vor Atomfreiheit! Oder: Die Welt braucht erdölbasierende Kraftfahrzeuge, also decken wir sie damit zu! Das Primat der wirtschaftlichen Vernunft, die wenn man sie seziert, nichts weiter als die Begierde nach horrenden Gewinnen ist, setzt eine Spirale der Verschlechterungen in Gang.

Die moderne Massentierhaltung schädigt unsere Umwelt - das wissen wir, doch die Welt will billiges Fleisch!
Führe plötzlich jeder Mensch auf Erden mit einem KFZ über die Weltkugel, erläge das Weltklima endgültig - das ist uns bekannt, aber wir wollen Autos für alle und Zweitautos für uns!
Atomreaktoren sind immobile Waffen - wir haben es mehrfach erfahren, aber die Arbeitsplätze, die der Ausstieg kostet, die schönen Arbeitsplätze...

Ob nun der Atomausstieg tatsächlich Arbeitsplätze streicht, darf ohnehin bezweifelt werden. Wahrscheinlich schiebt EON der eigenen Strategie der Gewinnmaximierung, die eigentlich immer über den Umweg der Personalkostenreduktion läuft, den Atomausstieg vor. So ist die Politik schuld, nicht die EON-Bonzen. Von nachteiligen Verträgen des Unternehmens, las man ja bereits. Der Personalabbau, zur Abfederung "unternehmerischer Härten", wäre ohnedies geschehen.

Jede Arbeit ist im Kapitalismus zumutbar. Nicht nur für Erwerbslose. Auch für die Gesellschaft gesamt. Sozial ist, was Arbeit schafft. Und wenn es Atomkraftwerke sind, die Menschen in Lohn und Brot bringen, dann überlegt man zweimal, ob man dem Atomtod den Kampf ansagt. Sicherlich wäre es hochgradig vernünftig, Atomkraft zu beenden - andererseits: was hilft uns eine Atomausstieg, der uns zwar garantiert, die Umwelt nicht mehr zu atomisieren, der stattdessen aber Arbeitsplätze atomisiert? Gehen wir nicht lieber ausgestattet mit Sozialversicherung und Rentenansprüchen in den Tod, als arm und mit Lücken in der beruflichen Vita am Leben zu bleiben?

Natürlich ist die Debatte darüber erstmal hinfällig. Der Atomausstieg ist beschlossen. Die Gesellschaft hat sich positioniert. Und doch ist in einer Gesellschaft, die stets auf billigste Preise und auf Sozial ist, was Arbeit schafft! oder Jede Arbeit ist zumutbar! setzt, Vorsicht geboten. Der Ausstiegsausstieg ist nicht ausgeschlossen, wenn man so denkt. Suggeriert die Atomlobby, die derzeit verdächtig ruhig vor sich hinwurstelt, den Bürgern, dass der Atomausstieg ein wirtschaftliches Fiasko auf zwei Ebenen werden wird, dass Arbeitsplätze flöten gehen und Strompreise eklatant nach oben schnellen, ist es in dieser Welt, die aus wirtschaftlichen Vernunfts- und Kurzschlüssen besteht, nicht utopisch (oder dystopisch?) zu glauben, die Atomenergie hätte eine Zukunft.

Heute gibt sich EON larmoyant - bald die ganze Branche und in ihrem Anhang ein großer Teil der Gesellschaft. Und dann ist uns Atomenergie vielleicht schneller wieder zumutbar, als wir ahnen möchten. Beseelt war der Ausstieg ohnehin nie, denn dieselben Gestalten, die ihn politisch erzwangen, bezwangen noch Monate zuvor jegliches Bedenken. Wendehälse sind in beide Richtungen wendehälserisch. Seien wir vernünftig, werden sie uns dann predigen, halten wir die Gefahren minimal und die Wirtschaftlichkeit maximal. Lohn und Brot ist allemal besser, auch im Schatten maroder Meiler - so lehrt es uns die Rücksichtslosigkeit, die dem System immanent ist und die durch den Rückzug des politischen Primats immer mehr zum ersten aller Grundgesetze wird.



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Pecunia non olet

Montag, 8. August 2011

Ein Gastbeitrag von Stefan Rose.

Auf der Grundschule war ich, soweit ich mich erinnere, während der ganzen vier Jahre nur ein oder zwei Mal auf dem Schulklo. Ansonsten habe ich das nach Möglichkeit vermieden. Die Toiletten befanden sich in einem abseits gelegenen Pavillon an der Schulhofmauer und stammten, wie die ganze Schule, noch aus der Kaiserzeit. Die Glastüren im Hauptgebäude ließen auf eine notdürftige Renovierung in den Fünfzigern schließen. Apropos Notdurft: In der Toilettenbaracke war gar nichts renoviert. Im Sommer stank es zuweilen so gewaltig, dass man in den Klassenzimmern, die in Richtung der Klos lagen, die Fenster besser nicht öffnete.

Später, auf dem Gymnasium, wurde die Situation dann ein wenig erträglicher. Als Mitte der Achtziger ein Neubau fertig gestellt war, hatte ich angesichts nagelneuen Sanitärs zum ersten Mal das Gefühl, in der Zivilisation angekommen zu sein. Vielleicht war ich ja verwöhnt. Vielleicht ekeln sich Kinder aber auch leichter. Viele Kinder hassen zum Beispiel Lebensmittel, die sie später als Erwachsene durchaus gern essen. Ich war in Hygienefragen nie sonderlich heikel: In Jugendherbergen, Gemeindehäusern, auf Campingplätzen und in Zeltlagern habe ich nie ein Problem gehabt – zumindest kein größeres als die anderen.

Einige Schulen gehen seit einiger Zeit einen neuen Weg, benutzbare Schultoiletten anzubieten: Sie knöpfen Schülern Geld für das Verrichten ihres Geschäfts ab. An einer Bielefelder Gesamtschule kostet einmal Austreten zehn Cent, zwanzig Mal pro Jahr sind gratis. Wenn das kein Angebot ist! Aus den Einnahmen werden die laufenden Kosten bestritten wie Seife, Papierhandtücher, Damenbinden, Reinigungsmittel etc. sowie zwei Ein-Euro-Kräfte bezahlt. Die Damen fungieren nicht nur als Toilettenfrauen, sind also für kassieren, saubermachen und aufpassen zuständig, sondern müssen auch namentlich Buch über die zwanzig Gratisgeschäfte führen.

Sind wir so tief gesunken? Aber iwo, zwitschert es bei Spiegel Online! Dort ist zu lesen, wie cool die Mädchen vor allem die beiden Ein-Euro-Damen fänden und wie dolle kichernd sie sich immer mit ihnen abklatschen würden. Die Schulleitung meint, es habe sich noch nie jemand über die kostenpflichtigen Klos beschwert.

Im zuständigen Ministerium gibt man sich pflichtschuldigst entsetzt. Man weist darauf hin dass es auf keinen Fall eine Zweiklassengesellschaft geben dürfe und dass der Schulträger laut Gesetz "die für einen ordnungsgemäßen Unterricht erforderlichen Schulanlagen, Gebäude, Einrichtungen bereitzustellen und zu unterhalten" habe. Das zuständige Schulamt wiederum wäscht seine Hände in Unschuld und weist darauf hin, dass an der besagten Schule selbstverständlich dem Gesetz genüge getan sei, weil dort schließlich auch frei zu benutzende Toilettenanlagen existierten. Das stimmt zwar, nur seien diese Toiletten nach Angaben von Schülern oft völlig verdreckt und Beschwerden darüber stießen auf taube Ohren. Außerdem seien sie während des Unterrichts grundsätzlich verschlossen. Und wenn die Zustände nicht mehr zu ertragen seien, dann würden die Klos auch ganz zugesperrt.

Ja, man könnte sich empören, aber warum immer so negativ? Wie könnte man Kinder und Jugendliche besser vorbereiten auf das, was sie im späteren Leben erwarten wird? Darauf, dass es nun einmal leider, leider Gewinner und Verlierer gibt und dass alles, wirklich alles, immer nur eine Frage des Geldes ist. Eigentlich müsste man der Schule eine Auszeichnung verleihen.

Die Preise für die Benutzung einer durchschnittlichen öffentlichen Toilette in den Städten sind eh mittlerweile so, dass ein Hartz IV-Empfänger es sich spätestens ab der zweiten Monatshälfte drei Mal überlegt, sicherheitshalber zu Hause Pipi zu machen, ehe er sich in die Öffentlichkeit traut. Männer mögen den anatomischen Vorteil haben, sich mit weniger Aufhebens im Gebüsch erleichtern zu können als Frauen, aber auch da sind oft schon die Ordnungsämter mit ihren Patrouillen vor. Überhaupt, man stelle sich den Kulturschock vor, den die jungen Menschen erleiden könnten, wenn sie zum ersten Mal die kommunistische Kuschelecke verlassen, in der sie die wertvollsten Jahre ihres Lebens einfach so für lau gestrullt haben.

Ich hätte da noch eine Menge anderer Ideen: Warum bei den Toiletten aufhören? Wie wäre es zum Beispiel in Zeiten der Ganztagsschule mit einer Premium-Mensa? Hier die Economy Class, wo es nach wie vor Industrie- und Fertigpapp zu Jedermannpreisen gibt, dort eine Art Senator Lounge ("Eat smarter – learn better!"), in der in schickem Ambiente von Sterneköchen zubereitete Gourmetkreationen serviert werden. Und damit wirklich kein notorischer Nörgler mehr von Zweiklassengesellschaft herumjammern kann, gibt es einmal im Halbjahr eine Probieraktion, wo die Economy-Kunden ein Degustationsangebot zum verbilligten Preis erhalten können.

Oder warum nicht einzelne Schulräume an private Nachhilfeinstitute verpachten? Privatisierung ist doch immer gut, stimmt's? Da darf es auch keine Denkverbote geben. Zweiklassengesellschaft? Soziale Segregation? Blödsinn! Wohl neidisch, wie? Selbstverständlich würden auch weiterhin kostenfreie Förderangebote vorgehalten, die von Studenten und Hilfskräften auf Minijob-Basis durchgeführt werden.

Und was sich alles aus Klassenfahrten machen ließe! Fünfzig lärmende Gören, die in einem Reisebus in ein schmuddeliges Schullandheim verfrachtet werden? Das muss nicht sein! Buchen Sie unser Happy Kids-Bonuspaket: Der Limousinenservice bringt ihre Kinder sicher und komfortabel ans Ziel. Die Unterbringung erfolgt in einem exklusiven Country Resort mit vielfältigen Angeboten (Wellness, Sauna, Massage, Yoga, Tai Chi, Ayurveda, Personal Trainer). Selbstverständlich kommen auch der Spaß und das soziale Lernen nicht zu kurz: Ihre Kinder haben die Möglichkeit, an der Nachtwanderung und am Bunten Abend der anderen Kinder teilzunehmen (Transfer per Limousine und Begleitung durch Bodyguards inklusive).

Ich denke, es ist deutlich geworden, dass die Möglichkeiten, unseren Kindern ein anständiges Weltbild zu vermitteln, quasi unendlich sind. Zweiklassenkacken ist da schon mal ein guter Anfang. Alles andere wäre doch sozialistische Gleichmacherei.



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Tippt trotzdem!

Samstag, 6. August 2011

Ich sollte nichts mehr zu diesem ganzen unappetitlichen Gelichter schreiben. Kaum erwähnt man Gestalten, die Geisterbahnen wie Feuilleton füllen, Leute wie Broder und Sarrazin, kaum kritisiert man "den Deutschen", kriecht manches Gewürm aus der braunen Erden. Diese Woche auch wieder, als ich mit "... die sprechen alle Deutsch" in balearischen, das heißt: großdeutschen Wunden stierte. Äpfel mit Birnen hätte ich verglichen. Ich habe mich indes dazu entschlossen, die Metapher so zu verstehen, dass die Birnen für die Deutschen stehen - das halte ich für passend, denn eine Birne, die allerdings wie ein Gemüse hieß, stand diesem Land schon mal vor. Und außerdem, wenn sie schon mal aus dem Scheißhaufen kriechen, den sie als ihr geistiges Zuhause ansehen, dann wollen sie mir gleich noch mit auf dem Weg geben, dass ich ja dahin zurückgehen könne, woher ich stamme. Dazu, meine lieben mir Asyl verweigernden Freunde, ist es zu spät - ich bin zu dick, als dass ich in die Gebärmutter meiner Frau Mama zurückschlüpfen könnte.

Dieses geistige Geschmeiß, es empört sich immer dann, wenn ich seine Lieblingsthemen aufgreife. Thilo und Henryk und Kai und Friede. Dann sind sie zur Stelle, kommentieren ins Leere und rauben mir den Glauben an eine Zukunft, die dieses Land haben könnte. Gut, Zukunft hat es schon. Auch das Sichwundliegen in verschissenen Windeln, diese triste Aussicht, die Mitsiebziger plagt, ist ja irgendwie eine Zukunft. Fraglich allerdings, wer mit solchen Aussichten entspannt einschläft. Wenn es nur Windeln wären, die sich dieses Land anlegte, das ginge ja noch halbwegs gut - nur fürchte ich mich eher vor gewichsten Rechts-zwo-drei-vier-Marschstiefeln. Materielle, fassbare, aus Kitschleder gestanzte Stiefel für Offizielle und ideologische, vergeistigte, von Kitschideologie gegerbte Stiefeletten für den geistigen Abschaum, der sich hier immer dann erbricht, wenn ich Dinge zur Sprache bringe, bei denen es einem eigentlich dieselbe verschlagen müsste.

Blockwarte waren es dazumal, heute sind es Blogwarte. Die altvordere Variante hatte wenigstens noch Schneid, denn die gab der eigenen Geistesschwäche wenigstens ein Gesicht, vielmehr: eine Fresse. Die drängten sich nicht mittels Glasfaserstränge in die Öffentlichkeit, die waren wirklich, wahrhaftig öffentlich. Die mussten ihr Umfeld von Angesicht zu Angesicht ideologisch auf Herz und Nieren prüfen - und rügen - und melden - und zur Abreibung weiterreichen. Blogwarte aber sind körperlos. Und sie sind, so habe ich mir sagen lassen, und das deckt sich zufällig mit meinen Erfahrungen, arme feige Schweine.

Ja, ich weiß, ich vergreife mich im Ton. Er ist rüpelhaft und ich sollte mich zurückhalten. Will ich aber nicht, kann ich nicht! Immer souverän bleiben. Wie denn? Wäre ich souverän, würde ich den Thilo einen guten Clown sein lassen - aber ich fürchte mich vor den Clowns, sie sind - spätestens seit Stephen King wissen wir es! - nicht ungefährlich. Einen verwissenschaftlichen Rassisten, der sein Weltbild in Facharbeiten stopft, nimmt die Öffentlichkeit wenig wahr. Der doktort lediglich in seiner Kammer herum und erreicht höchstens ein Paar verschrobene Kollegen. Aber der Clown, der sich ausdrückt wie ein dummer August, der wird Sprachrohr noch viel dümmerer Auguste. Wäre ich souverän, blendete ich die Clowneske aus und würde über Sommertage am Meer, die Liebe, die Liebe, hach die Liebe schreiben und nicht über den ergrauten Hass. Und ich sage euch, mein Ton ist noch gesittet! Wie ein Gossenjunge könnte ich loslegen, wie eine Straßendirne fluchen. Doch will ich das braune Gewürm nicht als Bagage von Arschlöchern bezeichnen - wir wissen doch alle, dass ich das meinen könnte, wenn ich es auch nicht ausdrücklich schreibe.

Ein schöner Musterdemokrat bin ich, bekomme ich natürlich als Vorwurf. Schalte die Kommentare solcher Kasper nicht frei, selbstherrlich und selbstgerecht wie ich zuweilen bin. Wehrhafte Demokratie, wäre ein Stichwort. Aber mit Stichwörter können die nichts anfangen. Freie Meinung ist für sie ja auch, dass Arbeitslose in Lager und Ausländer vor die Grenze gehören - das sei eine Meinung unter vielen, eine Meinung wie "Seid nett zueinander!" oder "Achte nicht auf die Hautfarbe deiner Mitmenschen!" Gleichberechtigte Meinung, die man doch mal sagen dürfen sollte - im Namen der Demokratie, die jede Meinung unbesehen anerkennt, wenn sie nur in warmen Worten vorgetragen wird, ohne Gehässigkeit und aufrührerischen Beischmuck. Will man solchen Deppen Stichworte geben? Stichworte, um denen eine Plattform zu liefern? Eure geschätzte Meinung sei es, die ich nicht respektiere? Mit Verlaub, eure Meinung, die nebenher gesagt keine Meinung ist, sondern kriminelle Aufwiegelei, juckt mich überhaupt nicht.

Man mache sie stumm. Dort wo man kann. Und ich kann hier. Und ich will. Und ich tue. Und ich werde. Basta!

Sollen sie dessenungeachtet hier ellenlang tippen, veröffentlicht wird eure Scheiße nicht. Tippt trotzdem, damit ihr eure Zeit vergeudet, zeitlich eng gebunden seid. So kommt ihr auf keine dummen Gedanken, wenn ihr eure dummen Gedanken notiert - wohlweislich ins Leere hineinnotiert. Ich binde eure präsenilen Kräfte nur zu gerne für ein Weilchen. Bin gerne eure Pissrinne - laßt es tröpfeln! Ich putze euer Verspritztes danach einfach weg. Gratis! Und wahrscheinlich umsonst. Will man Ansichten verächtlich machen, kennt das Deutsche die nette Floskel, man wische sich den Arsch damit ab. Niveaulos fürwahr! Ich verwende solche Aussprüche jedoch nicht - nicht mal dafür taugt das, was ihr auf virtuelle Blätter werft. Was ohnedies nicht funktionierte, denn mit Dünnschiss wischt es sich schlecht. Nein, gemach meine verärgert in die Tastatur hineinballernden Finger! Jetzt wird es zu sehr Gosse. Bewahrt Contenance! Seid ein klein wenig netter zu denen, die geistig so arg im Nachteil sind.

Langer Rede, kurzer Sinn: tippt, schreibt, macht Kommentare. Kotzt euch aus! Ich nehme es zur Kenntnis, lese es allerdings nicht. Toilettenfrauen und -männer schauen sich das, was sie wegputzen, auch nicht durchs Mikroskop an. Ihr pinkelt, ich wische - das ist der Deal. Und laßt euch viel Zeit, zum Wohle der Gesellschaft. Ein Versuch nur. Denn ob es noch was hilft, bezweifle ich stark. Wenn plötzlich alle, die ihren Verstand als Mythos, als Märchen abtun, hier zum pissen beginnen, dann ersaufe ich, dann ersäuft dieses Land in derselben Suppe, in der es schon mal ähnlich ersoff.



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De auditu

Freitag, 5. August 2011

Es ist nicht mehr hoffähig, von Gut oder Schlecht zu sprechen. Man wägt ab und durchleuchtet auf Nutzen, auf Kosten sowieso und fällt dann ein Urteil im Stile des Einerseitsandererseits. Es sei gut oder es sei schlecht, vernimmt man dabei spärlich. Aus der Mode! Selbst der Dienst am Nächsten wird nicht als gut begriffen, man tut nichts Gutes, man übt sich in Menschlichkeit. Die Menschlichkeit, wie sie heute sprachlich gebraucht wird, beinhaltet Gutes.

Menschlichkeit ist Güte, Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft, Empathie, Liebe. Wir erkennen in der Menschlichkeit Vorzüge. Wenn wir jemanden auffordern, er solle sich bitte etwas menschlicher verhalten, dann meinen wir, er sollte zartfühlender sein. So wie der Mensch eigentlich ist: und zwar gut. Das geht so weit, dass soziale Strukturen im Tierreich zur Menschlichkeit verklärt werden. Wie menschlich die Meerkatzen im Umgang miteinander doch sind, weil sie ihre Artgenossen vor Gefahren warnen! Die Begriffsverwendung ist eine Verknappung, sie tilgt die traurige Erkenntnis vieler Jahrhunderte, dass Menschlichkeit auch Gnadenlosigkeit, Egoismus, Gleichgültigkeit, Gewaltbereitschaft und Hass ist. Auch diese Eigenschaften entsprechen dem Menschen, sind menschlicher (allzumenschlicher) Abkunft, machen seine Menschlichkeit aus. Der Mensch, er ist in alle Richtungen hin denkbar. Menschlichkeit ist lieben und hassen, ist karitatives Engagement und Atombombe, ist Zivilcourage und Mord. Es ist menschlich, gut zu sein - es ist menschlich, schlecht zu sein.

Im Alltag gebrauchen wir die Menschlichkeit jedoch lediglich, um die guten Seiten am Menschen aufzudonnern. Es ist, als wollte man damit dieses eigentliche, ja dieses eigentlichste Wesen des Menschen sprachlich adeln. Die menschliche Schlechtigkeit erhält das Attribut unmenschlich, gerade so, als sei der Mensch nicht schlecht, als könne nur einer, der nicht Mensch sei, dorthin tendieren. Die Forderung nach einer menschlicheren Gesellschaft nimmt somit besorgliche Züge an. Denn eine Gesellschaft ist auch menschlich, wenn sie auf Gier baut, auf egoistische Subjekte oder gar auf Gewalt. Sie wäre es freilich auch, wenn sie auf Ausgleich bedacht wäre, friedlich und altruistisch. Mehr Menschlichkeit zu erbitten, ist somit eine Jonglage mit sich aufhebenden Positionen. Menschlichkeit ist schwammig, undefinierbar, weil das Wesen des Menschen undefinierbar ist, weil es den Menschen an sich nicht gibt.

Progressiver Geist sollte weniger von Menschlichkeit fabulieren. Es ist nicht alles gut was menschelt. Er sollte den Mut haben, sich der etwas vermotteten, aber doch weitgehend klareren Begrifflichkeiten wie Gut und Schlecht zu bedienen, sich also an die Ethik ranmachen. Menschlichkeit ist Kooperation wie Kriegsrecht, paritätisches Sozialwesen wie Rücksichtslosigkeit gegenüber Kranken, Frauenhäuser wie beschnittene Kitzler, zärtlicher Liebesakt wie Vergewaltigung. Kurz, wer mit der Menschlichkeit ins Feld zieht, zieht mit einem undefinierbaren, weil zu breit gefächerten Spektrum ins Getümmel.



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... die sprechen alle Deutsch

Donnerstag, 4. August 2011

Urlaubszeit ist und Springers Primus wartet mit einer jahreszeitkompatiblen Serie auf. Urlaub für immer, nennt sich das recht langweilige, wenig informative Ding. Da kredenzt man dem Leser einen Rentner, der auf Mallorca sein Eiapopeia gefunden hat. Fester Wohnsitz Mallorca! Sein Gesundheitszustand besserte sich auf spanischem Boden ungemein (ein Argument, das bei Florida-Rolf nicht gegolten hat!) und mallorquinische Tomaten und Zitronen schmecken ihm gar köstlich - und überdies durfte er vor Spaniens Monarchin Choräle trällern! Ja, man möchte neidisch werden! Kurzum, es ist ein Berichten für die üblichen Springer-Spießer, die Fernweh befällt.

Und doch bleiben Seltsamkeiten offen, die man mit der üblichen BILD-Hetze in Relation setzen sollte. Ein fader Beigeschmack, denn integriert wirkt der Mann nicht gerade.

Nein, nicht wegen dem speckigen Unterhemd, das dortzulande nur wenige spanische Männer freiwillig anlegen würden. Nein, weil der Herr Rentner nämlich erzählt, dass es tolle Ärzte auf der Insel gibt - was ja nicht weiter stört. Aber nun kommts, ich zitiere: "... die sprechen alle Deutsch." Soso, die sprechen alle Deutsch! Wie denn, spricht der Mann, der nun in Spanien lebt, etwa kein Spanisch? Sind wir etwa schon so weit, dass Inländer Fremdsprachen erlernen müssen, um der Überfremdung Herr zu werden?

Dabei lehrt uns Friedes Flaggschiff seit Jahren, dass sprachliche Integration das A und O sei. Wer hier leben möchte, der muß Deutsch können - nein, der sollte nicht Deutsch können, das klänge ja nach Option, nach Vielleicht, der muß es können, ganz diktatorisch, der muß! Herr Rentner kann aber kein Spanisch, obwohl er in Spanien lebt. Wie soll er sich denn integrieren, wenn die Ärzte ihn auf Deutsch zuschwallen? Wie soll denn Ayşe Deutsch lernen, wenn hier angesiedelte Ärzte türkische Sprechstundenhilfen einstellen, die der Patientin alles übersetzen? So las man das jedenfalls schon oft, wenn man ausländischen Mitbürgern entgegenkam. So weit kommen wir noch, schimpften dann die besorgten Leser, dass wir alle Türkisch lernen müssen. Christian Ströbele empfahl vor Jahren, wir sollten auf die Zuwanderer zugehen und deren Sprache, wenigstens rudimentär, erlernen. Ui, was wütete Springer da! Ströbele, ein Phantast! Ströbele, ein Gutmensch! Eine ganz linke Kanaille! So weit kommts noch!

Aber der deutsche Rentner, Wohnsitz in Spanien, wackelt zum Arzt, der mit ihm Deutsch redet. Ich mache ihm ja keinen Vorwurf, man verstehe mich bloß nicht falsch. Ich mache ja auch dem hiesigen Türken keinen, wenn er mit dem türkischen Mädel im Weißkittel in der Sprache seiner Eltern parliert. Man will ja doch schließlich beim Arzt verstehen, woran man aktuell dem Tode näherrückt. Ich würde mich auch freuen, wenn man mir in einer Sprache, der ich mächtig bin, mitteilen würde, dass ich zu fett bin. Nicht, dass mir am Ende noch entgeht, dass ich es bin. Dem Ollen mache ich keinen Vorwurf, aber denen, die über ihn berichten und wie selbstverständlich abdrucken, dass mallorquinische Ärzte deutscheln, die muß man schon mal nach ihrer Doppelmoral fragen dürfen.

Denn es sind dieselben Knallköpfe, die im Ressort Politik über die Verweigerungshaltung der Muslime räsonieren. Die wollen kein Deutsch lernen, leben in Parallelgesellschaften... der übliche Sermon dürfte nur zu gut bekannt sein, lassen wir ihn deshalb ruhen, zitieren wir ihn nicht nochmals ausgiebig. Diesem doppelmoralischen Dilemma entkäme man jetzt nur, wenn man öffentlich dazu aufrufen würde, dass verrentnerte Deutsche, die ihr Domizil ins Ausland verlegt haben, gefälligst die Heimatsprache zu büffeln haben - das alles im Sinne der Integration und des Respekts gegenüber den Gastgebern. Oder sind, ganz im Gegensatz zu den Deutschen, die sich als Herren in ihrem Lande fühlen, Spanier nicht Herren und dortige Deutsche nicht Gäste? Müssen die Spanier froh, ja dankbar sein, dass da jemand seine Rente bei ihnen verjuxt?

Der Leser springerscher Zoten, die man hausintern Journalismus nennt, darf sich in dem wohligen Gefühl des Wir-dürfen-uns-alles-erlauben! suhlen, welches man ihm da täglich vermittelt. Wer zu uns kommt, soll uns respektieren - zu wem wir gehen, der hat uns Respekt zu zeigen. Schließlich sind wir Hausherren - schließlich sind wir Gäste. Hausrecht - Gastrecht - je nach Bedarf und Situation: stets unser Recht!


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Jedem Anfang wohnt die Rachsucht inne

Mittwoch, 3. August 2011

Die Problematika, die Umwerfungen mit sich bringen, ist dieser Tage wieder leicht zu lesen. Nach langer und zäher Tyrannei entledigte sich das ägyptische Volk seines Despoten. Nun wütet eine Militärjunta, die die Demokratie nach Maghreb-Art einführen soll. Behäbig natürlich, nur langsam versteht sich. Man will nicht verschrecken, den Pöbel nicht überfordern. In der Kriechspur jener Schnecke, die hier Demokratisierung genannt wird, droht nun die Hinrichtung des ehemaligen Quislings, einst bezahlt von seinen Auftraggebern des demokratischen Westens, jetzt fallengelassen.

Damit sich alles ändert, muß alles gleich bleiben?

Besonders dramatisch sind jene zwei Paradebeispiele, die man aufführt, wenn man belegen will, dass der Geist der Revolution sich immer an den Überresten des vorherigen Regimes verschluckt. Der Zar schickte vornehmlich nach Sibieren, was zwar keiner humanistischen Gesinnung geschuldet war, doch eine unvergleichliche Besserstellung zum leninistisch-stalinistischen Massenmord war. Bevor das Fallbeil einziger Gegenstand französischer Innenpolitik war, konnte man sich im königlichen Frankreich jedenfalls noch vorstellen, Dissidenten einzusperren, sie nicht gleich auf Nackenhöhe zu durchschlagen. Einige Nummern kleiner dann dasselbe Trauerspiel. In Havanna liquidierte man weiterhin unliebsame Personen, so wie einst unter Fulgencio Batista - nachdem die Europäer abgezogen waren, gab es weiterhin massenhaften Tod in den unabhängigen Staaten Afrikas, die freilich so unabhängig nie waren - nachdem die Unterschriften auf der Unabhängigkeitserklärung eingetrocknet waren, wurde nicht etwa die Todesstrafe als unfreiheitlich diffamiert und abgeschafft, sondern als Gabe der vormaligen Herren weiterhin praktiziert; wahrscheinlich sah man die Todesstrafe für nicht besonders unfreiheitlich an, weshalb sie im Freiheitsdrang der Amerikaner keine Rolle spielte.

Man ist fast geneigt den Umkehrschluss von Guiseppe Tomasi di Lampedusas Bonmot zu ziehen. Der schrieb einst in seinem Leoparden, es müsse sich alles ändern, damit alles so bleiben kann, wie es ist. Gilt dann etwa auch, dialektisch umgedreht quasi, dass alles so bleiben muß, damit sich alles ändern kann? Fast sieht es so aus. Man löst mörderische Machthaber und deren Systeme ab, läßt aber viel zu oft wesentliche Aspekte des Vergangenen atmen. Weniger abstrakt etikettiert: Mubaraks Regime wurde aufgrund eklatanter Ungerechtigkeiten und unrechter Triebe wegen ins Geschichtsbuch diktiert. Doch dasselbe Unrecht soll nun dem widerfahren, in dessen Namen Unrecht geschah. Hatte man nicht, eine Weile wenigstens, den Anspruch, besser sein zu wollen, als das, was es schon gab?

Leben lassen - jetzt erst recht!

Die westliche Welt buhlt mit denen, die Mord für nebensächliche Alltäglichkeit halten, jedenfalls nach hiesiger Auslegung der Geschehnisse, um die ideologische Vormachtstellung. Der Westen hier, demokratisch, milde, fair - der Osten dort, tyrannisch, grob, niederträchtig. Bin Ladin tötete man dann aber ohne Verfahren. Den Schlächter Hussein, den man verübelte, Legionen von Menschen in den Tod geschickt zu haben, überstellte man auch dem Tode - der Strang, an dem er baumelte, war sein Strang ehedem. Die demokratische Welt zog vor Jahrzehnten in einen globalen Krieg gegen Faschisten, gegen große wie kleine, gegen Weltverbrecher wie Westentaschen-Cäsaren. Die lieblichere Ideologie sollte obsiegen, hat sie letztlich auch. Am Ende richtete man die Verbrecher hin, ganz gnadenlos, fast mit faschistischer Selbstgerechtigkeit nach einem Verfahren, bei dem das Urteil schon anfangs in den Bart genuschelt wurde. Kurzum, die bessere Version der Welt, die man schnell ideologisch für sich in Anspruch nimmt, ist oftmals nur reine Schwätzerei. Wenn man den personifizierten Tod, der ohnmächtig wurde, und der nun wie ein Häufchen Kehricht vor seinen Richtern sitzt, selbst tötet, kann man dann noch behaupten, man sei vorteilhafter, man sei ein höhergestellter Entwurf?

Konsequent wäre gewesen, Hitler leben zu lassen - und da sich dieser entzog, wir trauern dieser Entscheidung nicht hinterher!, hätte man die Hitlerchens zu Nürnberg nicht erhängen dürfen. Man hätte der Welt zeigen müssen, dass man tatsächlich menschlicher ist, als die entmenschlichte deutsche Gesinnung jener Tage. Leben lassen - jetzt erst recht! Um es den Unrechten zu zeigen! Es geht auch anders!, wäre die Mahnung gewesen, die man damit vermittelt haben würde. Einsperren sicher! Lebenslänglich, mit Sicherheitsverwahrung, wenn nötig. Das wäre immer noch ein Fortschritt. Hussein hätte man einkerkern sollen, unter menschenwürdigen Bedingungen selbstverständlich, damit dieser Massenmörder und seine Anhänger gesehen hätten, wie großzügig ein besonnenes Staatswesen sein kann. Indem man Bin Ladin vor ein Gericht gestellt hätte, danach ab ins Gefängnis, wenn die Beweislast stimmte, wäre auch ihm bewiesen worden, dass Rachsucht nicht die Sache derer ist, die vorgeben besser zu sein. Aber so?

Auch der Schuft hat Anspruch auf eine bessere Gesellschaft

Mittel müssen dem Zweck gerecht werden. Belagert mit der protestierenden Absicht die Straße, mehr Gerechtigkeit walten zu lassen, muß dieses Prinzip auch für die Husseins, Bin Ladins und Mubaraks gelten. Alles andere ist nur Rachsucht, auch wenn man dieses Gefühl, Rache üben zu wollen, als Mensch natürlich nachvollziehen kann. Doch menschliche Affekte sind keine Basis, wären sie es, müsste man die Machtsucht, ohne Zweifel auch ein menschliches Attribut, als legitime Grundlage einer Regierung oder eines Diktators akzeptieren. Was zählt sind Ideale, die sich freilich nicht immer eins zu eins ins Leben spiegeln lassen, gleichwohl aber als Skalierung notwendig sind. Will man Veränderungen mit Mittel erwirken, die dem Zweck nicht gerecht werden, so sind sie abzulehnen. Frieden entsteht nicht durch Krieg, Freiheit nicht durch Gefangenschaft, Liebe nicht durch Hass - und eine gerechtere Gesellschaft kann nicht erblühen, wenn sie im Säuglingsalter schon Unrecht begeht.

Wer die Gewaltherrschaft des alten Despoten für einen Affront hielt, der muß auch die ihm drohende Todesstrafe für einen solchen halten. Mubarak gehört inhaftiert und enteignet, seine Kamarilla gleichfalls. Tötet man ihn, sei es auch noch so legal, noch so richterlich abgesegnet, so beweist man nur: man braucht keinen Despoten, um Unrecht zu tun - man braucht nur das Unrecht, um weitere Despoten zu züchten.



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