The Lobbyist

Freitag, 28. September 2012

Reindl, immer dieser Reindl, immer er.
Wenn Benzin teuer ist oder teurer werden soll: Reindl.
Ist die Rede von Maut: Reindl.
Tempolimit und Innenstadtverbote: Reindl.

Stelle ich mir einen Pressesprecher, einen Lobbyisten vor, der nicht Mandatsträger bearbeitet, sondern die Öffentlichkeit nach Verbands- oder Unternehmenswillen schleift, so stelle ich mir diesen Mann vom ADAC vor, den ich seit Jahren in allen Nachrichtensendungen, auf allen Kanälen, vor hundert Tankstellen und achtzig Autobahnabfahrten gesehen habe.

Sein Standardsatz ist, dass immer die Autofahrer die Zahlmeister seien. Seiner Norm entspricht, dass der Autofahrer büsst, geradesteht und ausbadet. Der Spielplan seiner Argumente ist schmal. Sieht man ihn, weiß man, was er gleich sagen wird. Er ist das Gesicht schrecklich benachteiligter Autofahrer.

Ist der Sprit teuer, so sagt er: Immer sind es die Autofahrer, die Steuerkassen füllen!
Gegenüber den Mautmäulern, stellt er klar: Stets die Autofahrer, die bezahlen sollen!
Will man Innenstädte sperren, so schimpft er: Autofahrer zahlen alles, dürften dann aber die Straßen nur begrenzt nutzen!

Man muss sich diesen Text und die Arbeit dieses Mannes, wie jedes Lobbyisten an der Masse, mit der Melodie von The Entertainer unterlegt vorstellen und sich dabei einen stummfilmisch stummquasselnden und mit Händen argumentierenden Pressesprecher vor seinem geistigen Auge denken. Mit Kratzern auf der Tonspur unterlegter Ragtime zur flotten Laufgeschwindigkeit von Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Jeder Lobbyist wirkt auf mich wie eine übertriebene Aufnahme aus Stummfilmzeiten. Zwar reden sie nicht wenig, viel zu laut manchmal, aber sie rattern Plattitüden runter, wiederholen Wiederholungen, haben zurechtgelegte Phrasen, sodass es so wirkt, als sagten sie gar nichts, als seien sie stumm.

Ich will diesen Mann nicht verteufeln. Eine Kapazität seines Faches ist er auch nicht. Und es gibt sicherlich unsympathischere Pressesprecher. Er wirkt wenigstens onkelig - andere eher ekelig. Was er vertritt oder wegtritt, unter den Teppich tritt und zertritt, ist ja relativ harmlos. Auch Autofahrer brauchen Fürsprecher - Autofahren ist ja wirklich teuer. Aber ist es nicht zu einfach, mit immer gleichen Sätzen, die immer gleichen Argumente aus der Politik zu kontern? Könnte man beispielsweise nicht verstärkt Alternativen zum Autofahren einfordern als mächtiger Verband? Ist das nicht auch ermüdend? Macht es nicht irgendwo auch einen witzigen Eindruck auf den stillen Beobachter?

Ist doch ulkig, wenn der Reindl dem Benzinpreis die verbale Faust zeigt.
Ist doch witzig, wenn der Reindl, jetzt in neongelber Weste, vorher im Jackett, den Verkehrsminister rüffelt.
Es ist doch der beste running gag, wenn Reindl, jetzt hemdsärmelig, dieselben Worte wie vorhin gebraucht, um zu sagen, dass die Geschichte aller bisherigen Klassenkämpfe die Geschichte von Autofahrern sei.

Den Mann kannte ich nicht. Ich habe ihn kennengelernt durch seine stoische Dauerhaftigkeit. Man kennt sich halt vom Sehen. Wenn ich heute irgendwo höre, dass was auch immer es die armen Autofahrer seien, dann denke ich mir einen Reindl, einen zwischen Sendeanstalten und Terminen abgehetzten Herrn. Und irgendwie wächst er einem ans Herz, der lobbyistische Pressesprecher, dieser Interessensvertreter auf Arbeitnehmerbasis.

Geht das denen, die ständig Lobbyisten an ihrem Rockzipfel hängen haben, ähnlich? Plötzlich Sympathie für diesen Kerl, der immer und immer und immer wieder sagt, dass die Atomkraft weiterhin nötig sei? Hegt man plötzlich Zuneigung für den Burschen, der die Sorgen der hiesigen Arbeitgeber betont und betont und abermals betont? Lächelt man nicht belustigt, wenn erneut diese Frau vor einem steht, die meint, Privatrente sei Privatrente sei Privatrente sei Privatrente? Alle irgendwie niedlich in ihrer Beschränktheit, in ihrem Einsatz auf ein Ziel hin. Es wirkt halt so dumm und tapsig - und letztlich niedlich wie ein sich an eine Nuss klammernder Hamster vielleicht. Man hüte sich vor denen, die dümmlich wirken, denn die beeinflussen die Vertreter der Öffentlichkeit nachhaltiger als seriöse Gestalten, vermute ich.

Vielleicht muss man sich diesen Text über die Arbeit von Lobbyisten und über den Reindl, der eigentlich nicht richtig in diese Riege passt, auch als theatralische Tragödie vorstellen. Im Kino muss der Mime nicht dick auftragen, seine gespielten Gefühle können angedeutet werden, die Kamera ist nahe genug bei ihm, um jedes Fältchen einzufangen, um jede Träne, die ihren Lauf nimmt, sofort zu zeigen. Im Theater weint man nicht bedächtig, man tobt über die Bühne, schluchzt, johlt, wiederholt immer wieder, wie gemein die Welt sei und wie ungerecht das eigene Leben, schluchzt nochmals, brüllt Bä-hää-hää-hää-häää, nur damit der Typ auf den billigen Plätzen erahnt: Aha, der ist wohl traurig ...
Vielleicht muss man sich Lobbyisten als theatralische Mimen vorstellen - nur besser bezahlt und weniger verheult, nehme ich an.

Gut, der Pressesprecher ist nicht das, was man als Lobbyisten bezeichnet. Der Lobbyist macht mehr, er liefert von ihm bestellte Studien mit von ihm bestellten Ergebnissen im objektiven Ton, macht ein wenig Beratung. Nicht immer zwar, aber häufig kommt das vor. Jedoch manchmal reicht ja die bloße Berieselung durch Repetitio schon aus, um die Interessen seines Herrn zu erfüllen.

Reindl ist nicht der typische Lobbyist, er ist ja auch Pressesprecher. Aber müsste ich einen Film über Lobbyismus drehen, einen satirischen Unterhaltungsfilm mit Tiefgang, so würde ich mir einen Interessensvertreter ins Drehbuch schreiben lassen, der wie Reindl auftritt. Emsig zwischen ARD und RTL, weniger emsig bei der sprachlichen Modifikation seiner wenigen Botschaften an die Öffentlichkeit. Eine Spur Zynismus würde ich ihm aber obendrauf verleihen, die geht Reindl nämlich ab - um den zu beweisen, ist er vielleicht auch zu kurz im Fernsehen zu sehen; man sieht ihn ja nur, wenn er sagt, was er vorhin schon drei Programme vorher gesagt hatte ...



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Verfassungsschutz ist nötiger denn je

Donnerstag, 27. September 2012

Der Verfassungsschutz braucht eine dringende Reform. Neulich ein Leitartikel in der Frankfurter Rundschau: Macht der Verfassungsschutz noch Sinn?, fragte der. Macht er? Ja, unbedingt! Aber er gehört neu ausgerichtet und reformiert - und sozialisiert.

Eine Bevölkerung, die die Spione beobachtet

In jenem Leitartikel fragte man zwischenüberschriftlich, ob es Spione braucht, die die Bevölkerung beobachten sollen. Die Frage ist falsch gestellt. Wir brauchen gegenteilig eine Bevölkerung, die die Spione der Entdemokratisierung beobachtet und die Exekutivgewalt genug hat, dieser Spione habhaft zu werden. Spione meint hier, die Ausspäher (Spionage vom lat. spicari für ausspähen oder erspähen), die der Marktradikalismus aussendet, um in all die ungesicherten Nischen und verwaisten Vakua einzudringen, sie den Entdemokratisierern als Bericht vorzulegen, um deren Absichten zielgenau zu verwirklichen.

Wir brauchen nicht den Verfassungsschutz, sondern ein verfassungsschützendes Bewusstsein. Wie kann man so blind fragen, ob Verfassungsschutz noch Sinn macht, wenn wir doch täglich davon lesen müssen - wir lesen davon ja nicht, wir erahnen es nur zwischen den Zeilen -, dass die Verfassung gefährdet ist? Der Verfassungsschutz ist dringender denn je, nur jagt er falschen Gefährdern nach, nur ist er selbst Gefährder und Instrument etwaiger Gefährder geworden. Das heißt nicht, dass wir ihn nicht brauchen, wir brauchen ihn nur anders. Erst als Bewusstsein und dann als transparente Institution, die sich weder parteipolitisch noch wirtschaftlich delegieren läßt, sondern der direkten Kontrolle des Souveräns ausgesetzt ist.

Noch Sinn? - Wegen all der Sinne!

Die Politik demontiert im Namen einer Wirtschaft, im Namen des Marktradikalismus, für die Instandsetzung einer marktkonformen Demokratie, die Verfassung. Sie braucht Schutz. Es sind die Heilslehrer, die dem Neoliberalismus zu Seriosität verhalfen, die Anschläge auf die Verfassung verübten. Leute wie Sinn - der kluge Professor aus dem ifo-Hause. Er kann stellvertretend für eine Zunft und ihre Geldgeber stehen. Macht der Verfassungsschutz also noch Sinn? Ja, damit er uns endlich alle Sinne raubt! Sie wegsperrt, sie juristisch einlullt, sie um ihre falsche Reputation bringt. Aller Sinne berauben - so ein mattes Wortspiel! Hier allerdings trefflich. Der Verfassungsschutz hat nicht als Einrichtung herrschender Interessen zu arbeiten, er hat gegen die Interessenten an der Herrschaft gerichtet zu sein, die für ihre Ziele jede verfassungsmäßige Schranke mit der Axt bearbeiten.

Volle Transparenz des Verfassungsschutzes gegenüber dem Bundestag und der Öffentlichkeit, dazu die Umsetzung glasklarer Gesetze zur Durchgläserung von Bundes- und Landtagabgeordneten und ein bürgerliches Petitionsrecht, das es möglich macht, den Verfassungsschutz quasi per Antrag gegen die zu richten, die an die grundgesetzlich verbürgten Rechte tasten, die sie auflösen wollen. Das wäre ein Verfassungsschutz, der sinnig ist!

Das unendliche Feld möglicher Betätigung aufzeigen

Der Verfassungsschutz ist nötiger denn je; die Verfassung ist gefährdet wie nie. Nicht von Rechts, schon gar nicht von Links, sondern von einer ökonomisierten Mitte, die ihr Zentrum immer mehr an die rechte Peripherie verlagert. Der Verfassungsschutz kann doch nicht in Zeiten, da er endlich das Betätigungsfeld hat, das er immer als Existenzberechtigung brauchte, abtreten. Man muss ihm nur endlich die Augen öffnen, dass es derzeit ein schier unendliches Feld an möglicher Betätigung gibt. Das gibt es schon seit Jahren, seitdem der Neoliberalismus sich anschickt, zum neuen grundsätzlich Grundgesetz werden zu wollen, zur ökonomischen Grundhaltung aller gesellschaftlicher Entwicklung. Vielleicht sollte man dem Verfassungsschutz mal zeigen, welche Verfassungsfeinde sich ganz ungeniert im öffentlichen Raum tummeln - vielleicht bekommt er es ja nicht mit, vielleicht ist er nicht in der Verfassung, verfassungsfeindliche Impulse in Krawatte und hinter seriös klingenden faschistoiden Reden zu erkennen.

Mittels Lissaboner Vertrag und ESM ist er schon vorgedrungen in die Präambeln und Leitmotive - da hätte ein gewissenhafter Verfassungsschutz Sinn gemacht! Nur er hat geschlafen, wie beim rechten Terror - er war damit beschäftigt, Politiker von Die Linke beim Einkaufen zu observieren. Trinken die Rotkäppchen-Sekt? Ist hieraus eine Affinität zum Unrechtsstaat DDR abzuleiten? Während sie kleinkariert das Konsumverhalten von Linken beobachten, demontieren andere die Verfassung. Wir benötigen einen Verfassungsschutz, der in der Verfassung ist zu erkennen, vor wem er die Verfassung schützen muss.



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Sit venia verbo

Mittwoch, 26. September 2012

"Als jemand aus dem Osten hatte ich tatsächlich das Gefühl, aus der Zukunft zurückgekehrt zu sein. Jetzt gab es nur noch Gegenwart. Die Zukunft war in der DDR von offizieller Seite her notgedrungen positiv besetzt gewesen. Doch auch ich hatte, wie die meisten anderen, Erwartungen an die Zukunft, mit denen sich Hoffnungen auf eine bessere Gesellschaft verbanden. 1990 kam uns der Begriff der Zukunft abhanden. Zukunft konnten wir nur noch als ein graduell verbessertes Heute denken, aber nicht mehr als etwas anderes. Wir waren ja bereits in der besten aller Welten angekommen. Der Kampf war entschieden, der "Sieger der Geschichte" stand fest. Was der Westen gemacht hatte, war richtig, was der Osten gemacht hatte, war falsch. Fortan würde nur noch gemacht werden, was richtig war."

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Fanatiker mit, Fanatiker ohne Gott

Dienstag, 25. September 2012

Das Abendland gibt sich momentan provokant atheistisch und nennt es Meinungsfreiheit. Mit welcher Herausforderungshaltung und Verachtung seine "Intellektuellen" gegen den Islam schießen, grenzt an Perversion. Sicherlich verbergen sich hinter dem, was Islamkritik heißt, einerseits auch rechtsradikale Freaks - andererseits sind es aber atheistische und intellektuelle Affekte, die im Namen der Meinungsfreiheit einen beleidigenden Kreuzzug ausfechten. Dabei spielen sie den braunen Kretins auch noch in die deutschgrüßenden Arme. Und sie machen sich als religiöse Eiferer ohne religiösen Glauben lächerlich. Religion kommt von religare, von zurückbinden - sie ist also Rückbindung an Ideale und Werte, an Schriften und Erkenntnisse, ist folglich eine weltanschauliche Rückversicherung. Ob es darin einen Gott geben muss, steht nicht fest. Der europäische Atheismus, der dieser Tage im Namen der Meinungsfreiheit den Islam verspottet, ist als intellektuell verbrämte Verlängerung mittelalterlicher Kreuzzüge des Katholizismus ohne Kirche und Gott zu werten.

Hier diskutiert man rege, einen Film der mehr mit Volksverhetzung denn mit Meinungsfreiheit zu tun hat, auch wirklich publikumswirksam zu zeigen - dort wieder mal Karikaturen und immer mehr Karikaturen. Europa einig Provoland! Einig gegen den Islam - wenn man sich sonst schon über wenig Gemeinsamkeiten definiert: die Abneigung gegen den Islam vereint. Man hasst den Islam ja nicht - man ist nur für die Freiheit, man lehnt ihn nur im Namen atheistischer, wenigstens aber säkularisierter Errungenschaften ab. Man ist nicht rassistisch, nicht eurozentristisch, nicht leitkulturell verblendet - das wirkt zwar so, aber das sind nur Auswirkungen einer hehren Empfindung; man will dem Islam nur bringen, was man selbst als so außerordentlich bereichernd empfindet.

Die Empfindlichkeit des Islam ist sicherlich gewöhnungsbedürftig und manchmal unverständlich. Warum aber provozieren, Unruhe erzeugen, Geschmacklosigkeiten und Beleidigungen mit Meinung verwechseln? Warum annehmen, Mitglied einer Kultur zu sein, die mehr gelten soll, als es die islamische Kultur angeblich tut?

Es sind neben den üblichen rechtsgerichteten Halbseidenen und nationalistisch-abendländischen Spinnern solche, die sich als linksliberale Atheisten sehen, wenn sie Mohammad einen guten Kinderschänder sein lassen. Konkretisierung: Atheisten meint vermutlich das, was man säkularisierte Intellektuelle nennen sollte - scheinbar von Kirche und religiöser Moral entwundene Charaktere, die nicht dumm sind, die sich aber durchaus dumm anstellen beim Umgang mit dem Islam, die in die rechte Falle tappen und damit den ganzen Rassisten aus der Mitte und von Rechts ein Forum zutragen; Charaktere, die auch ihre Leistungen im aufklärerischen Bereich aufs Spiel setzen - siehe Wallraff, der mehr und noch mehr Karikaturen fordert, der im Namen der Meinungsfreiheit den Markt mit religiöser Beleidigung geflutet wissen will. Das ist ein intellekueller Offenbarungseid - erneut. Wallraff und die gestiefelten Straßenkater in braunem Polo auf einer Linie. Nicht gewollt vielleicht, aber er hat auch nichts dafür getan, um nicht dort verortet zu werden.

Die mit den gewichsten Springerstiefeln sind ja nicht "islamkritisch", weil sie so gottlos wären - nein, diese Stiefelwichser sprechen ja von Gott und Vaterland. Aber die intellektuelle Meinungsfreiheitsrhetorik geschieht im Angesicht einer gezielt und stolz zur Schau getragenen Gottlosigkeit. Sie macht deutlich, dass sie nicht an Gott glaubt, dass sie Gemeinde und Kirche für Scheiße hält, würde sich aber selbst nicht für atheistisch bezeichnen, weil die Erwähnung des Wortes so aggressiv wirkt. Jeder darf das natürlich so sehen - muss man es aber so voller Stolz tun, im Ausdruck, besser zu sein als solche, die weiterhin an Gott glauben und Kirche pflegen? Aber die pseudointellektuelle Freiheitsrede sieht nun Menschen, die empfindlich auf religiöse Beschmutzung reagieren und hat helle Freude daran, diese Empfindlichkeiten weiter auszutesten,, auszuloten, anzufachen. Im Namen von westlichen Idealen natürlich - Atheos lo vult! Heißt das übersetzt: Provokation ist eine westliche Errungenschaft? Provokationsfreude und die Überheblichkeit gegen andere Weltanschauungen sind Menschenrechte?

Sie erkennen in diesem atheistischen Eifer nicht, dass der Islam, wie jede Religion, einen modus vivendi darstellt, eine Einrichtung, die das Leben arrangiert und in Rahmen bannt - das kann man gut oder schlecht finden, nicht aber so tun, als sei das rückständig. Alles Zusammenleben von Menschen ist ein irgendwie gesitteter modus vivendi. Wie sich Gesellschaften modifizieren sollen, ist nicht die selbstgegebene Aufgabe so genannter aufgeklärter Gesellschaften, die sich ihren modus vivendi von Religion auf die Ökonomie haben übertragen lassen.

Religion kann viele Götter haben - oder einen, meist den einen Gott. Wer sagt denn, dass sie nicht auch ohne Gott auskommt? In Zeiten von Personalabbau ist auch das denkbar. Religion könnte mit Rückbindung übersetzt werden, wie schon oben erklärt. So waren die Kreuzritter theoretisch an die Ideale rückgebunden, die Bibelexegeten ihnen erläuterten - so sind gläubige Moslems an Suren rückgebunden - Kommunisten, denen man nicht selten religiösen Eifer nachsagte, banden sich bei Marx rück - und der Säkularismus, der Atheismus tut es bei den Idealen, die seit der Französischen Revolution und verstärkt seit Eintritt des Konsumismus in die Welt, Verbreitung fanden. Man braucht keinen Gott, um religiös zu sein - siehe jenes heutige Europa, das provokant und aufgeklärt all jene mit seinem sendungsbewussten Eifer eindeckt, die eine andere Religion besitzen, wie jene, die genehm wäre zu akzeptieren. Polytheismus, Monotheismus, Atheismus - alles Religionen, die einen mit Göttern oder Gott, die andere ohne. Braucht es aber nicht, denn Religion ist nicht gottesfixiert, sie ist genauer gesagt ausgerichtet auf ein Absolutum. Das kann Gott heißen oder Konsum - oder es heißt Gottlosigkeit. Die absolute Gottlosigkeit, die jeden religiösen Aspekt verlacht, ist auch ein Absolutum, auch ein Götzendienst. Die einen stellen sich auf dem Thron einen anthropomorphen Mann vor, die anderen nur einen leeren Thron. Aber der Thron bleibt! Den können sie sich nicht wegdenken, irgendwas bleibt immer absolut im Kopf.

Diese Empfindlichkeit, die Moslems wie alle Religiösen auf Erden zeigen, ist sicherlich teilweise grotesk. Und fremde Spezies, die auf den Erdenball lugen, lachen sicher herzlich über diese aufgebrachte Kreatur Mensch. Aber ihre religiösen Institutionen sind ihnen eben wichtig. Uns sind ja auch Dinge wichtig; wir eifern ja auch, wenn man unsere Heiligen beleidigt und sie zu schnell sterben läßt, dann pilgern wir auch auf Straßen und beweinen Jacko und Witney und wie sie alle heißen, die zur Rechten Mammons sitzen. Und wehe dem, der die Religion verpfeift, einen Elfmeter gibt, der keiner war - aufgebrachte Kreatur Mensch im Stadionrund. Schon mal die aufgebrachten Kreaturen gesehen, die gegen Überfremdung marschieren, die Homosexuelle kriminalisieren, die Sozialgesetze als Stalinismus diffamieren?

Das Säkularisierte ist keine evolutionäre Stufe, die über allem steht, was sonst in der Welt ist. Es ist nur eine Art die Welt zu sehen. Eine, die man durchaus für sich selbst bevorzugen kann und soll - aber keine, die Leviten lesen darf. Sie ist ein modus vivendi, wie in vielen Regionen dieser Welt, andere Modi entstanden sind, um das (Zusammen-)Leben irgendwie zu meistern. Der Atheismus ist insofern ebenso, wie das Säkularisierte, ein Modus, die Welt zu deuten, um in ihr Leben zu können. Theismen benötigen hierzu Gott, die vielen verschiedenen Spielarten des Atheismus - die Polyatheismen - kommen ohne ihn aus. Was man in Europa erlebt, wenn man wie selbstverständlich glaubt, die Provokation sei ein Menschenrecht und die Schmähung anderer Kulturkreise europäische Errungenschaft, die man der gesamten Welt bringen sollte, wie Prometheus den Menschen das Feuer - was man heute in Europa erlebt, das ist der Zorn religiöser Fanatiker ohne Gott, die den Zorn anderer religiöser Fanatiker mit Gott ernten.

Den Film verbieten? Karikaturen unterbinden? Mit dem § 166 StGB drohen? Nein! Verbote sind wahrlich nicht das Mittel. Aber Einsicht wäre notwendig. Bloß die kann man nicht erzwingen, nicht auferlegen. Einsicht, nicht besser zu sein; Einsicht, dass andere Kulturen anders sind, dass ihnen andere Dinge heilig sind. Einsicht: eigentlich etwas, das man dem atheistischen Lebensentwurf, der sich nun den Rechten in ihrem Kampf gegen den Islam zugesellt, attestieren wollte. War doch der Atheismus stets um Einsicht bemüht, forderte er Einsicht vom Theismus ein, um toleriert zu werden. Aus der Einsicht wird nicht selten Eifer, manchmal blinder - und am Ende kasperln sich Atheisten gegen den Islam ab, machen sich zu Steigbügelhalter für die Unfreiheit und meinen auch noch, einen ganz besonders wertvollen Beitrag zur Verbesserung der Welt geleistet zu haben.



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Bombig interpretiert

Montag, 24. September 2012

Die Nachrichten von gefundenen Weltkriegsbomben häuften sich, seitdem in Münchner Stadtteil Schwabing eine spektakuläre Sprengung stattfand. Beinahe täglich ein neuer Fund. Zuletzt in Viersen - davor in Ismaning, Hamburg, Oberhausen, Nürnberg, Worms, Dortmund, Amsterdam und auf Helgoland. Kaum eine Nachrichtensendung, die nicht mit neuem Fund aufwartet - und man bekommt den Eindruck vermittelt, als würden die Alliierten viele Jahrzehnte nach dem Krieg noch nachbombardieren.

Flächenbombardement wie immer

5.500 Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg werden jährlich in Deutschland entschärft. 2009 wurden allein in Bayern 35 Tonnen Weltkriegsmunition gefunden. Aber jetzt erst erzeugen die Medien das dumpfe Gefühl, dass immer mehr, im Wochentakt oder fast täglich Bomben gefunden würden. Seitdem in Schwabing die Entschärfung einer Bombe durch Feuerball erevakuiert wurde, scheint jeder Bombenfund ein Spektakel zu sein, ein berichtenswertes Ereignis selbst für die überregionalen Medien.

Die Zahlen machen aber deutlich, dass mitnichten ein Mehr an ans Tageslicht gekommenen Bomben herrscht, sondern etwas ist, was ansonsten relativ unbeachtet höchstens einen mittellangen Artikel in den Regionalgazetten oder eine belanglose Tickermeldung in überregionaleren Zeitungen bewirkte. Es ist ein Flächenbombardement, wie es immer stattfand - nur dass sich sonst kaum jemand darum kümmerte. Erst Schwabing hat die Bombenfunde spannend gemacht und in Szene gerückt.

Immer mehr tote Bischöfe

Das erinnert an etwas, das man den Bischof-Effekt nennen könnte. Vor einigen Jahren haben sich regelmäßige Leser des Wikipedia-Nekrologs einer Weltverschwörung gegen den hohen katholischen Klerus gegenübergesehen. Von einen Tag auf den anderen führte dieser Nekrolog wöchentlich gleich mehrere verstorbene Bischöfe und Altbischöfe auf. Im Diskussionsfaden des Nekrologs wurde zynisch angefragt, ob denn innerkirchliche Säuberungen anstehen. Das Rätsel war keines, es war wohl nur die Wikipedia-Begeisterung eines oder wahrscheinlich mehrerer Menschen. Vermutlich fingen die plötzlich damit an, ihr Wissen über das Ableben diverser Kirchenvertreter in die Eingabemaske Wikipedias zu tippen.

Die angedachte Verschwörung gegen Bischöfe und Altbischöfe erwies sich als unsinnig - man hat nur damit begonnen, das Ableben dieser Kleriker chronistisch zu erfassen. Es starben nicht mehr Bischöfe und Altbischöfe als vormals, nur hatten sie mittels Wikipedia Öffentlichkeit erlangt.

... es kömmt darauf an, sie zu interpretieren

Das Abzählen und Chronologisieren wird gerne mit einer Häufung verwechselt. Klar, wenn man vorher etwas nicht beachtete, dem nun aber Beachtung schenkt, dann ist diese Schlußfolgerung eigentlich verständlich - aber sie ist falsch. Realität ist letztlich immer die Interpretation chronologisch erfasster Abläufe und Ereignisse. So kann alles wie immer sein und trotzdem kann durch mediale Vermittlung glaubhaft gemacht werden, dass etwas geschieht, was vorher nicht so war.



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Wider die Monokultur

Freitag, 21. September 2012

Es ist wahr, es entstehen Probleme beim Zusammenleben zwischen Deutschen und Ausländern. Wer das Problem ist, wird von der rechtsgerichteten Presse nur falsch interpretiert. Denn nicht die Leute, die hierkommen sind das Problem - problematisch sind meist diejenigen, die immer schon hier waren. Sie sind es, weil sie nicht kapieren wollen, dass es etwas wie eine ethnisch reine Gesellschaft nie gab und im Hinblick auf diese engmaschig vernetzte Welt zukünftig nie mehr geben kann. Multikulturalität ist nicht das Hirngespinst linker Spinner, sondern deren Leugnung ist die weltfremde Lebenslüge nationalstaatlichen Denkens. Wer heute noch glaubt, dass Deutschland den Deutschen gehöre, der ist das Problem - Schreihälse, die dergleichen rufen, wirken vielleicht nicht so, weil sie viele Befürworter finden, aber sie sind Anachronismen.

Mit auferlegten Anleitungen, wie eine Gesellschaft sich zu formieren habe, welche Traditionen sie pflegt, welche Bräuche sie feiern soll, wie sie sich zu aufgeworfenen Fragen in Stellung zu bringen hat, ist die Zukunft nicht gestaltbar. Die Dummköpfe, die dieser Tage dem dicklichen Hetzer aus Neukölln zustimmend die verschwitzte Hand tätscheln, sind blöd genug anzunehmen, dass die Leitung des Landes durch die, die schon länger anwesend sind, populistisch gesagt: dass die Leitkultur, einen Fortschritt verzeichnet. Sie ist es aber nicht im Hinblick auf eine immer kleiner werdende Welt - und sie ist es nicht, weil sie historisch gesehen eine relativ neue und noch junge Idee ist, die im letzten Jahrhundert mehr Schaden anrichtete, als Nutzen für alle Menschen einfuhr. Leitkultur ist der ausgedachte Irrsinn von Menschen, die die Entwicklung der modernen Welt nicht verstehen können - Leitkultur ist der Versuch, sich ein wohliges nationales Nest in einer Welt einzurichten, die für nationalen Standesdünkel keinerlei Begründungen mehr aufzuzeigen hat.

Das Problem sind die, die schon lange hier sind. Viele von ihnen rufen nun, der Islam müsse sich der Beleidigung stellen - das fordern sie nicht, weil sie so profanisiert sind, so säkularisiert, denn einen Jesus beim Schwänzeblasen und Gruppensex mit seinen Jüngern, modelliert von einem islamischen Freigeist, würden sie nicht ertragen wollen. So weit geht ihnen die Freude am Beleidigtwerden nicht! Sie wollen die Freiheit der Beleidigung gegenüber dem Islam, weil sie damit provozieren, weil sie ihrer leitkulturellen Rückständigkeit schmeicheln wollen, weil sie sich selbst vormachen, besser zu sein als die, die sie verachten.

Die Multikulturalität ist nicht gescheitert - sie birgt auch keine Chancen. Sie ist! Ganz schlicht: Sie ist! Mehr ist dazu nicht zu sagen. Man muss sie niemanden schmackhaft machen. Man muss aber wohl begreifen, dass sie mehr als je zuvor - und sie war zuvor stets mehr oder weniger Realität - eine Konstante wird, die nicht einfach mit auferlegten Vorgaben in Schablonen zu pressen ist. Wir stehen nicht vor der Wahl: Multikulti oder nicht? Das suggeriert mancher dickliche Neuköllner, das machen schiefbärtige Ex-Senatoren weis - aber diese Wahl gibt es nicht. Diese Wahl gab es nie. Diese Wahl gäbe es nur, wenn nationalistisch bis rassistischer Wahn Verfassungsrang erhielte, wenn wir zurück wollten in ein rassisch fundiertes Gemeinwesen. Ansonsten ist in einer Welt, in der Menschen eines Kontinents, teilweise global, ihren Lebensmittelpunkt frei wählen können - wobei frei in der kapitalistischen Welt synonym für ökonomisch gezwungen steht -, in der das Autochthone noch mehr als zuvor zur Seltenheit wird, keine Alternative geboten. Die wahre Alternativlosigkeit liegt nicht im ökonomischen Weg, der wäre veränderbar - sie liegt darin, dass multikulturelle Wege unumgänglich sind, natürlich vorgegeben.

Das kann man gut finden - oder nicht. Aber man kann keine Optionen aufzeigen. Der Kluge nimmt es so, wie es ist. Er arrangiert sich, er macht etwas daraus. Das ist wahrlich nicht immer einfach. Aber wenn man mit dem Gefühl herangeht, ein Gegeneinander sei die Grundlage, dann entsteht kein Miteinander oder Nebeneinander in friedlicher Koexistenz. Dann entsteht dieser Wahn, der meint, er habe eine Wahl. Hat er nicht! Das Autochthone war seitdem wir den Status als Naturvölker verlassen haben, nur ein Gespinst. Es war immer relativ. Und es wird in dieser schnellen Welt noch gespinstischer; wer daran festhält, der ist geistig auf dem Stand einer primitiven Kultur anzusiedeln.

Dass man seine Identität nicht verlieren will, das ist verständlich. Es ist auch nicht multikulturell, alle kulturellen Einflüsse innerhalb einer Gesellschaft zu einen Brei zu verrühren. Das hat auch niemand vor! Multikulturalität sagt ja: viele Kulturen. Und Europas Geschichte kannte immer wieder Phasen, in denen Kulturen nebeneinander in einem Gemeinwesen lebten, ohne sich gleich zu bekriegen. Der habsburgische Vielvölkerstaat, den man gerne bemüht, um die Monokultur als richtigen Weg anzupreisen, ist kein Gegenbeispiel - er ist eher das Beispiel dafür, wo dieses nationalistische Rassengewinsel hinführt. Auch in ihm gab es Leitkultur, wie so oft in der Geschichte. Haben wir immer noch nicht gelernt, dass eine anleitende Kultur zwangsläufig im Chaos endet?

Multikulti ist nicht gescheitert - es ist. Und es wird immer sein. Scheitern heißt ja: nun gibt es eine Wahl. Das Menschen von hier nach dort ziehen, dass Deutsche auswandern, dass man hier einwandert - so war es immer mal mehr und mal weniger. Die monokulturelle Sehnsucht, die sich in der Vergangenheit als mörderisch erwiesen hat, ist die blödeste und gefährlichste Ausformung von Geschichtsvergessenheit.



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De auditu

Donnerstag, 20. September 2012

Einer der schlimmsten Euphemismen, die wir im heutigen Deutschland kennen, ist etwas Gemütliches, eigentlich nichts Schlechtes. Das paranoide Abstandsgebot zu dieser Institution und dem Begriff, das um 1968 herum ausgesprochen wurde, ist jedoch weit übertrieben - denn sie kann durchaus missbraucht werden und zuweilen auch Ort versteckter Täterschaft sein, ist aber gleichfalls, und das hoffentlich viel öfter, eine Anlaufstelle für Geborgenheit und Akzeptanz. Der Begriff aber, er wird schamlos ausgebeutet und dient der Verklärung und Verschleierung, schafft Identität, wo es keine braucht, wo es sie aber aufgrund "höherer Interessen" geben soll. Es geht um die Familie. Die dürfte einer der schlimmsten Verschleierungsbegriffe sein.

Betriebe nennen ihre Belegschaft Familie, um auszublenden, dass man dieserlei "Familienmitglieder" auch entlassen kann - und Söhne und Töchter sind einfach treudoofer als Angestellte. Knallt nächtlich Geschirr und vernimmt man Geschrei und klatschende Hautpartien, spricht die gerufene Polizei hernach von Familienstreitigkeiten, um das zu Gehör getragene Gewaltpotenzial im Privaten zu belassen. Bringt man sich familiär um, so geschah eine Familientragödie. Muslime kennen keine Familientragödien, bei ihnen spricht man von Ehrenmorden, wenngleich es nicht selten auch ein übertriebener Ehrbegriff ist, der Familientragödien hervorruft. Neulich erst brachte ein Vater im Zuge von Sorgerechtsstreitigkeiten seinen Sohn um, er selber versuchte sich danach das Leben zu nehmen, was ihm misslang. Die Medien berichteten von einer Familientragödie, auch wenn es wohl ein ehrabschneidendes Gefühl war, dass man dem Vater vermittelte. Durchaus kann es seine verlorene Ehre, erst als Partner, dann als Vater gewesen sein, die ihn zum Kindsmörder werden ließ. Vom Ehrenmord schrieb jedoch niemand. Die Familientragödie ist der tragische Versuch, zerrüttete Verhältnisse bei nichtmuslimischen Familien zu entpolitisieren. Die Ehre als Motiv in muslimischen Familien wird deshalb betont, um sie als private Tragödie ans Tageslicht zu ziehen, sie zum Politikum zu machen.

Die Familie kann ein Hort der Zufriedenheit sein. In vielen Fällen ist sie es nicht. Sie hat aber nach wie vor einen guten Ruf, denn selbst die zerstörteste Familie bleibt im Angesicht einer kalten Umwelt, immer noch ein Rückzugsort, an dem man sich nicht ganz so unwohl fühlen muss wie draußen. Dieser gute Ruf, der Assoziationen wachrüttelt, die mit Gemütlichkeit oder Geborgenheit zu tun haben, wird mal bewusst, mal unbewusst missbraucht, wenn man die Familie als Begriff nutzt. Und wie im Falle des Ehrenmordes, ist die Unterschlagung der familiären Dimension eines Verbrechens, ebenso politisch und tendenziell. Die Aberkennung des Familiären in diesem Falle, raubt einer solchen Tat die menschliche Dimension und gibt ihr den Anstrich reiner, gefühlsloser Ideologie - die muslimische Familie wird somit generell als Ort der Härte und Unnachgiebigkeit gezeichnet, als Diktatur gegenüber Kindern und Frauen. Die Familientragödie aber, die vielleicht von einem Familiendiktatur begangen wird, darf sich Familiäres anheften.

Familie kann man sich nicht aussuchen, heißt es - den begrifflichen Gebrauch damit allerdings schon.



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Ein Plädoyer auf den Klassenkampf

Mittwoch, 19. September 2012

Quelle: VAT Verlag André Thiele
"Wir Demokraten denken, dieses Land funktioniert besser mit einer starken Mittelklasse, mit Aufstiegschancen für alle, die sich anstrengen." - Als Bill Clinton kürzlich diesen Satz auf dem Parteitag der Demokraten sprach, da komprimierte er kurz und schmerzlos jenes Leitmotiv, dass über den Thatcherismus und seinen Nachfolger, den New Labour, auf ganz Europa übertragen wurde. Dass wir nun alle Mittelschicht seien, dass es etwas wie eine Arbeiterschicht nicht mehr gäbe, war Thatchers Konzept - als dann nach 18 Jahren die Konservativen abdankten, mit Blair ein Mitglied der Arbeitspartei in das Haus 10 Downing Street zog, da verwarf man dieses Konzept nicht etwa, man übernahm es.

Jetzt liegt die deutsche Ausgabe von Owen Jones' "Chavs. The Demonization of the Working Class" unter dem Titel "Prolls: Die Dämonisierung der Arbeiterklasse" vor.

Jones beschreibt, wie mit Thatcher ein neuer Geist in die britische Gesellschaft einzog. Sie verkündete nämlich dreist, dass es Klassen nicht mehr, dass es nur noch eine Mittelschicht gäbe, in die die Unterschicht - die Reste der vormaligen Arbeiterklasse - vorstoßen könne, wenn sie sich bemühe. Jeder sei willkommen. Eine Arbeiterklasse gäbe es quasi gar nicht mehr - und unter Thatcher wurden dann auch politische Maßnahmen getroffen, um die Arbeiterklasse nachhaltig zu sprengen. Maßnahmen zur Rettung der Industrie, die die Lebensgrundlage vieler Arbeiter und ihrer Familien war, wurden unterlassen; sozialpolitische Verschärfungen angetrieben. Dies geschah, um die Gewerkschaften, die man als zu mächtig ansah, zu schwächen und als Machtfaktor auszuschalten. Nachdem die Labour Party nach langen Jahren konservativer Zerrüttungspolitik wieder einen Premierminister stellte, veränderte sich gar nichts. Blair übernahm nicht nur die politische Stoßrichtung des Thatcherismus, sondern auch all seine jahrelang ausgeklügelten Schauermärchen, die er über die restliche Arbeiterklasse, die man nun Unterschicht oder Chavs, also Prolls, nannte, in die britische Welt setzte. Schlimmer noch, Blair wurde es in Großbritannien zu eng und so arbeitete er zusammen mit Gerhard Schröder einen Kurswechsel der gesamten europäischen Sozialdemokratie aus. New Labour war nun der britische Exportschlager schlechthin. Das wurde honoriert; auf die Frage, was ihr größter Erfolg gewesen sei, antwortete Thatcher: "Tony Blair und New Labour."

Das Schreckgespenst Diktatur des Proletariats sollte somit durch eine Diktatur der Mittelschicht ersetzt werden. Wer Mittelschicht war, blieb aber stets vage. Der Begriff Mittelschicht war ja absichtlich so konzipiert, war geflissentlich nicht zu nuanciert, denn davon lebte er - und tut es noch immer. Denn drunter wollte es nun keiner mehr machen - und das war der Clou. Der traditionelle Zusammenhalt innerhalb der Arbeiterklasse konnte nur zerstampft werden, wenn keiner mehr zu ihr gehören wollte. Durch (Selbstver-)Leugnung geriet die gewerkschaftliche Solidarität in Bedrängnis - und durch die Dämonisierung der Restbestände der Arbeiterklasse, nun Prolls genannt, trieb man immer mehr Menschen aus diesem Lager. Das Repertoire dieser Dämonisierung ist auch dem deutschen Leser bekannt. Der Proll säuft nur, ist faul und dumm; er sitzt viel auf seinem Sofa herum, gibt sein Geld für Zigaretten und Flachbildschirme aus, geht auch hin und wieder arbeiten, dann meist im Niedriglohnsektor, macht minderwertige Arbeit. Der deutsche Proll heißt Hartz IV-Empfänger. Ihm wirft man aber nicht so sehr vor, dass er rassistisch sei, so wie seinem britischen Kollegen - das liegt vermutlich daran, weil dieser Vorwurf von einer Elite käme, die selbst ordentlich rassistisch ist, ihren Rassismus aber gepflegt hinter Begriffen wie Religionskritik versteckt.

Das heutige Großbritannien ist laut Jones ein Klassenstaat, in denen es von offizieller Seite allerdings keine Klassen gibt - Klassenkampf sei ein Begriff aus längst vergangenen Tagen, gleichsam es die Klassenpolitik der Reichen ist, die sich seit drei Jahrzehnten ins Gefecht gegen die Armen wirft. "Die Klassenleugnung ist politisch sinnvoll", schreibt Jones. "So lässt sich leicht davon ablenken, dass gigantische Summen auf die Konten der Reichen verschoben werden, während die Durchschnittslöhne stagnieren. Da Thatcherismus und New Labour den Begriff der "Klasse" aus dem politischen Wortschatz verbannt haben, bleibt die grob ungerechte Verteilung von Macht und Wohlstand im heutigen Großbritannien weitgehend unbemerkt."

Schon bevor der Thatcherismus das Licht der Welt ins Trübe setzte, wurden Tendenzen zur Leugnung des Klassenkampfes beobachtet. So schrieb Herbert Marcuse 1964 in "Der eindimensionale Mensch", dass "die sogenannte Ausgleichung der Klassenunterschiede [...] ideologische Funktion" hätte. Marcuse weiter: "Wenn der Arbeiter und sein Chef sich am selben Fernsehprogramm vergnügen und dieselben Erholungsorte besuchen, wenn die Stenotypistin ebenso attraktiv hergerichtet ist wie die Tochter ihres Arbeitgebers, wenn der Neger einen Cadillac besitzt, wenn sie alle dieselbe Zeitung lesen, dann deutet diese Angleichung nicht auf das Verschwinden der Klassen hin, sondern auf das Ausmaß, in dem die unterworfene Bevölkerung an den Bedürfnissen und Befriedigungen teil hat, die der Erhaltung des Bestehenden dienen." Die Verwerfung des Klassengedankens erhält also das Bestehende, schreibt Marcuse. Thatcher hat ihn vermutlich nie gelesen, verstanden hatte sie trotzdem, dass jene Machtverhältnisse, die sie durch vermeintlich zu starke Gewerkschaften in Gefahr sah, nur zu retten seien, wenn man die Klassen theoretisch auflöst oder besser gesagt: sie umdefiniert. Marcuse mag diese Erhaltung des Bestehenden mit einem gewissen materiellen Wohlstand für all jene, die in diese Angleichung geworfen werden, ausgestattet gesehen haben - Thatchers Angleichung bedeutete jedoch persönliche und gesellschaftliche Pauperisierung.

Die nicht näher definierte Mittelschicht ist der Diktator des Neoliberalismus. Nicht näher definiert ist sie, weil zur Mittelschicht auch diejenigen gehören sollen, die eigentlich zur Oberschicht gehören. Auch letzteren Begriff gibt es nicht offiziell, die Oberschicht geht in der Mitte auf. So kaschiert sie ihre Bereicherung. Mittelschicht ist das Heilsversprechen, sie wird glorifiziert. Wobei man fragen muss, wer jene Arbeit macht, bei der man sich die Hände beschmutzt, wenn doch alle in der Mittelschicht gesellschaftlich heimisch sein wollen. Der Diktator des Neoliberalismus ist sie, weil man in ihrem Namen Sozialleistungen kürzt und Lebensentwürfe ächtet, die nicht ökonomisch angepasst erscheinen. Aus der Solidargemeinschaft wurde eine Schicksalsgemeinschaft gegen das Schmarotzertum konstruiert, die mit dem inbrünstigen Eifer eines Savonarola Transferbezieher zu Ballast erklärt. Mit rhetorischer Perfidie und politischem Mandat grenzt sich diese Mittelschicht von denen ab, die nicht zu ihr gehören sollen. Das ist kurios, weil sich beinahe alle zur Mittelschicht zählen und weil viele Mittelschicht und Arbeiterklasse gleichsetzen.

Owen Jones' tranchiert die britische Gesellschaft mit einem ätzend scharfen Skalpell. Als deutscher Leser könnte man fast durchatmen. Denn viel von dem, was er schreibt, kommt einem zwar bekannt vor, aber so radikal wie auf der Insel, haben sich die neoliberalen Therapien mit dem Schierlingsbecher hierzulande noch nicht durchgesetzt. Wenn man bedenkt, dass die britischen Zustände seit 1979 ihr Unwesen treiben und dass der sozialdemokratische Kurswechsel diese neoliberale Radikalität erst zwanzig Jahre später in Deutschland verankerte, dann kann man sich, gemessen an dieser Zeitspanne zwischen Thatcher und Schröder, durchaus davor fürchten, dass diese Entwicklungen hier mit einiger Verzögerung eintreffen. Insofern liefert Jones nicht nur eine Studie der britischen Gesellschaft, sondern einen Ausblick auf das, was der deutschen Gesellschaft noch blüht.

Das zu verhindern gelingt nur, wenn man das Klassenbewusstsein der Prolls anfacht, wenn man den Klassenkampf aufnimmt, der seit Jahren von den Reichen gegen die Armen geführt wird. Ein Klassenkampf, der den Reichtum zwingt, etwas gegen die Armut zu tun, nicht aber gegen ihre Opfer und Leidtragende. Prolls aller Länder vereinigt Euch! Der Klassenkampf ist nicht als Kriegserklärung zu verstehen; Mitglied einer Arbeiterklasse zu sein, ist nichts wofür man sich schämen müsste. Klassenkampf bedeutet, seine Interessen zu erkennen, zu vertreten und mit Nachdruck durchzusetzen. Eine Gesellschaft, die Interessensausgleich auf ihre Fahnen geschrieben hat, braucht keine Mittelschicht, in der alle, "Arbeiter und sein Chef" (Marcuse), suggeriert bekommen, sie hätten dieselben Absichten und Ziele - sie braucht klassenkämpferisches Engagement, um Kompromisse so ausfallen zu lassen, dass beide Seiten etwas davon haben. Jones' Buch geht so weit nicht, den Klassenkampf wörtlich zu empfehlen. Aber man spürt, dass es das sollte.

"Prolls: Die Dämonisierung der Arbeiterklasse" von Owen Jones erschien im VAT Verlag André Thiele.



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Feurio!

Dienstag, 18. September 2012

Achtung, Feuerzeug! Brennt uns das Feuerzeug nieder?, hieß es neulich bei Günther J. Verbrennen wir tatsächlich unsere Gesellschaft? Ist die Angst vor dem Reibrad und seinem Zündstein begründet? Was bringt es, Feuerzeugnutzer zu schulen? J. stellte Fragen - Gäste beantworteten sie.

Feuerzeuge sollten nur unter Anleitung und in Maßen genutzt werden, eröffnete eine zu Gast gewesene Fernsehmoderatorin und Mutter zweier Kinder, die Runde. Der Staat sollte ein Auge darauf werfen, wer wie und wann ein Feuerzeug verwende, denn immerhin könne man damit ganze Siedlungen in Asche legen. Feuerzeuge seien natürlich auch eine zivilisatorische Bereicherung, aber ganz so offenherzig dürfe der Staat die Anwendung nicht erlauben. Er verletze letztlich seine Fürsorgepflicht und öffne dem Mißbrauch Tür und Tor. Die Benutzung von Feuerzeugen dürfe kein rechtsfreier Raum sein, plädierte sie.

Der wissenschaftliche Journalist Y. betonte hingegen nachdrücklich, dass Feuerzeuge einen Mehrwert darstellten. Man müsste nur erlernen, richtig mit ihm umzugehen. Man kann nicht grundsätzlich für eine Einschränkung oder für ein Verbot sein, denn Feuerzeuge würden ja auch sinnvoll genutzt werden können. Jeder habe doch sicherlich schon mal ein Teelicht angezündet. Außerdem halte er diese generalisierende Haltung, wonach jeder Feuerzeugbesitzer gefährlich sei, für viel zu vereinfachend. Amerikanische Studien haben nämlich bewiesen, dass Feuerzeuge viel öfter dafür genutzt würden, um Kerzen anzuzünden - Häuser würden eher selten damit in Brand gesteckt; Menschen noch seltener. Zudem haben weitere Studien, diesmal aus Deutschland, nachgewiesen, dass ein Feuerzeug alleine kaum etwas verbrennen könne - Brandbeschleuniger seien hierzu notwendig. Und noch eine Studie hatte er in petto: Feuerzeugbesitzer sind eher selten gleichzeitig mit Feuerzeug und Substanzen unterwegs, die die Brandwirkung beschleunigten.

Philosoph P. stimmte zu, man müsse den Umgang lernen. Der Prometheus aus der Hosentasche dürfe auf keinen Fall stigmatisiert werden, nur weil einige traurige Einzelfälle bewiesen hätten, dass man mit ihm auch Schindluder treiben könne. Niemand sage, ein Feuerzeug sei nicht gefährlich - aber man müsse sich den Gefahren des Daseins stellen und hoffen, dass die Menschen hineinwachsen in den richtigen Umgang mit neuen Technologien. Nicht umsonst sage ein deutsches Sprichwort, dass Feuer ein guter Diener sei, aber ein schlechter Herr. Das Feuerzeug habe eine Fülle an Anzündgelegenheiten geschaffen; nun zu sondieren, was aus den richtigen Gründen entflammbar ist und was nicht, sei jetzt der Gesellschaftsauftrag. Vielleicht könne man dem ja hilfreich zur Hand gehen, indem die Bundesregierung einen Feuerzeugbeauftragten ins Leben riefe.

Herr H., Vater eines Sohnes, der feuerzeugsüchtig war und einige Häuser samt Inhalt abfackelte, konnte sich da kaum noch beherrschen. Besonders junge Menschen müssten vor Feuerzeugen geschützt werden, rief er. Niemand habe ihn vorher aufgeklärt; eines Tages kam sein Sohn mit einem Feuerzeug heim und er habe sich nichts dabei gedacht. Woher hätte er wissen sollen, dass die Flamme aus einem Feuerzeug alles anzünden könne, selbst Dinge, die man eigentlich nicht anzünden soll oder darf? Feuerzeuge seien keine Chance, sie seien ausgemachte Feuersbrünste und wie man auch nur einen Gedanken daran verschwenden könne, sie öffentlich zugänglich zu machen, irritiere ihn gehörig. Das sei eine Technik, die in staatliche Gewalt gehöre - unter Aufsicht, eventuell in extra geschaffenen Fire-Shops. Dort wären die Feuerzeugnutzer unter Aufsicht eines Beamten und eines Brandschutzexperten angehalten, keinen Unfug zu treiben.

Dem widersprach Pirat P., der sich bislang sehr zurückgehalten hatte. Er möchte doch mal mit dem Unsinn aufräumen, dass das Feuerzeug ein rechtsfreier Raum sei. Wenn er heute ein Haus anzünde und geschnappt würde, sperre man ihn auch ein. Und er selbst nutze täglich mehrfach das Feuerzeug, zünde sich damit zwischen zehn und zwanzig Zigaretten an. Diese Äußerung rang dem gesamten Studio ein Raunen ab. Herr H. wandte sich brüskiert ab und nannte P. einen Radikalo. Feuerzeugkompetenzen könne man nur entwickeln, sprach P. weiter, wenn man täglich mit ihnen zu tun habe, und nicht, indem man sie wegsperren lasse. Die Piraten fordern daher auf, sich den technologischen Neuerungen zu stellen. Reaktionäres Verbieten drehe die Entwicklung ja nicht zurück, sondern würfe lediglich die deutsche Gesellschaft nach hinten.

Günther J. beschloss die Sendung mit ernster Miene. Das letzte Wort sei noch nicht gesprochen, erklärte er. Feuerzeuge werden noch Gemüter erhitzen. Es sei ein spannender Abend gewesen und man habe viel erfahren. Ausgeräumt sei die Angst natürlich nicht, zumal auch von wissenschaftlicher Seite immer wieder bestätigt würde, dass man es mit einem brandgefährlichen Ding zu tun habe. Wie man die Verantwortung schulen könne, wisse man immer noch nicht - und die anwesende Runde sei sich ja auch uneinig. Er würde sich aber freuen, wenn er nächste Woche wieder eingeschaltet wurde. Thema wird dann wahrscheinlich sein: Glühbirne und Atombombe, Liebesgedichte und Folterprotokolle, Medizin und Exekutionen - ist der Mensch gefährlich oder nicht? Gehört er unter staatliche Aufsicht oder verboten? Oder so ähnlich ...



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De dicto

Montag, 17. September 2012

"Gabriel und von der Leyen sprechen aber nie von denen, die es aus eigenem Verschulden auf keinen grünen Zweig bringen. Die „keinen Bock“ hatten, ihre Ausbildung abzuschließen. Die schon am Montagmorgen die Stunden bis Freitagmittag zählen. Die sich weder weiterbilden noch anstrengen wollen. Die sich lieber zwei Handys leisten als einen Riester-Vertrag.
Das Muster der Altersarmuts-Debatte lautet: Schuld sind immer die anderen. Raffgierige Unternehmer, neoliberale Rentenpolitiker, wahlweise CDU oder SPD: Sie alle sind angeblich an den Mini-Renten schuld. Nur von den Mitmenschen, die es sich leisten, nichts zu leisten, ist keiner verantwortlich.
850 Euro Mindestrente nach schwarz-rotem Modell belohnt die Falschen. Und bestraft durch höhere Abgaben oder Steuern die, die sich ihre Rente in dieser Höhe mühsam erarbeiten. Da gilt: Der Fleißige ist der Dumme. Und das muss doch mal gesagt werden!"
- Hugo Müller-Vogg, BILD-Zeitung vom 13. September 2012 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Natürlich, wie sollte es ein rechtsgerichteter Feuilletonist auch anders sehen wollen oder können! Man kann Gabriel und von der Leyen allerlei vorwerfen - dass sie aber nicht diejenigen abkanzlern, die selbst schuld sind, dass sie kaum Rente kriegen werden, ist so hanebüchen und idiotisch, dass es zum Schreien ist. Und im Falle von der Leyens stimmt es nicht mal, sie sagte es ja zwischen den Zeilen und auch als Zeile. Was Müller-Vogg da fordert ist nicht eine Debatte über eine Rente, von der man leben können soll - er will, dass Gabriel und von der Leyen davon ablenken. Sie sollen die Verantwortung jenen übertragen, die Opfer einer Anti-Staatsrenten-Politik wurden und sollen auf billigster Grundlage stigmatisieren.

Es sind ewig sich wiederholende konservative Affekte, die dieser Kolumnist erleidet. Man benennt Sündenböcke, wirft einen populistischen Satz wie Der Fleißige ist der Dumme! in die Runde und tut so, als sei der Fleißige der Dumme, weil es die Faulen sind, die ihn dumm dastehen lassen - dass es eine zielgerichtete Politik für die Versicherungswirtschaft war, soll diesem vermeintlichen Dummkopf so unbekannt bleiben. Und wenn man weiß, dass man Unsinn verbreitet, so hat es sich seit Sarrazin eingebürgert und bewährt, sein Statement mit Das wird man doch mal sagen dürfen! oder mit Das muss doch mal gesagt werden! zu beschließen. Wohl das profundeste Argument der aufhetzenden Worthülse ohne Inhalt. Wie ein trotziges Kind, dass noch einen draufsetzt, obgleich es weiß, dass es Mist gebaut hat.

Leute ohne Riester-Vertrag tragen Schuld, dass ihnen das Geld im Alter nicht reicht, meint er. Ob Müller-Vogg viel über die Konditionen der Riesterei weiß? Über die halbseidene Einriesterung der Versicherungswirtschaft in öffentliche Belange zu Zeiten der schröderianischen Reformära? Natürlich weiß er es. Naiv zu glauben, er wüsste es nicht. Und er weiß auch, dass es viele Menschen mit so niedrigen Einkommen gibt, dass sie sich die monatlichen Beiträge für eine Privatrente nicht leisten können. Man hört ihn in seinem Kämmerlein zetern: Aber für Alkohol und Zigaretten ist Geld da! Und sein Blatt macht dieser Tage ja auch wieder Stimmung. Generalangriff auf die, die man für Schmarotzer hält. Schuldig sind die Leute, die mal kleine Renten erhalten, weil sie nicht genug Geld haben. Standesdünkel würde man das normalerweise nennen - seine Zeitung nennt es meinungsstark. Dass das Geld selten reicht, um auch noch eine Privatrente zu finanzieren, davon schreibt er nichts, denn dann fiele seine Philippika auf den Schmarotzer durch, dann verlöre sie ihren konservativen Erbauungswert. Da kann man noch so fleißig sein, wenn das Geld nicht reicht, dann riestert man nicht - alles andere ist dummes Geschwätz. Und daher kann es nicht heißen, dass der Fleißige der Dumme ist, sondern dass der Dumme recht fleißig Kolumnen schreibt - das muss doch mal gesagt werden!



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Der Wert eines Arbeiters

Freitag, 14. September 2012

Da lag er. Er sei tot, wie man mir sagte. Ich konnte nur seine bejeansten Beine, seine mit Stahlkappen gefütterten Schuhe sehen. Alles andere war von einem grünen Stahlschrank verdeckt. Als ich die Werkshalle zur Spätschicht betrat, fiel mir eine Ambulanz, fiel mir ein Polizeiwagen auf. Alleine ich dachte mir wenig dabei; sei es aus jugendlicher Ignoranz gewesen, sei es, weil ich anderen Gedanken nachhing. Ich zog mich gedankenlos um, verschloss gedankenlos meinen Spind, betrat gedankenlos und wenig motiviert die Produktionshalle, ging an die Maschine, die mir bis Neun kostbare Freitzeit stehlen sollte, ging nochmal zurück zur Automatenstation, um mir eine Cola zu ziehen, kam zurück und da erst sah ich Beine und Schuhe; sah ich Polizei, Notärzte, sah ich Abteilungsleiter und Meister, sah ich Arbeiter, die am Leichnam vorbei paradierten.

Das ist nun viele Jahre her. Ich habe es nie vergessen. Konnte es nie vergessen. Wie denn auch? Kaum etwas prägte mich so sehr, kaum etwas widerfuhr mir so roh und unmenschlich, wie das, was sich damals ereignete.

Der Tote war ein Leiharbeiter, der etwa zwei Wochen vorher in die Abteilung kam. Viel gesprochen hatten wir bis dato nicht, denn er war viel zu fleißig, immer in Eile, fand keine Zeit zum Plaudern. Später erfuhr ich, er war Mitte Vierzig, verheiratet, Vater. Vielleicht eine Stunde bevor ich die Halle betrat, bevor ich ihn am Boden liegen sah, das was ich von ihm sehen konnte, nahm er sich eine Stahlkiste, um darin irgendwelche Teile, die er vorher gespindelt oder gebohrt oder wer weiß was hatte, einzuräumen - nahm er sich, ging einige Schritte, fiel um, war vermutlich sofort tot. Die Todesursache habe ich nie erfahren. Man kann sie sich ausmalen, wenn man ihr unbedingt Bedeutung zumessen möchte.

Rückblickend sage ich, dass dergleichen passiert - tragisch, aber es passiert, es ist unvermeidbar, man muss damit leben, man muss damit sterben. In jenem Augenblick damals nahm ich es nicht so stoisch auf, damals war ich erschüttert, ratlos - als junger Mensch erschlägt einen die Brutalität des Lebens und speziell des Entlebens. Man glaubt, an einer schrecklichen Ungerechtigkeit beteiligt zu sein, wenn jemand so stirbt. Das sind Keime metaphysischer Revolte, Auflehnung gegen Naturgewalten, gegen Unentrinnbares. Altert man, erkennt man, dass solche Revolten schwachsinnig sind. Man erfährt Demut, lernt hinzunehmen.

Ich war damals also mit dem Tode konfrontiert, was ich bis dahin nicht sehr oft war. Nicht lange danach sollte mein Vater sterben und erst dann wurde mir bewusst, was es bedeutet, den Tod eines Menschen zu verarbeiten, den man liebte. Damals, als der Leiharbeiter starb, war da der Tod, aber die Verarbeitung, die quälenden Stunden danach, die langen Wochen der Trauer, die lernte ich nicht kennen. Nur der Augenblick des Todes, die Momente darauf, bis der Leichnam aus den Augen war.

Zur Erklärung: Leiharbeiter, sage ich. Wie soll ich sonst sagen? Seinen Namen weiß ich nicht mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn je kannte.
Zur Erklärung: So ergeht es vielen Leiharbeitern in Entleihbetrieben, selbst nach Monaten kennt man ihren Namen noch nicht.
Zur Erklärung: Das entschuldigt nichts, ich hätte mit dieser Tradition, den Namen eines Leiharbeiters nicht erfragen zu wollen, brechen können.
Zur Erklärung: Ich war jung, ich war dumm... ich war nicht der, der ich heute bin. Ich kannte Heraklit noch nicht. Heute kenne ich ihn. Niemand steigt zweimal in denselben Fluss; in dem Wasser von damals, stehe ich heute nicht mehr.

Nach vergeblichen Bemühungen der Notärzte: sie holten ihn nicht mehr zurück. Da lag er jetzt und nun geschah, was sich mir einbrannte. Es war nicht der Tod, mit dem findet man sich ab. Man lebt auch weiter, wenn die Eltern gehen, man überlebt den Verlust eines Partners. Der Tod ist irgendwann akzeptabel. Nicht aber der Umgang mit ihm. Denn die Arbeitsplätze unmittelbar neben dem Leichnam wurden nicht etwa pietätvoll geräumt, die Arbeit wurde nicht etwa unterbrochen. Nein, es musste ja verdient werden. Da werkelten und schufteten sie direkt neben dem Leichnam. Einer, die widerlichste Figur der Abteilung, stand zwei Meter weg, blies seine Stahlleisten mit Druckluft ab, arbeitete pausenlos, ja mir schien, er arbeitete pausenloser als sonst - vielleicht verständlich, stand doch der Abteilungsleiter mit einem Polizeibeamten gleich bei ihm, gleich beim Leichnam. Ersterer ließ sich selten hienieden sehen, aber heute war er da; und mit dem Beamten flachste er, lachte er, gab sich nonchalant - das alles direkt neben der sterblichen Hülle dieses Mannes, für den er wenigstens theoretisch verantwortlich war.

Niemand kam auf die Idee, die Arbeit ruhen zu lassen, bis der Leichnam beseitigt wäre. Mein Kollege, die mir entgegengesetzte Frühschicht, war empört, stellte die Arbeit ein, er könne das nicht, so tun als sei nichts, meinte er. Aber so viele andere, sie machten weiter, machten einige Meter vom Toten so weiter, als sei nichts geschehen. Man bedeckte den Toten nicht, man spannte keinen Sichtschutz auf. Ich stellte mir vor, wie der Typ, der seine Stahlleisten fertigte, Späne und Kühlmittelreste auf diesen toten Menschen blies; ich empfand Ekel vor einer Haltung, die den Menschen nicht würdigt, die ihn wie eine Funktion, wie einen Apparat zur Pflichterfüllung behandelt.

Wenn der Mensch stirbt, so hat sein Leichnam in jeder Kultur mehr oder minder, auf die eine oder andere Weise, noch einen Anspruch, mit gewisser Würde behandelt zu werden. Der Augenblick des Todes ist nicht der Augenblick, in dem wir dem Leichnam das Menschsein absprechen. Die sterbliche Hülle ist nicht einfach organischer Abfall, sie ist etwas Kostbares, sie ist einerseits das Antlitz der eigenen Sterblichkeit, die wir auch respektiert wissen wollen im Fall der Fälle. Und sie wird andererseits gewürdigt, um einen letzten Liebesdienst an einem Menschen zu tun, den man respektierte, schätzte oder sogar liebte. Der Leiharbeiter, tot in der Halle, der zwischen Arbeitseifer und scherzenden Abteilungsleiter lag, er war in dem Moment, da er umfiel, wertlos geworden. Gerade noch Personalressource, gerade noch Träger von acht Stunden Arbeitszeit, gerade noch Faktor für die Buchhaltung, ward er zum störenden Fleischklumpen gewandelt, den man schnell loswerden wollte; ward er zur entwerteten Hülle reduziert, die den Produktionsablauf bloß nicht behindern sollte.

In jenen Jahren wusste ich nicht viel vom Kapitalismus. Den Begriff kannte ich, aber was er bedeutet, wie er sich definierte: keine Ahnung! Es kümmerten mich andere Dinge; ich widmete mich den Sachen, die man in jenem Alter für wichtiger erachtet und die da wohl auch wichtiger sind. An jenem Tag machte ich Bekanntschaft mit dem Zynismus des Systems, damals lernte ich, dass es keine Romantizismen kennt, dass es knallhart ist, dass es Menschen nicht für durchblutet und beseelt, sondern für funktional und nützlich ansieht.

Keiner behinderte die Arbeiter, die aus anderen Werkshallen herströmten, um das Tagesgespräch mit eigenen Augen zu sehen. Keiner hatte auch nur den Anflug pietistischer Ansichten. Sie kamen zum Gaffen, sie kamen um mit dem Finger auf ihn zu deuten. Ein Moslem betete - der hat sich mir eingebrannt; er war das menschliche Antlitz dieses Tages. Der Abteilungsleiter stand daneben, noch immer im angenehmen Gespräch mit dem Polizisten und sagte nichts zu den Gaffern - sie gingen ihn ja nichts an, sie kamen aus anderen Abteilungen, für die er nicht verantwortlich war. Wären sie aus seiner Abteilung gewesen, er hätte natürlich einschreiten müssen - nicht aus Pietät gegenüber dem Toten, sondern aus Respekt vor dem Profit.

Natürlich denkt sich nun mancher, der Verfasser übertreibt, bauscht auf, um pointierter zum Ziel zu geleiten, damit seine billige Parabel nicht verröchelt, bevor sie sich entfaltet. Ich könnte verstehen, wenn man das meint. Nur es wäre ein falscher Verdacht. Nichts ist hier auf die Spitze getrieben - exakt so war es, genau so und vielleicht noch derber, ging es zu. Vielleicht habe ich manche zynische Nuance damals noch gar nicht verstanden.

Ich sehe diesen schlacksigen, in Anzug gerafften Mann immer noch vor mir, seine Visage, seine Zahnleiste, seine in Körperhaltung veranschlagte Arroganz. Diesen Abteilungsleiter mit einem Allerweltsnamen, den ich allerdings nicht mehr weiß, weil er so allerweltlich war. Der, der seine Stahlleisten bohrte, der sie entgratete, sie abblies, sie in Kisten schichtete, den habe ich auch noch vor Augen. Er war nicht der einzige, der in Gegenwart des Leichnams so arbeitete, als sei nichts geschehen. Aber ihn habe ich noch im Kopf, ihn habe ich nicht vergessen. Ich meine, ich kannte ihn ja leider vorher schon, er erzählte mir von seinen Heldentaten als Fischereiaufseher, davon, dass ihn junge Mädchen anschmachteten, weil er der Sheriff vom Baggersee sei. Er war, ich mache es kurz, ein Dummkopf, der sich gerne hervortat - und dass er nach einer Weile, da er so neben dem Tod arbeitete, meinte, er habe heute mehr geschafft, als zeitlich veranschlagt war, zeigt das doch anschaulich. Dieses System, dieser Kapitalismus, das wurde mir viel später, bei der Exegese jenes Tages, deutlich, ist das geliebte System von gewissenlosen Zynikern, geschaffen für ausgemachte Dummköpfe.

Ich will die Ereignisse jenes Tages, von dem ich nicht mal mehr ein Datum habe, nicht als Parabel feilbieten. Sie taugt dazu womöglich nicht. Vielleicht ist sie mir eine persönliche Parabel - als ein Erweckungserlebnis dient mir jener Tag aber sicher. Er rührte am Schlaf meiner jugendlichen Welt. Mir fielen nicht flugs Schuppen von den Augen, was da geschah, rumorte und arbeitete lange in mir; aber klar ist mir, ich will so etwas nie wieder erleben. Und falls doch, so werde ich nicht, so wie damals, als ich ein junger Mann war, ja ein Bub eigentlich noch, schweigen.



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Bildung, dass es eine wahre Precht ist

Donnerstag, 13. September 2012

Letzte Woche kam ich auf die Exilierung Richard David Prechts ins Nachtprogramm zu sprechen. Das neue Sendeformat, das das ZDF monatlich plant, verdient tatsächlich nähere Betrachtung. Es soll nicht das Format an sich besprochen werden, sondern der Inhalt. Wie damals angerissen, ging es in der ersten Ausgabe um Bildung und die falsche Auslegung der Gesellschaft von ihr.

Prechts Gast Gerald Hüther, Neurobiologe und Hirnforscher, sprach davon, dass man Bildung nicht schaffen könne, sie könne wohl aber gelingen - dieses Wörtchen Gelingen sei der Schlüssel. Im Gelingen stecke alles, was eine Kultur freudigen Erfahrenwollens und der bewusst geförderten Neugier, eigentlich ausmache. Bildung schaffen ist der Weg humorloser Schulbürokraten, von eingerosteten Strukturen - Bildung gelingbar machen ist die gesamtgesellschaftliche Ausrichtung an Wissensbildung, die durch die Hirnforschung unterstützt, nur durch Leidenschaft und die Gier auf neu Erfahrbares, wirklich werden könne. Neugier sei somit das Einfallstor in Bildung; jene Neugier, die wir bei Kindern oftmals bemängeln und die wir aberziehen wollen.

Hüther finde es schlimm, dass die Schule als einziger Ort der Bildung angesehen wird - Bildung ist allumfassender und überall, meint er. Die britische Bildungsaktivistin Fiona Millar sieht es ähnlich, wird aber konkreter: "Die Schule beeinflusst den Lernerfolg von Kindern höchstens zu 20%, wenn man den Studien glauben darf. Stadtgeographie und Wohnsituation, die Lerngruppe, der Bildungsstand der Eltern, die Unterstützung durch die Eltern" hält sie für wichtiger. Bildung bedeutet nicht das schematische Erlernen von Lehrplaninhalten, sondern meint auch Herzensbildung, wie Hüther es nannte. Was zu kurz kam in dieser Erkenntnis, wonach Schule nicht gleich Bildung ist, ist jenes, was Millar meint: Wer Bildungspolitik machen will, der muss Sozialpolitik machen, der muss die allgemeine soziale Situation von Schülern und Eltern verbessern. Nicht in der Schule reformieren, sondern im Sozialen. Das räumt mit bürgerlichen Prämissen auf, denn Bildung schafft so gesehen nicht die Chancen für einen sozialen Aufstieg, sondern die soziale Besserstellung ist förderlich für die Bildung. Eltern aus allen Gesellschaftsschichten, da sind sich Hüther und Millar aber einig, machen es sich sehr einfach, wenn sie ihren Bildungsauftrag den Schulen überschreiben - Bildung kann nach beider Ansicht auch sein, wenn man sich beim Abendessen über ein aktuelles oder historisches Thema unterhält; alleine das Dogma, dass Schule gleich Bildung sei, verniedlicht solche Tischgespräche zu nutzlosem Geschwätz und macht sie zu intellektuellem Zeitraub.

Precht kommt darauf zu sprechen, dass Wilhelm von Humboldt der Hirnforschung auf diesem Gebiet vorausging. Was Entwicklungspsychologen und Neurobiologen heute wüssten, habe Humboldt geahnt und umgesetzt. Die Köpfe der Kinder seien keine Trichter, die man einfach bloß abfüllen könne oder dürfe. Das könnte Humboldt auch bei John Locke gelesen haben, der es schon weit vor Humboldt ähnlich aufschrieb. Humboldt habe auch die Freude am Erlernbaren als wesentlichen Antrieb gelingender Bildung angesehen und angeregt, sei aber an seiner Zeit gescheitert, die sich somit, so Precht, kaum verändert habe in dieser Beziehung.

Man kann dem nur zustimmen. Dass heute einvernehmlich von Bildung gesprochen wird, wo eigentlich Wissensbildung und Charakterbildung gemeint sind, sagt vieles über die starren Strukturen innerhalb des Bildungssektors aus - dass es einen Begriff wie Bildungssektor überhaupt gibt, ist insofern schon verräterisch, denn Bildung ist kein abzugrenzendes Areal, sondern ein Lebensgefühl und insofern Lebensrealität, denn Erfahren, Erlernen und Erkennen sind tägliche Konstanten im Leben jedes Menschen. Kreativ könne man in einem solchen Sektor jedenfalls nicht werden und er bringe die Schüler gegen das Lernen auf, meint Precht weiter.

Dass sich die Schule in sechs Jahren hirngerechter anstellen wird, dass sie neue Wege betreten werde, die sich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse stützten, dass überhaupt Bildung nicht mehr alleine schulische Veranstaltung sein wird, sondern ein gesamtgesellschaftliches Milieu der Wissensbegierigkeit entsteht, wie Hüther optimistisch träumt, dürfte als Hirnforschungsesoterik eingestuft werden. Aber er hat recht: Der heutige Apparat ist ineffizient - er kostet viel Geld, wobei auch da immer weniger dort ankommt, wo es sollte, nämlich bei den Schülern. Und er erstickt kindliche Begabungen. Er erhöht Zensuren zu Alleinstellungsmerkmalen der Schüler, obgleich auch andere Begabungen als schulisch gefragte für eine Gesellschaft wichtig sind - Hüther erklärt, es gäbe Kinder, die begabt sind im Zwischenmenschlichen, die Empathie leben können, was aber im Schulalltag nur peripher interessant ist, wenn es um die Klassenordnung geht beispielsweise. Als Lerninhalt kommt diese Begabung zur Nächstenliebe nicht vor, die charakterliche Schulung beschränkt sich auf Melde Dich, wenn Du was sagen willst! und Lass Deinen Mitschüler aussprechen!

So wohlwollend und richtig Prechts und Hüthers rhetorischer Einsatz für eine neue Mentalität der Wissensvermittlung und -bildung auch ist, so offenbart sich in ihm gleichzeitig der Fetisch der Mittelschicht. Als man den Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten bestritt, griff man auf die Leitmotive des Thatcherismus zurück. Eines davon war, dass es die Arbeiterschicht nicht mehr gäbe oder jedenfalls nicht mehr geben sollte - stattdessen sei die ganze Gesellschaft nun Mittelschicht und jeder der dazugehören wolle, der könne dorthin auch aufschließen. Der Klassenkampf war nun auch offiziell von sozialdemokratischer Seite beendet worden. Das Stichwort zum Beitritt in die Mittelschicht sei Bildung - gute Abschlüsse, der Griff nach Hochschulabschlüssen sei es, der die Gesellschaft klassenfrei mache, sie zu einer geschlossenen Mittelschicht erhebe. Phantasmagorien wie die Dienstleistungsgesellschaft rekrutierten sich aus diesem neuen Gesellschaftsbild. Alle, die nicht in diese vermeintlich für jeden offene Gesellschaft vordringen, sind entweder faul oder dumm oder beides. Nun haben Precht und Hüther nicht davon gesprochen, dass es von Natur aus Bildungsfaulheit gäbe, sie sprachen auch nicht von klassenbedingter Faulheit, ganz im Gegenteil, Precht hat sogar ausdrücklich jenen Genetik-Hokuspokus verlacht, der viele Eltern aus der Mittelschicht verzaubert, indem er ihnen weismachen will, dass ihre Intelligenz auf ihren Nachwuchs vererblich sei.

Einem anderen Hokuspokus ließen Precht und Hüther aber freie Bahn. Dem, der meint, Bildung sei der einzige Schlüssel zu einer wohlständigen Gesellschaft. Teilweise phantasierten beide von einer Gesellschaft, in der achtzig Prozent aller Schüler das Abitur machten - dies sei möglich, weil eine Beschulung auf Grundlagen der Erkenntnisse aus der Hirnforschung natürlicheres, unverkrampfteres Lernen ermögliche; denn es sei ein Lernen, das auf Grundlage der Erfahrbarmachung basiert. Daran ist überhaupt nicht zu zweifeln, womöglich kann man Lernprozesse tatsächlich sinnlicher gestalten. Hüther führte auf, dass nun sogar Menschen mit Down-Syndrom ihr Abitur gemacht hätten, obwohl man bis vor einigen Jahren dachte, dass man solche Menschen gar nicht beschulen könne. Die Hirnforschung hat dabei geholfen, die zerebralen Prozesse bei Menschen mit Down-Syndrom besser zu verstehen und hat folglich Lerntaktiken entwickelt, die gelingen können. Fraglich bleibt aber doch, ob eine Gesellschaft, in der achtzig Prozent Abitur hätten, so viel anders aussähe als die jetzige. Ein ordentlicher Schulabschluss kann (muss aber nicht!) tatsächlich für den Einzelnen Aufstiegschancen mit sich bringen - wenn aber so gut wie alle einen ordentlichen Schulabschluss mitbringen, wohin steigt man dann auf? Werden alle Sachbearbeiter, Fachangestellte und Beamte? Oder landen nicht zwangsläufig massenhaft Abiturienten in Call-Centern und bei Regaleinräum-Services? Und was ist an klassischen Berufen aus der Arbeiterklasse schlimm? Denn die Flucht aus dieser Arbeiterklasse, die nun so nicht mehr heißt, ist doch das Ziel. Die Bildung soll Fluchthelfer sein.

Es gibt Tätigkeiten die gemacht werden müssen. Auch in einer Abi-Gesellschaft. Man könnte Precht und Hüther nun unterstellen, sie würden sich unterschwellig dafür aussprechen, dass man dann Zuwanderung entbürokratisieren sollte, um die anfallende minderwertige Arbeit erledigt zu bekommen. Oder man könnte annehmen, dass sie bei achtzig Prozent Abiturienten, die restlichen zwanzig Prozent dafür vorsehen - quasi als Reminiszenz an das Schreckgespenst 20-zu-80-Gesellschaft, das in Zeiten, als man noch reger von der Dienstleistungsgesellschaft sprach, herumspukte. Könnte man unterstellen! Nur in diese Richtung ging die Diskussion nie und beide unterstrichen ja mehrmals, dass sie klassistische Ansätze nicht verfolgten. Und warum eine vernünftige Wissensbildung unbedingt mit verbesserten Abschlüssen korrelieren muss, obgleich es doch hieß, dass Schulen das Potenzial der Schüler einschläfere, obgleich man betonte, dass Schule nicht alleinige Bildungsinstanz sei, wollte Precht nicht erklären.

Sonderbar war letztlich auch, dass Precht attestierte, nie vorher hätten es Schüler einfacher gehabt, in Berufe zu kommen. Das ist weltfremd. Und ob es mehr in Frage kommende Berufe in einer Gesellschaft mit achtzig Prozent Abiturienten gäbe, darf stark bezweifelt werden. Das soll kein Plädoyer sein, nicht jedem den Weg zu einem höherwertigen Schulabschluss zu ermöglichen. Aber wenn alle Abitur haben, dann ist es so, als habe es keiner - die logische Schlußfolgerung wäre dann aber, Zensuren abzuschaffen und Reifeprüfungen anders, lebensbezogener zu gestalten. Hüther meinte, dass viele Schulabgänger heute frustriert ins Berufsleben gingen, weil sie im Bildungsapparat erstickt wurden - auch Alkoholismus ist eine schichtübergreifende Folge hiervon. Precht verlagert die Unzfriedenheit mit seiner Achtzig-Prozent-Vision nur; solange noch die Hoffnung besteht, der angehende Abiturient erhielte später, nach dem Studium, einen Arbeitsplatz, der relativ anspruchsvoll ist, bleibt Zuversicht - aber zwangsläufig landen auch welche in Berufen, die sie nicht beglücken und erfüllen werden, oder sie werden arbeitslos, womit dieselbe Depression einträte, die nun beklagt wird.

Die Fetischierung der Bildung, die man als Aufstiegschance sieht, kann nur in begrenzten Rahmen so gesehen werden. Auch wenn die Abiturienten-Gesellschaft unrealistisch ist, so muss doch unbedingt ein positiverer Bezug zur Wissensbildung umgesetzt werden - bewusst sei gesagt zur Wissensbildung, nicht zur Bildung. Bildungsgipfel, wie sie dieses Land schon hatte, sind nur strukturierte Lehrplanabgleiche - nötig ist es, eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung zur Wissensvermittlung und -aneignung zu schaffen, Freude an der Wissbegier zu fördern. Ob das dann mehr Abiture ermöglicht oder nicht, ist dabei irrelevant - Hauptschüler, die in der Hauptschule umfassend beschult wurden, denen man eine ansehnliche Allgemeinbildung vermittelte, brauchen zumindest kein Abitur dafür, um selbstbestimmt und selbstbewusst ins Leben zu treten. Denn Wissen ist vom Abschluss unberührt - die Macht des Wissens greift auch dann, wenn der Abschluss nicht von hohen Weihen ist.

Eine solche Aufbruchsstimmung zu schüren, schmiss vieles auf den Prüfstand. Auch müssten die Medienwächter wieder weniger zurückhaltend sein, dürften nicht wortlos abnicken, was an Stumpfsinn über den Äther läuft. Da finge es an, ein neues Bewusstsein für Wissen zu vermitteln. Und Dialoge wie jener zwischen Precht und Hüther gehörten nicht in die Nacht, sondern - trotz aller Kritik - müssten Abendsendung sein - der Markt, auf dem sich das Fernsehen immer dann beruft, wenn es seine eigene Dumpfheit seinem Publikum in die Schuhe schieben will, wenn es sagt, die Zuschauer wollten es so, darf nicht als Alibi herhalten.

Precht argumentiert aus dem Postulat der Mittelschicht heraus. Hüther, auch Mitglied des Zukunftsrats der Bundesregierung, nickt es ab. Gleichwohl ist das Format Precht lehrreich und relativ frei, von einigen Floskeln abgesehen, vom Mainstreamsprech, der andernorts jeden Erkenntnisgewinn untergräbt. Insofern zeigt sich, dass Wissenvermittlung, und Precht ist ja nichts anderes, als über Fernsehen vermitteltes Wissen, immer auch ideologisch gefärbt ist.



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Der Preis der Sparsamkeit

Mittwoch, 12. September 2012

Am Montag berichteten hessische Radioanstalten von der Verleihung des Spar-Euro 2012. Ausgezeichnet würden Kommunen, "die in einem besonderen Maß verantwortungsvoll und sparsam mit öffentlichen Geldern umgehen". Und weil Sparsamkeit letztlich bedeutet, das zu Erledigende zunächst mal nicht erledigt zu bekommen, bedarf es natürlich vieler günstiger oder gar kostenloser Hände. Deshalb will der Spar-Euro "zugleich zu gemeinnützigen Handeln und zu bürgerschaftlichen Engagement für das Gemeinwohl" ermutigen. Ein zugegeben schön klingender Euphemismus dafür, den Rückzug der öffentlichen Hand zugunsten kostengünstiger Freizeitarbeitskraft zu verbrämen.

Made in Hessia

Initiatoren des Preises sind der Hessische Städte- und Gemeindebund und der Bund der Steuerzahler Hessen. Letzterer ist nicht, wie von der Öffentlichkeit irrtümlich oft angenommen, eine staatliche Kontrollinstanz, sondern eine Interessensvertretung, deren Bundeszentrale auf Platz 222 der Lobbyliste (Stand: Mai 2012) geführt wird. Dieser Bund der Steuerzahler macht sich gerne zum Sprachrohr braver Bürger, die pünktlich ihre Steuern bezahlen. In deren Namen deklariert er dann Steuergeldverschwendung - dabei ist für ihn der Bau einer unnötigen Brücke oder die geleisteten Transferzahlungen an Rentner und Arbeitslose gleichermaßen Verschwendung. Die Steuern seien in Deutschland nur deshalb so hoch, weil es diese vielen verschiedenen Verschwendungsformen gibt.

So, aus Hayekschem Geist, wuchs, von Friedman geschweißt, eine Denkschule heran, die üblicherweise als Neoliberalismus gerufen wird und die heute als alternativloses Mantra gilt. In Deutschland ist Hessen eines der Länder, die eine neoliberale Vorreiterrolle eingenommen haben; unter der Regierung Koch erblühten neoliberale Gesetze und Regelungen, die nun unter seinem Diadochen weitergepflegt werden. Das Schulwesen zum Beispiel, das ist von neoliberalen Gedanken durchsetzt wie kaum wo - Wettbewerb, gezielte Unterbesetzung und absichtlich vom Land klamm gehaltene Kassen; dazu die Zusammenlegung von Hauptschülern und Realschülern; nicht von Hauptschule und Realschule, sondern von den Schülern, die in einer Klasse von einem Klassenlehrer mit zwei unterschiedlichen Lehrplänen synchron unterrichtet werden, was natürlich innerhalb des Klassenverbandes eine Art sozialer Hierarchie entstehen läßt und die Schüler geradezu zu klassizistischen Auswüchsen anhält.

Dies nur als Beispiel. Es gibt so vieles mehr. Und die hessischen Medienanstalten bringen den vom Bundesland verordneten Neoliberalismus ins Leben der Menschen - so berichteten sie etwa vom Spar-Euro. Dass es den ausgerechnet in Hessen gibt, ist so gesehen kein Zufall.

Missstände werden belobigt, nicht beseitigt

Dass man diesem doch eigentlich so unscheinbaren, so uninteressanten Preis medial doch Beachtung schenkt, zeigt nur, wie sehr hier Aktionen, die dem neoliberalen Weltbild zupass kommen, inszeniert werden. Dieses Jahr lobte man eine Kommune, die das Schulangebot von Eltern abdecken und das Freibad mit ehrenamtlichen Engagement führen ließ. Was also bezahlte Arbeit beseitigt und aufgegeben hat und das Ehrenamt förderte, ist dem Bund der Steuerzahler eine Auszeichnung wert. Gedanken darüber, wie man Einrichtungen sinnvoll finanzieren, wie man finanzschwachen Kommunen ein Auskommen sichern kann, spielen für ihn überhaupt keine Rolle. Es scheint die Alternative höherer Besteuerung durch Land oder Bund und einer sich daraus erzielenden Umverteilung auf strukturschwachen Kommunen gar nicht zu geben, denn im Neoliberalismus ist Sparsamkeit die einzige Alternative - alles andere ist undenkbar und wird für undurchführbar erklärt.

Ähnlich ist es, wenn man im hessischen Radio lautstark drei Kommunen lobt, die man nun auszeichnete, weil sie sich einen Bagger teilten, statt drei Bagger gekauft zu haben. Das ist sicher sinnvoll und mag für kleine Kommunen die einzige Lösung sein - nur wer denkt aber auch mal daran, dass mehr Investitionen, mehr Aufträge an Betriebe, mehr benötigte Arbeitskraft der Gesellschaft mehr geben könnten, als knausern und knapsen?

Dass es Kommunen gibt, die sparsam mit ihrem Geld umgehen müssen, steht außer Frage - sie gehören aber nicht dafür belohnt, dass sie aus ihrer Not eine Tugend machten, ihnen gehört vielmehr geholfen. Der Neoliberalismus glaubt aber nicht an Hilfe, sondern nur daran, dass man demjenigen, der sich mit seiner Not und mit Missständen arrangiert, loben sollte. Und mit Auszeichnungen wie dem Spar-Euro, den man Relevanz schenkt, indem man ihn öffentlich platziert und ihm somit ein Forum schenkt, verfestigt man diese Denkweise in den Köpfen der Menschen.


Frage zum Schluss: Wem gebührt eigentlich der Spar-Euro? Denen, die Sozialleistungen trotz Anspruch nicht beantragen oder denen, die jahrelang darauf hinwirkten, Sozialleistungen für moralisch so fadenscheinig zu erklären, dass sie Menschen gar nicht mehr in Anspruch nehmen wollen?



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Sit venia verbo

"Ich glaube nicht an die "böse" Natur des Menschen, ich glaube, daß er das Schrecklichste tut aus Mangel an Phantasie, aus Trägheit des Herzens.
Habe ich nicht selbst, wenn ich von Hungersnöten in China, von Massakern in Armenien, von gefolterten Gefangenen auf dem Balkan las, die Zeitung aus den Händen gelegt und, ohne innezuhalten, mein gewohntes Tagewerk fortgesetzt? Zehntausend Verhungerte, tausend Erschossene, was bedeuten mir diese Zahlen, ich las sie und hatte sie eine Stunde später vergessen. Aus Mangel an Phantasie. Wie oft habe ich Hilfesuchenden nicht geholfen. Aus der Trägheit meines Herzens.
Würden Täter und Tatlose sinnlich begreifen, was sie tun und was sie unterlassen, der Mensch wäre nicht des Menschen ärgster Feind.
Die wichtigste Aufgabe künftiger Schulen ist, die menschliche Phantasie des Kindes, sein Einfühlungsvermögen zu entwickeln, die Trägheit seines Herzens zu bekämpfen und zu überwinden."
- Ernst Toller, "Eine Jugend in Deutschland" -

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Tage wie dieser

Dienstag, 11. September 2012

Es ist nicht mehr der elfte Tag des September, nicht der heutige Tag, der unser aller Leben veränderte - was er ohnehin nie war, denn chronistisch gesehen war es der 25. Oktober, der uns als Gesellschaft verformte. Dieser 11. September hat abgewirtschaftet als Tag kollektiven Bewusstseins darüber, dass sich etwas verändert habe. Er war sowieso nur der sentimentale Auswurf eines aufgeblähten Weltveränderungsmythos' - denn nicht die Terroristen hatten die Welt verändert, sie rissen lediglich eine Lücke in die Skyline New Yorks und in etliche, aber doch überschaubare Schicksale; die wahrhaften Veränderer waren westliche Politiker, die einen Monat danach, als Oktoberrevolutionäre sozusagen, das Antlitz der Welt nachhaltig prägten, ihn zu einen unfreieren Ort machten. Nun wartet ein neuer Gedenktag; die neuen Iden des März liegen ebenfalls im September, jedoch nur einen Tag nach dem elften Tage dieses Monats.

Morgen befindet das Bundesverfassungsgericht über einen Umknetungsprozess, der unser aller Leben umgestalten wird.

Old Europe ist langweilig, hat keinen Sinn für Show, für Kitsch und Glamour, für Katastrophenstilistik. Das wirft man in den Staaten den Europäern gerne und oft vor. Dasselbe andersherum geht an die Adresse der verhollywoodeten US-Amerikaner. Schafft die US-Administration Tage, die die Welt verändern sollen, dann baut sie auf einstürzende Hochhäuser, auf Tränen und herzzerfetzende Schicksale, auf tragische Sequenzen und auf starke Sheriffs, die auf Rache sinnen, wenn sie von Gerechtigkeit quatschen; mit Fanfaren blasen sie zu metaphernreichen Reden und mit Trommelwirbel präsentieren sie Gesetze, die Freiheit dadurch sichern sollen, dass sie Unfreiheit festschreiben. Und Europa? Das ändert die Leben der Menschen langweilig, heimlich fast, in der Stille des Eurokratismus, ohne Pomp, ohne Katastrophen, was Glück ist!, ohne Tränendrüse, ganz sachlich, nüchtern, unterkühlt, im Duktus eisiger Ökonomen, in Wirtschaftssprech. Die Emotion steht der Ratio entgegen - beide kämpfen aber nicht gegeneinander, sie akzeptieren sich; beide haben ihren Bürgern auf ihre ganz individuelle Weise den Krieg erklärt.

Doch es sind stets stille Tage, die die Welt fast schon lakonisch modifizieren. Der 25. Oktober war auch kein bombastisches Feuerwerk, sondern einfach nur ein exekutiver Akt, der John Doe etwa so in den Bann schlägt, wie Monsieur Tout-le-monde oder eben Otto Normalverbraucher-Mustermann. Morgen erlebt letzterer den Tag der Veränderung als einen Akt judikativer Staatsgewalt, nicht als Folge terroristischer Anschläge.

Und wie verändern sie? Der Patriot Act setzte Bücher auf den Index, erschwerte deren Ausleihen - der ESM erschwert die Bücherleihe, indem er öffentliche Kassen leer hält und Kulturbudgets zusammenstreicht. Der Patriot Act machte Bürger zu terroristischen Verdachtsmomenten auf zwei Beinen - der ESM verdächtigt jede Ausgabe im Sozialwesen als unnötig und damit jeden Transferbezieher als überflüssig. Der Patriot Act schuf Gefängnisse, in denen ohne Richterspruch eingesperrt werden konnte - der ESM macht Gefängnisse zu profitbasierten Unternehmen, die sich selbst tragen müssen. Der Patriot Act sozialisierte Persönlichkeitsrechte, kollektivierte Privatsphäre, verstaatlichte Intimität - der ESM privatisiert den Sozialstaat, individualisiert soziale Probleme zu Folgen unmoralischer Lebensführung, zerstückelt das Allgemeinwohl.

Die Richter des Bundesverfassungsgerichtes, man darf es ahnen, werden sich nicht sperren. Mit Hurra! werden sie auch nicht in den ESM geleiten, die Haushaltshoheít werden sie theoretisch vom Bundestag eingehalten sehen wollen, gleichwohl sie praktisch in Brüssel ausgeübt werden wird. Bedenken werden sie als verständlich erklären, aber als unbegründet, wenn man sich an die Ratschläge hält, die man aus Karlsruhe der Politik erteilt - wie beim Bundeswehreinsatz im Inland.

Der 12. September 2012: ein Gedenktag. Und für die Propheten der neoliberalen Weltanschauung, für Sozialdarwinisten und Klassisten, für die Lehrer egoistischer Strukturen ein Dankestag. Free at last! werden sie rufen - und meinen die Freiheit, die sie haben, weil Staatshaushalte keinerlei Freiheiten mehr geben. Free at last! jubeln sie - und feiern jene Freiheit, die durch die Unfreiheit der 99 Prozent gesichert wurde. Free at last! brüllen sie sich zu - und sie werden hinzufügen: Wer sich bemüht, wer sich anstrengt, der wird auch frei - alleine es wollen so viele nicht ...



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Seid umschlungen Millionen

Montag, 10. September 2012

Es ist keine Eigenschaft des Qualitätsjournalismus', wenn er beständig von Uns und Wir spricht. Dies war ursprünglich einzig die Stilistik des Boulevard, Springeristik sozusagen - heute nimmt man diese Tour auch andernorts wahr.

Unsere Sportler, unsere Minister

Leider verfallen die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten zusehends in boulevardeske Schablonen. Auch sie bedienen sich mittlerweile solcher fraternisierenden Pronomen, auch dort verbrüdern sich Nachrichtensprecher und Moderatoren mit ihren Zuschauern.

Bei den Olympischen Spielen war es Usus, dass Reporter "unsere Athleten" lobten oder kritisierten. Den nötigen journalistischen Abstand, um von "deutschen Athleten" zu reden, brachte man nicht mehr auf. Und selbst bei heute mehrt sich diese verbrüdernde Entjournalisierung. Neulich meinte ein junger Nachrichtensprecher, "unser Verkehrsminister" habe mit seiner KFZ-Schilder-Idee etwas losgetreten. Das ist eine neue Qualität, denn dass man Sportler ins Uns kollektiviert, war nicht neu, kannte man ausreichend. Einen Verkehrsminister zu "unserem Minister" zu machen, das klingt furchteinflössend, als kriegten wir ihn am Ende gar nicht mehr los, denn er gehört doch zu uns.

Die nüchterne Distanz und die absichtlich gewählte Unterkühlung gegenüber den Sujets der Berichterstattung machten mal gute journalistische Arbeit aus. In dritter Person zu berichten, galt als sprachliche Ausformung von Objektivität. Die Worte Abstand und Anstand hatten in diesem Metier insofern eine Wurzel. Objektivität war sicherlich auch nicht stets gegeben, es gab immer parteiische Journalisten - aber der Stil, das Handwerk, ja die Seriosität wurde wenigstens noch eingehalten.

Journalistische Ver-Wir(r)-ungen

Die distanzlose Ver-Wir-ung und Ver-Uns-ung ist weder seriös noch realitätsnah, denn sie suggeriert, es gäbe eine nicht näher definierte Schicksalsgemeinschaft. Wir und Uns schmiedet gesellschaftliche Partikularinteressen zusammen und sondert gegenteilige Ansichten und Interpretationen ab. Das Personalpronomen personifiziert die Sichtweise auf Dinge, die eigentlich aus Informationszwecken unpersönlich gestaltet und gehalten sein sollten. Diese persönliche Zuordnung erzeugt eine rhetorische Annäherung, täuscht eine Schicksalsgemeinschaft vor, in die wir alle eingebettet sind. Alle sind eingebunden, die Millionen umschlungen.

Du bist Deutschland! war eine Kampagne, die nicht wenig kritisiert wurde. Denn die Verwirrung mit der Ver-Wir-ung ist - und das Du in dieser Kampagne sprach einzig das Wir an -, dass sie das Zusammen postuliert, gleichwohl die Dynamiken zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten und -gruppen, kein naives Zusammenspiel, sondern ein mehr oder minder ordentlich organisiertes Nebeneinander ist, ein Arrangement und zuweilen ein unversöhnliches Gegeneinander. Der Qualitätsjournalismus nimmt sich dieses Wir mittlerweile ungeniert an, wahrscheinlich nicht ideologisch bedingt, sondern um flapsig zu klingen, nicht altbacken zu sein - er nimmt damit Abschied von journalistischen Tugenden und drückt dem Abnehmer journalistischer Berichte Tendenzen auf.



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