Nomen non est omen

Donnerstag, 31. Januar 2013

Heute: Druck

Ein Gastbeitrag von Markus Vollack.
"Innenminister Friedrich macht Druck auf Asylbewerber aus sicheren Ländern."
- Spiegel Online vom 25. Oktober 2012 -
Als Druck bezeichnet man eine physikalische Größe, die Kraft auf ein Objekt verrichtet. Synonyme für Druck sind Stress, Zwang, Gewalt, Wucht, Spannung und Härte. "Unter Druck stehen" meint, unter dem Zustand einer großen inneren Anspannung zu leiden. In der Politik wird oft und gerne Druck, das heisst Gewalt, auf bestimmte Gruppen ausgeübt.

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Reaktionen einer Kanzlerin

Mit der potenziellen rot-grünen Koalition in Niedersachsen hat sich das Kräfteverhältnis im Bundesrat verschoben. Manche Journalisten verstiegen sich daher sogar zu der Aussage, dass es für Kanzlerin Merkel schwerer würde zu regieren. Dies scheint ein weit verbreiteter Schreibfehler oder Versprecher zu sein, denn in diesem Satz fehlt ein A. Von der linken Mehrheit im Bundesrat, die nun einige Journalisten zu sehen glauben, wollen wir hier gar nicht erst sprechen.

She's in the middle of a chain reaction

Merkel regiert nicht. Sie reagiert. Ein Buchstabe vermag manchmal über Wahrheit und Hirngespinst zu scheiden. Regere meinte im engeren Sinne lenken oder leiten. Aber sie ist weder Lenkerin noch Leiterin. Sie ist die Reactio in persona, sie reagiert, wenn sie Impulse aus der Finanzwirtschaft erhält und setzt um, was in etwaigen Vorstandsbüros beschlossen und dem politischen Personal mitgeteilt wird. Dieses Europa nach neoliberalen Prinzipien ist die von ihr gezeigte Reaktion auf Instruktionen. Jede weitere Sparmaßnahme gehört zur in Kauf genommenen Kettenreaktion der vielen Order von ganz oben, von den Bankstern und Finanzkonzernen, die man gemeinhin als den Markt bezeichnet.

Die Regierung Merkel ist eine Schimäre. Sie ist die Reaktion auf eingeflüsterte und mittlerweile eingepflanzte Mantras einer Ökonomie, die sich selbst als alternativlos geriert. Merkel regiert doch nicht - sie ist die Reaktion der Märkte, der reaktive Stoff, das die 0,1 Prozent umhüllende Reagenzglas. Nennt man es Regierung, wenn das Primat der Politik mit Bankern ausdiskutiert werden muss, wenn jede ökonomische Entscheidung auf die Kompatibilität mit den Märkten geprüft wird? Regiert man, wenn man pflichtschuldig Sozialabbau betreibt, Mehrwertsteuererhöhungen plant und vorauseilend den Wettbewerbsstaat ausruft, um den finanzindustriellen Größenwahn zu besänftigen? Ist es Regierung, wenn man die Marktrisiken der Finanzkonzerne sozialisiert und deren Gewinne privatisiert? Kann man von Regieren sprechen, wenn man Einflüsterungen wie solchen, man möge die Gesellschaft durchprivatisieren, erliegt und damit die Allgemeinheit schächtet?

Wer A nicht sagt...

Zitate wie jene, Merkel würde das Regieren erschwert, zeugen von Schönfärberei, von einem Interesse daran, sie als die Richtlinienkompetenz einer Politik zu stilisieren, die verheimlichend Armut erzeugt und diese Armut hinter Hochglanzbroschüren voller Selbstlob versteckt. Die Richtlinien gibt die amtierende Kanzlerin nicht vor - die werden in der Privatwirtschaft entworfen. Als Merkel noch durchregieren konnte, war das nicht anders. Auch da reagierte sie nur durch. Sie sitzt keiner Regierung vor, sie ist Kopf einer Reagierung - einer Abreagierung großmannssüchtiger Affekte ihrer spritiual leader. Von einer Regierung zu sprechen heißt demnach, am potemkinschen Dorf nicht zu rütteln. Wer das A nicht sagt und regieren statt reagieren begrifflich nutzt, der hat die Substanz dieser postdemokratischen Republik noch nicht durchdrungen. In der gibt es kein politisches Primat mehr, sondern nur noch politische Primaten. Das verschluckte A ist die Tünche für eine demokratische Kultur, in der Entscheidungskompetenz mehr und mehr in die Privatwirtschaft delegiert wird.

Ein A - es ist bloß dieses A an dem es mangelt. Nur dieses eine A fehlt bis zur Abbildung der Realität. Ob sie gegen die linke Mehrheit im Bundesrat durchreagieren kann? Welche linke Mehrheit? An dieser Behauptung fehlt wiederum so viel mehr als nur ein A ...



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Mächtig ergriffen

Mittwoch, 30. Januar 2013

oder Der Machtergreifung gedenken und die Machtergreifung betreiben.

Vor exakt achtzig Jahren haben sie ihn eingerahmt, ihn sich engagiert. Die übliche Tour des Konservatismus, den Pakt mit der Teufelei als etwas hinzustellen, das hochvernünftig und alternativlos sei. Das Teuflische hat sich seither verändert - die konservativen Gesichter auch. Die Masche ist aber irgendwie immer dieselbe.

Mächtig ergriffen sind sie am heutigen Tage. Auf den Tag genau achtzig Jahre ist es nun her, dass die Demokratie zu Weimar endgültig erlegen ist. Und gleichzeitig steht die Demokratie heute am Scheideweg, weswegen die im Gedenken schwelgenden Funktionseliten dieser Republik allerdings weniger ergriffen sind. Sie rufen Nie wieder! und schon wieder gibt es eine Gefahr, die man als alternativlos und hochvernünftig hinstellt. Eine ohne Fliegenschissbart und ohne Zuhälterfrisur. In einem Zeitalter, da alles auf Hochglanz gedruckt, in dem alles mit steriler Politur bepinselt, in der aalglatte Flächen, weiche Brüche und manierierte Kantenlosigkeit sowohl architektonisches als auch gesellschaftliches Renomée besitzen, sehen auch Gewaltmenschen ansprechender aus.

Machtergreifung nannten die Machtergreifer selbst ihren für damalige Verhältnisse legalen Aufstieg. "... alles ging streng "legal" vor sich, mit Mitteln, die durchaus in der Verfassung vorgesehen waren, "Notverordnungen" des Reichspräsidenten zunächst und schließlich einem Beschluß, die unbeschränkte Gesetzgebungsgewalt auf die Regierung zu übertragen, gefaßt von einer Zweidrittelmehrheit des Reichstages, wie sie für Verfassungsänderungen vorgesehen war", schrieb Sebastian Haffner dazu in seiner Geschichte eines Deutschen. Die heute gefährdete Demokratie wird nicht zum Opfer von illegalen Bestrebungen, sondern von legalisierten Zuständen. Auch sie ergreifen die Macht nicht, sie bekommen sie garantiert, gesetzlich zugeschustert - man rahmt die Marktradikalität ein, engagiert sie sich.

Der Vergleich hinkt natürlich. Muss er. Kaum etwas ist in der Geschichte vergleichbar. Man kann, wenn man genau sein will, nichts miteinander vergleichen. Alles Äpfel und Birnen und noch so viel anderes Obst mehr. Nichtsdestotrotz gibt es immer einzelne Positionen, die sich etwas gleichen, die Licht und Schatten auf das werfen, was sich aktuell ereignet. Marx täuschte sich, als er irgendwo bemerkte, dass sich "weltgeschichtliche Thatsachen und Personen" einmal "als große Tragödie" und ein zweites Mal "als lumpige Farce" ereignen würden. Richtiger wäre die Feststellung gewesen, dass sich Geschichte immer als Tragödie scheinwiederhole - und gelegentlich auch mehr als zwei Mal.

Unsere zeitgenössische Tragödie ist keine, die mit hasserfüllter Stimme spricht; keine, die von jetzt auf gleich ermächtigt wird; keine, die eine Führergestalt benötigt. Aber sie ist gleichwohl tragisch für viele Menschen. Und die Ermächtigungsarbeit, die Legalität als Mittel zur gesellschaftlichen Verankerung der Ideologie, aber auch die Exklusionsbestrebungen für einen Teil der Gesellschaft, machen einen dergestalt hinkenden Vergleich doch wieder zu einer gerechtfertigten Sache.

In einer Machtergreifung leben wir seit Jahren, vielleicht Jahrzehnten. Das Primat der Politik schwindet zusehends. Bundestagsabgeordnete sind mit Diäten bezahlte Angestellte der Privatwirtschaft; Regierungen sind der verlängerte Arm von Konzernen. Die Finanzindustrie und die Lobbyverbände allerlei Sorten griffen nach der Macht und halten sie seither schön fest - bloß geben sie es nicht zu. Wir befinden uns in einer Situation nach der Demokratie. Was uns blieb sind Demokratierituale, parlamentarisches Brauchtum und eine pseudopartizipierende Liturgie. Täglich leben wir mehr in Zeiten der Machtergreifung. Diese Ökonomie der Eliten will ihre Macht in Schulen, in Behörden und im Arbeits- und Sozialwesen etablieren und hat sie teils schon dort eingepasst und verschweißt.

Machtergreifung ist dauernd. Und heute denken wir mal an eine. Wir leben im Rückblick und verlieren unsere Gegenwart aus den Augen. Rückwärts immer, vorwärts nimmer. Natürlich ist die Rückschau existenziell. Man muss seine Vergangenheit kennen, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Binsensprüche natürlich - aber zutreffende. Wenn die Vergangenheit allerdings nur dazu dient, die gegenwärtigen Prozesse zu übertünchen, dann wird es verwerflich. An die eine Machtergreifung gedenken und die amtierende Machtergreifung betreiben ist eine Sauerei. Aber genau so läuft es immer. Vor Jahren betrieb man eine Art journalistisch angeleiteten Gesinnungs-Pogrom gegen Arbeitslose - danach war die Genetik der Araber dran - und im Bundestag repetierten sie am Holocaust-Gedenktag Nie wieder! Nie wieder! Diese Verlogenheit nennt man Verantwortung vor der Geschichte.

Auch so ein Vergleich verschiedener Obstsorten - aber er hat seine Berechtigung, denn einst nährte man erst ein Klima, dann kam es zur allgemeinen Stimmung, zum Befürworten und Wegschauen, dann zur Exklusion und später zum bis dahin Undenkbaren. Das Undenkbare war nicht einfach so in die Gesellschaft getreten, sondern vorbereitet worden. Nie wieder! appellieren und gleichzeitig die Vorbereitungen ungestraft und ungesühnt lassen, ist schon ein sehr perverser Gebrauch von Rückschauhalten. Ähnlich ist es nun bei der Machtergreifungschose.

Es gibt einen Stichtag zum damaligen Antritt der Dunkelheit. Eben dieser 30. Januar 1933 - in sechzig, achtzig oder hundert Jahren wird es an einen Stichtag mangeln. Die Machtergreifung der neoliberalen Ökonomie in jeden noch so banalen Lebensbereich, die Durchdringung der Lebensrealität mit Krämerjargon und einem unhaltbar biologistischen Menschenbild - all das wird nicht auf einen Tag gelegt werden können. Zu schleichend war der Prozess, zu still, zu abseits von den lauten Kanälen. Aber klar wird es dennoch immer mehr: Sie haben die Macht ergriffen. Ohne Notstandsgesetze durch den Bundestag beschlossen, dafür mit eingeflüsterten Notstandswarnungen in Hinterzimmern.

Zynisch gesagt: Man hat aus der Geschichte doch etwas hinzugelernt - nicht die Gesellschaft hat gelernt, nur die, die die Macht ergreifen wollen, haben ihre Lehren daraus gezogen und ergreifen die Macht nun effektiver als alle Machtergreifer vor ihnen.



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Sit venia verbo

Dienstag, 29. Januar 2013

"Der Mensch will von Natur nicht Geld und mehr Geld verdienen, sondern einfach leben, so leben, wie er zu leben gewohnt ist, und so viel zu erwerben, wie dazu erforderlich ist."

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Diese Zeit reißt viele Wunden

Montag, 28. Januar 2013

Quelle: Westend Verlag
Die Finanzbranche und speziell der Hochfrequenzmarkt haben die Kontrolle über Unternehmen an sich gerissen, daraufhin zur Steigerung des kurzfristigen Renditedenkens beigetragen, das nichts weiter als ein Kontrollinstrument ist, die Arbeit entregelt, die solidarische Sicherung zerstört und die Normalarbeitszeit quasi abgeschafft und somit die Privatsphäre der Menschen durchlöchert und treiben in letzter Instanz die Privathaushalte vor sich her. So jedenfalls lautet in nuce die These Friedhelm Hengsbachs zur Beschleunigungsgesellschaft. Ähnlich hatte es der ehemalige US-Arbeitsminister Robert Reich schon vor einigen Jahren formuliert. Für ihn waren die neuen Kommunikationstechnologien, die Zeitersparnis für jedermann versprachen und auch hielten, gleichermaßen auch Antreiber nicht nur marktimmanenter Prozesse, sondern hetzten als Impulsgeber letztlich auch die gesamte Gesellschaft vor sich her. Reich nannte das die Geburtsstunde eines Superkapitalismus, der nicht zuletzt auch die Demokratie gefährde. Hengsbach sieht das ganz ähnlich und fordert eine Rückkehr zur Gerechtigkeitsfrage.

In Die Zeit gehört uns analysiert Hengsbach das Phänomen Zeit und den Umgang mit ihr im Neoliberalismus. Er tut das als Ethiker, Soziologe und Philosoph.

Normierte Zeiteinteilungen und Handlungssequenzen waren stets zur Verfestigung der elitären Machtsphäre gedacht. Wie die Zeit zu ticken habe, wann etwas gemacht werden soll und wann nicht, das ist nicht nur einfach so in der Praxis und aus naheliegenden Gründen entstanden, sondern stets auch eine Frage der Machtverhältnisse, der ökonomischen Verteilung und der Produktionsarrangements gewesen. Die Zeit erhielt erst mit den Menschen eine Skala. Nun verröchelte sie nicht mehr ungemessen, sondern in Einheiten. Der Naturbezug und der Biorhythmus fand aber auch im Zeitalter der Uhr noch rudimentär Berücksichtigung, scheinen aber heute immer mehr ins Hintertreffen zu geraten. Der heutige Mensch der industrialisierten Welt lebt in der künstlichen Zeit, aber immer weniger in den in ihm schlummernden biologischen und evolutionär bedingten zeitlichen Prämissen. Die innere Uhr liegt immer weniger im Trend. So nehmen fest eingeplante wöchentliche Ruhezeiten ab, wird das Wochenende der Flexibilität am Arbeitsmarkt geopfert, werden Schicht- und Wechselschichtmodelle zum Standard und die Nachtarbeit zur Normalität. Der durch die Beschleunigungsdynamik entstandene Druck im Arbeitsleben erzeugte ein (noch) ungeschriebenes Gesetz der Allerreichbarkeit, dem sich Arbeitnehmer beugen sollen. Die Ruhe kann jederzeit gestört werden, wenn sie sich denn überhaupt je einstellt.

Die Deutsche Post garantierte letztes Jahr, dass Pakete, die bis zur Mittagsstunde des 22. Dezembers bei der Post abgegeben würden, auch wirklich an Heiligabend die Empfänger erreichten. Folglich stellte DHL auch am 23. Dezember 2012, einem Sonntag, Pakete zu. Diese Feiertagsarbeit gesellte sich zu den sowieso überlangen Schichten aufgrund des Weihnachtsgeschäfts. Vor vielen Jahren hätte die Bundespost vermutlich keine Garantie gegeben, allerdings freudlich darauf hingewiesen, Pakete zur Weihnachtszeit rechtzeitig zur Post zu bringen. Die beschleunigte Gesellschaft läßt eine solche Erinnerung zur Pünktlichkeit, die entschleunigen soll, gar nicht mehr zu. Der Paketzusteller ist auch dann pünktlich, wenn der Absender es nicht ist. Service nennt sich das. Und der geht zulasten der Angestellten.

Dies ist nur eines der vielen kleinen und größeren Beispiele des beschleunigten Alltages. Wie die Beschleunigung Stress erzeugt und Arbeitsverhältnissen eine Flexibilität abringt, die unnatürlich ist und die dennoch diesem Sog der Schnelligkeit unterliegt und psychische wie körperliche Folgeschäden verursacht, läßt sich fast überall aus den gesellschaftlichen Verhältnissen explizieren. Es ist ein alter Hut, wenn man wie Hengsbach auch auf die Zunahme psychischer Erkrankungen durch Zeit-, Kosten- und Anpassungsdruck und Mobbing, als makaberes Ventil zum Druckablassen gegen das schwächste Glied einer Gemeinschaft, oder auf die Verdichtung von Burnout-Syndromen hinweist - aber ein Beleg für die Beschleunigung scheinen diese Zahlen durchaus zu sein.

Ausschnitt aus Dalís
"Die Beständigkeit der Erinnerung"
Hengsbach stellt fest, dass wieder mehr gearbeitet wird. Zudem vermische sich Freizeit und Arbeitszeit immer stärker. Was er leider nicht berücksichtigt: Die Wege zum Arbeitsplatz und zurück sind für viele Menschen heute lang und zeitintensiv. Der Mensch ist somit mit seiner Erwerbsarbeit oft viel länger beschäftigt als es die reine Arbeitszeit auf dem Papier vorgibt. Gestaltete sich das Leben von lohnabhängig Beschäftigten früher noch nach privaten und beruflichen Aspekten, so arrangiert sich ein solches Leben heute verstärkt mit den Notwendigkeiten, Vorgaben und Nachteilen einer Arbeitsstelle. Auch zwei Stunden An- und zwei Stunden Rückfahrt sind nach den Geboten der Flexibilität und den Maßgaben der Arbeitsämter noch zumutbar. Die Politik stellt sich nicht gegen diese Beschleunigung und versucht nicht mal die Symptome abzumildern. Stattdessen kippen immer wieder Ladenschlussgesetze und erschweren es den Angestellten im Handel, die ohnehin schwierige Gratwanderung zwischen Familie, Hobby, Entspannung und Beruf gelingbar zu machen. Andere Aspekte der allgemeinen Beschleunigung, wie der stetige Kosten- und Lohndruck, dem die Menschen ausgeliefert werden, tun das Nötige dazu, dass das zur Ruhe kommen fast nicht richtig mehr gelingen mag. Immer mehr Menschen klagen darüber, dass sie nach Arbeitsende nicht mehr abschalten können. Sie sind so in der Beschleunigung, dass ein Abbremsen nur schwer umsetzbar ist.

Der immer maroder werdende, stets neuerdings aufs Tapet kommende Kündigungsschutz und ganz generell der Sozialabbau, sind gleichwohl Folgen dieser Kultur der Beschleunigung. Das Schwinden von Normalarbeitsverhältnissen zugunsten von Teilzeit- oder Minijobstellen ist dem Mantra der Flexibilität geschuldet. Die herrschende Ökonomie ist eine Ökonomie der Kälte, weil sie in steter Eile ist, keine Zeit hat, um darauf zu sehen, was einer Gesellschaft wichtig zu sein hat und was nicht. Der Markt ist der gehetzte Exekutor der sozialen Kälte.

Dieser eilige Rhythmus, der über den Hochfrequenzhandel alle Teile der Gesellschaft erfasst hat, mag nicht kalkuliert gewesen sein. Da er aber nun mal in der Gesellschaft ist, hat er sich sicherlich nicht als Nachteil für die Eliten der Wirtschaft erwiesen. Sie haben Interesse daran, den Takt weiterhin so forsch anzuschlagen. Entschleunigung ist deren Ziel sicher nicht. Sie normieren unsere Zeit, füllen sie mit Gehetztheit, takten den Alltag und reißen viele Wunden in Personen und Gesellschaftsgruppen, zerstören soziale Gefüge und erklären mit Unschuldsmiene, all das sei notwendig, um den Wohlstand zu erhalten.

Man kann nur hoffen, dass Hengsbachs soziologisch-philosophischer Abriss des Phänomens Zeit und des gesellschaftlichen Umgangs mit ihr, kein zeitloses Werk wird, sondern zur Abhandlung über einen Zeitgeist, der sich irgendwann wieder gedreht hat.

Die Zeit gehört uns. Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung von Friedhelm Hengsbach ist im Westend Verlag erschienen.



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Ich habe leistungsfördernde Substanzen verschrieben

Freitag, 25. Januar 2013

Ich bin Lance Armstrong dankbar. Ich wollte in jenen Jahren Parforceritte sehen, schnelle Antritte am Berg, spektakuläre Aufholjagden, ein deklassiertes, in Sprengsel zerfahrenes Feld, das rackert und kämpft und zu den Dominatoren des Fahrerfeldes trotzdem nicht aufschließen konnte. Ich wollte sehen, wie jeder Attacke eine Riposte folgt und wie das Übermenschliche auf den Landstraßen in immer mächtigerer Übermenschlichkeit pedalierte. Und Armstrong hat mir und all den anderen Radsportbegeisterten genau das gegeben. Ich war die Nachfrage - er das Angebot.

Wir wollten Show und wir bekamen Show. Diese Show musste immer abenteuerlicher, immer epochaler sein. Die Giganten der Landstraße musste mit jeder Etappe und mit jedem Jahr gigantischer werden. Höher, schneller, weiter! Der Wettbewerb findet ja nicht nur zwischen den Sportlern statt, sondern auch im Buhlen um die Gunst von Zuschauern und Sponsoren. Gewinnt man zwei Bergankünfte und verliert bei der dritten Ankunft plötzlich drei Minuten auf den Konkurrenten, wirkt dabei nicht mehr besonders frisch, dafür abgekämpft und bleich, dann ist die Krise schon publizistisch vorbereitet, dann wird die Qualität hinterfragt und verkündigt, man sei doch kein so großer Champion wie angenommen. Und die Zuschauer sind natürlich ebenfalls enttäuscht, kraxelten sie doch extra Alpe d'Huez hoch oder verbrachten den ganzen Nachmittag bei Eurosport und dann tritt der Typ einfach nicht an, keine Attacke, stattdessen Langeweile und Leistungsvakuum. Wie oft kam der Angriff Ullrichs auf Armstrong nicht und man nannte ihn deshalb ein schlafmütziges und schlampiges Talent! Aus Jan wurde sodann ganz schnell wieder der Herr Ullrich. Wer nicht spurt, wer die Nachfrage nicht befriedigt, den straft man mit Liebesentzug. Der Wettbewerb innerhalb der strampelnden Konkurrenz ist fast schon ein Klacks - der Wettbewerb um die Gunst der Nachfrager, der Konsumenten und Showbegeisterten ist die wirkliche Tortur.

EPO sei dank bekamen wir unsere Show. Muskelpräparate und Eigenblut sicherten uns Entertainment. There's no business like show business. Um Schnelligkeit ging es gar nicht so sehr. Nicht um die messbare Schnelligkeit. Bei der Zielankunft interessiert alles, nur die gestochene Zeit so gut wie nicht. Der Anschein von Schnelligkeit war es, der uns beflügelte. Armstrongs Takt am Berg manipulierte uns, weckte den Eindruck bei uns, er tritt in die Pedale wie niemals zuvor und vielleicht niemals danach jemand. Man dachte, er fliege hinauf. Um Zahlen ging es nicht, nur um den Eindruck, um die vermittelte Sicht, um die Suggestion von Höher, schneller, schneller und noch schneller - und weiter. Die Gier nach augenscheinlicher Geschwindigkeit, nach nie zuvor gesehenem Spektakel, nach mindestens sensationeller Leistung - das war keine realistischer Anspruch der Öffentlichkeit, das war die Geilheit auf Show, auf Menschen, Räder, Sensationen!

Wenn wir Tickets für irgendeinen Komiker oder Kabarettisten erstanden haben, und dem stirbt einige Stunden oder auch Tage vor seinem Auftritt die Mutter oder seine ist Partnerschaft in fremde Betten entfleucht, verlangen wir dann nicht dennoch, dass wir auf unsere Kosten kommen? Der lachende Clown, dem zeitgleich die Träne seines privaten Unglücks über die Wange rinnt, ist ein dramaturgisches Leitmotiv, das diese Diskrepanz trefflich zeichnet. The show must go on - und nicht nur das: Die Show ist alles, ist das Leben, ist das was wir wollten seinerzeit. Man hat in dieser Gesellschaft einen marktwirtschaftlichen Anspruch auf Show. Show ist die Konstante. Wenn man nur Show vor Fakten legen kann, vor Lappalien, dann wirkt es gleich viel seriöser. Was war Armstrong anderes als ein Showmensch? Er und alle seine Strampelgenossen. Er und alle Sportler. Er und alle Radler, Läufer, Kicker, die am Montag lesen müssen, wie schlecht, wie beschissen und wie enttäuschend sie am Wochenende gesportelt haben. Sie bekommen entweder die volle Häme und Abneigung zu spüren oder die Liebe zu Füßen gelegt. Und manchmal geschieht beides binnen weniger Tage.

Ich mache mir nichts vor. Ich partizipiere an Armstrongs und Ullrichs und Contadors Gedope. Wie ich saßen Millionen vor dem Flimmerkasten, standen Hunderttausende an den Straßenrändern und warteten auf eine Show der Extraklasse, auf einen magischen Moment der Radsportgeschichte - wie an jenem Nachmittag, als Armstrong an einem Beutel eines Zuschauers hängen blieb, stürzte, aufholte und den Etappensieg mit zäher Leistung einfuhr; seither wartete ich jeden Tag auf ein Spektakel von mindestens dieser Güte und seither war eigentlich immer unbefriedigt zurückgeblieben. Nie mehr kam so ein Augenblick. Enttäuschung konnte ich mir da nicht verbeißen. Die Stimmen mehrten sich, dass das Pulk gelangweilt und satt und zu behäbig sei. Und wurde Ullrich Zweiter, so nannte auch ich ihn einen tragischen Verlierer, weil er in eine Epoche mit dem Texaner fiel. Ein tragischer Verlierer! Weil er Zweiter wurde! Nur Zweiter! Dabei war ich noch freundlich, andere hießen ihn zu dick, zu bequem und sportlich überbewertet. Ich und mit mir diese ganze selbstgerechte Fangemeinde, nicht der harte Kern passionierter Radsportler, die will ich aussparen, die lieben den Sport wirklich - wir, die wir uns mit dem Hype des Radsports plötzlich formierten, wenig Ahnung hatten, die Helden der Landstraße bewundern wollten und immer mehr und mehr erwarteten, haben verbotene Substanzen vorgeschrieben. In gewissem Sinne sogar durch erpresserische Erwartungshaltung verschrieben. Wir waren das Rezept dazu, eine seltsame Arznei- und Heilmittelverordnung. Wir zwangen niemanden, wir erteilten nur denjenigen Liebesentzug, die nicht mitspielten, die deshalb nur im Gruppetto zum Tourmalet keuchten. Nur! Schon wieder dieses Wort!

Mit Armstrong zusammen sitzt eine Journaille und eine Zuschauergemeinde Oprahs sich in Seriosität übenden Boulevardantlitz gegenüber.  
Haben wir je verbotene Substanzen genommen?, fragt sie uns. Antwort: Nein! Wir haben sie vorausgesetzt, weil wir absolute Leistung und absolute Leistungssteigerung erwarteten.
Bei allen sieben Tour-Siegen?, fragt sie weiter. Antwort: Nein! Schon vorher und auch danach und womöglich wieder, wenn es mal wieder ein Jahrhunderttalent wie Jan Ullrich gibt.
Hat das UCI davon gewusst?, fragt sie uns misstrauisch. Antwort: Sicher! Und den Medienhype, der in Maßlosigkeit und mit ahnungsloser Überheblichkeit losgetreten wurde, sogar noch entflammt. Es war doch schön, plötzlich als Sport im großen Stil wahrgenommen zu werden.

Machen wir es uns als Sportgesellschaften des Westens vielleicht einfach! Erst feiern wir diese Gladiatoren - dann lassen wir sie nicht nur fallen, sondern treten sie und überstellen sie dem Spott, der sich manchmal Journalismus nennt. Später schieben wir alle Schuld für Verfehlungen auf die Athleten. Als wäre Doping nichts, was nicht auch sozio-ökonomischen Mustern folgte; als wäre der Dopingsünder nicht auch immer ein Produkt eines ganz besonderen gesellschaftlichen Klimas der Überbewertung seines Sports. Es wäre zu viel, die Armstrongs als gesellschaftliche Abtretmatten zu bezeichnen, denn dazu haben sie meist zu gut verdient. Aber es ist auch zu wenig, uns als Teil des Spektakels für unschuldig zu erklären.



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Facie prima

Donnerstag, 24. Januar 2013

Heute: Der angebliche Tropendiktator, Hugo Chávez

Ein dicklicher Mann im Trainingsanzug. Pathetische Geste dennoch. Das ist Chávez, wie man ihn sieht und sichtbar macht. Er soll nicht bloß ein Tyrann sein, der im kommunistischen Wahn multinationale Konzerne enteignete, um die Ressourcen seines Landes nicht weiterhin zum Selbstkostenpreis exportieren zu müssen - er soll als die Karikatur eines Genussmenschen, den man Herrschsucht nachsagt, der in seiner peinlichen Maßlosigkeit abgebildet wird, um einen glaubhaften Diktator abzugeben, stilisiert werden. Die Peinlichkeit ist dabei ein Attribut, das man bemüht, um das Klischee des Tropendiktators zu reanimieren. Dick, schlecht angezogen und voller schmierigem Pathos.


Der Lamettadiktator paradiert, grüßt militärisch, küsst Kruzifixe. Komische Gestik inklusive. Er soll als die personalisierte Lächerlichkeit wahrgenommen werden, als Charakter läppischer Natur. Eine Auseinandersetzung mit Chávez als historische Erscheinung seines Kontinents wird mit Fotographien dieser Sorte untergraben. Chávez soll zur Erscheinung eines Typus modelliert werden, wie ihn Südamerika immer wieder ausspuckte. Berichte, die das bolivarische Venezuela behandeln, zieren das törichte Konterfei eines stets neu demokratischen gewählten Staatspräsidenten, der nicht als solcher wahrgenommen wird und dem man die Gesichtszüge als die eines Deppen betont.

Bilder des von Krankheit gezeichneten Chávez flankieren die Berichte höchst selten. Als glatzköpfigen, aufgedunsenen Mann kennt man Chávez nicht. Er ist zum Mann in Lametta und Trainingsrobe, zum fotographierten Tolpatsch, über dessen politische Motivation man nicht spricht, den man nicht als Menschen sehen soll, sondern als vergötterten Despot, berufen. Als solcher muss er gar nicht unbedingt selbst als Zierat diverser Artikel, die ihn behandeln, zur optischen Gestaltung herangezogen werden. Man bietet stattdessen Devotionalien an, Chávez-Bildchen, -Anhänger oder -Talismane. Die übliche südamerikanische Verehrung starker Männer, die nicht regimediktiert, sondern der lateinamerikanischen Tradition und des dortigen Synkretismus aus Profanie und Katholizismus geschuldet sind. Der vergötterte Chávez soll zeigen, wie maßlos seine Geltungssucht ist, wie weit er seinen Personenkult getrieben hat, wie selbstverliebt er sich umgarnen läßt.



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Mehr als die Gewährleistung von Werbepausenfreiheit

Mittwoch, 23. Januar 2013

oder Was die Rundfunkabgabe sein könnte, aber nicht ist.

Die NachDenkSeiten wittern eine Kampagne gegen die Rundfunkabgabe. Das dürfte zutreffen. Gewillt bin ich trotzdem nicht, die Abgabe zu leisten, tue es lediglich unter Zwang. Nicht weil ich grundsätzlich dagegen wäre, sondern weil ich die Abgabe für das, was man mir als Programm aufzwingen will, nicht aufbringen möchte. Prinzipiell aber ist zu sagen, dass zur Erhaltung von Qualität ein Abgabesystem besser geeignet wäre, als es eine sponsorenbasierte Variante ist. Theoretisch jedenfalls. Praktisch und programmatisch hingegen, also mit Blick auf das Programm, auf Sendeinhalte und den Unterhaltungsstil, ist die Frage der Finanzierung des Fernsehens, nicht relevant. Sie bildet sich kaum an dem ab, was man zu sehen bekommt.

Ich darf für ein von öffentlicher Hand finanziertes Fernsehen bezahlen, das wie der privatfinanzierte Boulevardmist aussieht, der vom Dritten abwärts ausgestrahlt wird. Wenn für mich Rundfunkabgaben überhaupt etwas bedeuten, dann nur, dass sie notwendig sind, um sich von Sponsoren und Zuschauerquoten unabhängig zu machen, ein Programm anbieten zu können, wie es die Privatsender in ihrer Abhängigkeit zur Quote und den daran klebenden Geldgebern, nicht liefern können und wollen. Rundfunkabgaben könnten als die bedingte Befreiung von betriebswirtschaftlichen Kennzahlen im Bezug zur Programmgestaltung angesehen werden. Bedingt wären sie insofern nur, weil es natürlich niemals eine völlig unabhängige Medienlandschaft gegeben hat und auch die Abgabe den Einfluss etwaiger Doktrinen nicht unterbindet. Der privatwirtschaftliche Einfluss könnte hingegen vermehrt schwinden und mit ihm eine Unterhaltungskultur, die auf Nichtigkeit, Groteskes, billigen Sex und der Pflege von Bullshit baut.

Rundfunkgebühren ohne betriebsökonomische Normen, ohne Schielen auf Kundschaft, die sich hier Quote nennt, ohne Ausrichtung an einen frugal-dümmlichen Massengeschmack, der sich via Privatfernsehen in die Kulturlandschaft dieser Gesellschaft geschlichen hat, und ohne die hiermit verbundenen Aufplusterungen von Randständigkeiten und Nichtigkeiten, könnte man als ein Stückchen Unabhängigkeit in einer ansonsten abhängigen Medienwelt verstehen. Sie könnten das per Lastschriftverfahren gegebene Versprechen für Qualität, Kultur und einigermaßen angewandte Neutralität sein.

Das ist leider nur ein Ideal, die Realität sieht anders aus. Wir haben es mit einer Art Privatfernsehen finanziert von der öffentlichen Hand zu tun, mit einer Programmkultur, die bei Pro7 klaut und bei RTL spickt. Prominente turnen und hampeln dort, Seichtigkeit durchzieht das Programm und Boulevardkonzepte bedienen eine Kultur, in der die gemachten Titten eines C-Starlets mehr bedeuten, als geplante Kürzungen im Sozialwesen. Quizformate im Abendprogramm sind der öffentlich-rechtliche Tummelplatz für halbwegs prominente Menschen. Es scheint ohnehin, dass bei ARD und ZDF nichts mehr ohne ein Team prominenter oder prominöser Clowns funktioniert, die den Zuschauer abendlich mit einer warmen Steppdecke aus Seichtigkeit einwickeln sollen. Vielleicht kann man mit einigem Zynismus noch den Polittalk als die kulturelle Erfindung der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten nennen. Diese Sparte medialer Monotonie hat man kultiviert und zu einer Form von dadaistischer Kleinkunst gemacht, in der zusammenhanglos gestammelt und wirr gestottert wird - so lange, bis die endgültige Desorientierung den Zuseher ins Bett treibt, bis er sich mit Dada-Affekten die Welt erklärt.

Was ist eigentlich schief gelaufen mit der ursprünglichen Idee der Rundfunkabgabe? Die sollte verhindern, dass man sich als Anstalt Konzepte aufzwingen läßt, die vielleicht viel Publikum ziehen, die aber nichts mit Bildungsauftrag, guten Geschmack oder auch nur Unterhaltung zu tun haben. Das soll keine intellektuelle Unterhaltungsabneigung sein. Ganz im Gegenteil, Unterhaltung ist ja notwendig. Aber ist es unterhaltsam, Menschen bei der Verrichtung ihres Alltags anzugaffen? Sind wir schon so weit, dass das Bettenmachen oder das Kofferpacken ein Spektakel ist? Ist es Unterhaltung, wenn reiche Menschen auf Kreuzfahrt gehen und man beim Schlürfen von Cocktails zusehen darf?

Natürlich läßt sich das mit dem Aufkommen des Privatfernsehens erklären. Plötzlich hatten die von der Öffentlichkeit finanzierten Sender Konkurrenz. Und gerade da hätte sich diese Form der Finanzierung ausgezeichnet, gerade da wäre sie die Versicherung gegen die Durchseichtung gewesen, wenn man nicht damit begonnen hätte, auch hier die Betriebswirtschaftslehre einzubauen, Rankings zu erstellen, Quoten zu messen, Publikumssegmente zu analysieren. Die Rundfunkabgabe gibt es nach wie vor - ihre eigentliche Aufgabe aber, frei und ohne Einflüsse seitens des Zeitgeschmacks und natürlich der Wirtschaft (und stückenweise auch der Politik) zu wirken, erfüllt sie nicht mehr. Sie ist somit ein Relikt aus Tagen, in denen die organisierte Kulturalität auch im Kapitalismus noch die Freiheit fand, sich frei und aufklärend zu formieren. Heute ist sie gehetzt und beschleunigt, an Messungen und Quoten gebunden und damit letztlich unfrei geworden.

Rundfunkabgaben sollten Freiheit gewährleisten. Das würde dem Zuseher, aber auch dem politischen Bürger nutzen. In der heutigen Ausgestaltung sind diese Abgaben im Verbund mit der Betriebsökonomisierung des Betriebes, nur ein Ärgernis. Man zahlt für ein Programm, das man auch kostenfrei herzappen könnte. Dort jedoch mit Werbepausen. Wenn Rundfunkabgaben nur die Gewähr dafür sind, relative Werbepausenfreiheit zu ermöglichen, dann ist das zu wenig, dann ist das ein Missbrauch der eigentlichen Funktion.

Die Kampagne, die Albrecht Müller von den NachDenkSeiten sieht und die es tatsächlich gibt, ist einseitig. Sie stellt die Rundfunkabgabe für falsch und erpresserisch dar, weil der freie Markt solche Zahlungen nicht im Repertoire hat. Theoretisch jedenfalls. Und die Kampagneros können eine solche Abgabe nicht einstreichen, was ihnen natürlich stinkt. Sie sehen darin Wettbewerbsverzerrung. Nun wäre es an der Zeit zu erklären, dass die öffentlich-rechtlichen Medien keinen Wettbewerb brauchen, weil sie kein Teilnehmer auf dem Markt sind (oder sein sollten), sondern ein Angebot, das sich nicht an Verkaufspotenzial etwaiger Produkte orientiert, sondern an Bildungsauftrag und Kulturangebot, an gehobener Unterhaltung und Objektivität. Es kommt nicht darauf an, was man verkaufen kann, sondern verkaufen will. Dann müsste nur noch das Messkriterium der Zuschauerquote fallen, dann stimmte diese Aussage vielleicht sogar ein bisschen.

Die Kampagne schimpft auf die Rundfunkabgabe und ich tue dies auch. Die Gründe sind jedoch, wie gesehen, andere. Das macht die Sache kompliziert, weil man dann mit denen auf eine Stufe gestellt wird, die bei BILD gegen AbGEZocktheit wettern. Die Abgabe wäre aber keine Abzocke, wenn sie das wäre, was sie als Ideal verspricht. Ich zahlte gerne, wenn sie weiterhin zweckgebunden wäre.



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Über das, was sie nicht beim Namen zu nennen pflegen

Dienstag, 22. Januar 2013

Der Einsatzort klingt niedlicher, nicht so trocken orientalisch, so istanisch fern wie dereinst Afghanistan. Und 75 Prozent der Franzosen sind angeblich einverstanden mit dem Krieg, den sie militärischen Einsatz zu nennen pflegen. Kann ein solcher Zuspruch falsch sein? Was Mehrheit hat, das hat Vernunft. Und Kriege auf Grundlage von Mehrheiten, die die Funktionseliten des Staates moralisch unbelastet lassen, weil man nun die Verantwortung dem demoskopisch erfassten Volkswillen zuordnen kann, sollten geradezu exportiert werden, an denen sollte man teilnehmen.

Mit Afghanistan konnte man am Ende nicht mehr punkten. Die Basis fehlte, die Mehrheit wollte keinen Krieg mehr, den sie humanitären Einsatz zu nennen pflegten. Aber Mali! Das liest sich charmant, das scheint ganz possierlich. Unsere Jungs in Mali! Nett klingt das! Und auf die arbeitet das übliche und üble Feuilleton schon hin. Blome natürlich und einige FAZkes - und n-tv. Sogar der Bundestagspräses! Und sie nennen allesamt gute Gründe. Wenn es um Krieg geht, sind sie alle immer ganz innovativ im Begründen und Ergründen. Manche Gründe lesen sich sogar vernünftig. Menschenhandel zum Beispiel, der in Mali begünstigt wird, den will man ausmerzen. Aber dieser erzwungene Transfer von human ressources - um mal Neudeutsch zu bleiben - ist weder neu, noch ist er auf Mali beschränkt. Weshalb ausgerechnet jetzt intervenieren? Um Vertreibung und Flucht einzudämmen ist auch so ein Punkt, der so vernünftig und mitmenschlich klingt, wohl aber nur Lippenbekenntnis ist. Wo waren die Befürworter dieses Arguments im Sudan? Ist eine Intervention im Gaza-Streifen schon geplant?

Man sah schon Bilder im Fernsehen, da jubelten Malier (oder nun doch Malinesen?) den Franzosen zu, standen französischen Kettenfahrzeugen Spalier und tatsächlich: sie lachten, waren fröhlich, erleichtert ausgelassen. Immer wenn der weiße Mann kommt, freuen sie sich in Afrika, konnte man da meinen. Wer will da nicht auch als Held beteiligt sein? Freundlich empfangene Soldaten machen jeden Krieg, den sie Friedensmission zu nennen pflegen, zu einer mutmaßlich gerechten Sache. So war es immer. Als die Alliierten in Frankreich landeten und sogar als die Deutschen in Polen einmarschierten, konnte man bewegte Bilder der Freude sehen. Blumenmädchen und senile Greise, die dem Tötungshandwerk auf Durchreise sentimental oder freudig erregt zuwinken, gab es zu allen Zeiten, in allen Kulturen. Jeder Krieg war noch ein gerechter und jeder einmarschierende Krieger war noch immer ein Vertreter dieser Gerechtigkeit auf Blutbasis.

Auch ohne Islamisten herrscht in Mali die Vielehe für Männer. Ein islamischer Synkretismus regelt das dortige Zusammenleben. Die Tuareg erleiden das traditionelle Schicksal aller Nomadenstämme, sie werden verfolgt, kriminalisiert und als Fremdkörper stigmatisiert. Alles ganz ohne radikale Moslems. Wielange wird es dauern, bis die ersten Experten Mali als durch und durch fundamentalistisch brandmarken werden? Immerhin gibt es da die Polygamie und die Vielweiberei ist, wir wissen das aus Expertisen, typisch mohammedanisch! Geschenkt, dass es die auch in anderen afrikanischen Ländern gibt, in denen auch christliche Afrikaner in der historisch hergebrachten und sozio-ökonomisch bedingten Vielehe leben! Wer nun Islamist ist und wer stinknormaler Malier (oder Malinese?): Wie wird die Unterscheidung vonstatten gehen? Wann kommen die ersten Berichte von Missverständnissen, von schwerer Differenzierung und Kollateralschäden ans Tageslicht? War denn die Unterscheidung von Taliban und Afghanen ohne fanatischen Hintergrund je möglich? Was hat man denn gelesen über Männer mit Bärten, die inhaftiert und gefoltert wurden, und die letztlich gar keine Taliban waren, sondern einfach nur bärtig! Haarwuchs im Gesicht war kein sicheres Anzeichen, hat man dann irgendwann gemerkt und festgestellt: Die Differenzierung ist so schwer, wir haben wenig Überblick und verlieren ihn täglich mehr. Wird all das in Mali leichter sein?

Vermutlich glauben die Kriegstrommler, die nun allerlei Motive zum Kriegseintritt, den sie logistische Unterstützung zu nennen pflegen, in die Waagschale werfen, dass die Islamisten dort aussehen wie jene Typen um Usama bin Ladin. Zottelgebartet, in weißer Kluft, berberisch gebräunt - und deswegen schön vom gemeinen Malier (Malinesen?), vom gemeinen Schwarzafrikaner zu unterscheiden. Das sind natürlich die imperialistischen frommen Sehnsüchte nach einer einfachen Welt und Landkarte, auf der man herummarschieren kann, nach Gut und Böse, nach Unterscheidungskriterien für den weißen Menschen in der Fremde absteckend. Aber genau so lief es nie, wenn der Eurozentrismus mal wieder die Welt beglücken wollte. Schon Amerikas Ureinwohner waren für die Europäer ununterscheidbar. Im Kolonialismus war es nicht anders. Nama, Griqua, Herero: Alles Hottentotten! Wir wissen ja nicht mal genau, ob die Leute aus Mali Malier oder Malinesen sind! Es ist ja für einen Europäer normalerweise schon schwer genug, asiatische oder afrikanische Gesichter zu unterscheiden - andersherum ist es übrigens nicht anders. Das hat nichts mit Rassismus zu tun, sondern mit der Vertrautheit der Wahrnehmung und Erkennung und der Physiognomie, der Symmetrie und so weiter von Gesichtern, an die man gewohnt ist. Gesichter auseinanderhalten fällt ihm, dem Europäer, also schon schwer. Aber er will gleich noch soziale Gruppen unterscheiden können. Das ist die typische europäische, typisch westliche Bescheidenheit.

Immer schön einmischen, Gefüge zertrümmern, ohne ein Gefühl für die Geschichte und die Strukturen der Region zu besitzen. Optimisten meinten, Afghanistan sei eine Lehre gewesen, so naiv beteilige man sich nicht mehr an einem Krieg. Schön dumm, denn es war nur der Anfang von einer Strategie, den Verteidigungsfall vom Boden der Bundesrepublik auf ausländisches Terrain zu verlagern. Outsourcing innergesellschaftlichen Aggressionspotenzials, wenn man so will. Der Verteidigungsfall des Rechtsvorgängers der hiesigen Republik wurde schon 1941 auf russischen Boden verlagert - Begründung: Der Russe wäre sonst zuvor eingefallen. Der deutsche Konservatismus ist nur traditionalistisch, wenn er nun mal wieder vom Hindukusch schwatzt, der irgendwas mit deutschen Interessen zu tun haben soll. Hindukusch hört man heute wieder gerne und oft. Aber deutsche Gebirge kennt eine breite Masse der Bürger nicht. Der Hindukusch ist ein Begriff, aber hören sie Harz, so fällt ihnen nicht mehr ein als: Arbeitsmarktreform!

Ein Bundespräsident trat schon zurück, weil er genau so sprach, den Verteidigungsfall der Bundesrepublik auch sah, wenn weit weg irgendwelche wirtschaftlichen Interessen Deutschlands nicht befriedigt würden. Dann hagelte es spärliche und milde Kritik und der Kerl brach ein, schmollte und trat ab. Dass Mali nun Bundesgebiet sein soll, geht mit dessen damaligen Äußerungen konform. Der Hindukusch ist eben ein mobiles und flexibles Gebirge.

Das sind vielleicht so Typen, die nun in ihrer stockkonservativen Haltung Krieg! rufen, den sie Herstellung von Frieden und Demokratie zu nennen pflegen. Sie hätten gerne die Bundeswehr dort, um die Verhältnisse zu befrieden, schreiben jedoch auch turnusmäßig davon, wie wichtig es sei, Waffen zu exportieren. Das schaffe Arbeitsgelegenheiten und wenn es Deutschland nicht mache, mache es halt jemand anderes. Diese Hetzer im Zwirn verteidigen den Krieg und die Waffen, die zu Krieg führen. Was sie predigen hat keine Hand, keinen Fuß, ist vom Nihilismus zerfressen - und dann zucken sie auch noch blöde mit ihren Achseln und sagen, die Welt sei eben so, man könnte sie nicht ändern. Als Waffenexporteur Waffen verschiffen und gegen sie in den Krieg ziehen: Man könnte das psychopathisch nennen. Aber gemeinhin sagt man dazu wirtschaftlich vernünftig.

Nun eben Mali, weil nun dort der Hindukusch hingezogen ist. Und Mali liegt bald vielleicht schon im Iran oder sonstwo. Alles Hottentotten! Europa ist wieder mal überall interessiert. Und diesmal darf der Platz an der Sonne nicht zu spärlich ausfallen für jenes Land, das Europa ganz kauderianisch seine Sprache lehrt. Wir sind doch immerhin zu mehr berufen. Wir bringen die Neger auf Zack!



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De omnibus dubitandum

Montag, 21. Januar 2013

Bei der Landtagswahl in Niedersachsen, wählten...
  • ... 40,6 Prozent aller Wahlberechtigten gar nicht oder ungültig.
  • ... 21,1 Prozent aller Wahlberechtigten die CDU.
  • ... 19,1 Prozent aller Wahlberechtigten die SPD.
  • ... 8,0 Prozent aller Wahlberechtigten die Grünen.
  • ... 5,8 Prozent aller Wahlberechtigten die FDP.
  • ... 1,8 Prozent aller Wahlberechtigten die LINKE.
  • ... 1,2 Prozent aller Wahlberechtigten die Piraten.
Die rot-grüne Koalition hat somit einen Rückhalt von 27,1 Prozent aller Wahlberechtigten. Die schwarz-gelbe Opposition liegt mit 0,2 Prozentpunkten dahinter. Beide Seiten binden somit gerade mal etwas mehr als ein Viertel aller Wahlberechtigten an sich. Das gefeierte Wahlergebnis der SPD ist das zweitschlechteste Ergebnis des Landesverbandes.

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Postdemokratische zehn Prozent

Sonntag, 20. Januar 2013

Nur nicht grämen niedersächsisch Schwarz-Gelb. Auch wenn es vielleicht nicht klappt mit der Fortsetzung - du bist bestätigt. Gute Arbeit geleistet. Der Wähler hat so befunden. Also doch zehn Prozent für die Liberalen. Alles nur Panikmache vorher. Die Postdemokratie hat entschieden. Etwa 370.000 Wähler für die FDP heißen in der Postdemokratie auch dann zehn Prozent, wenn es einige Wähler mehr im Register gibt - 370.000 sind bei 6,1 Millionen trotzdem ein Zehntel. In der Postdemokratie ein ganz übliche mathematische Gleichung. In ihr wird aus einem Zwanzigstel schnell mal ein Zehntel.

Das Parteiprogramm stand auf der Kippe. Steuern runter! als Antwort auf alle offenen Fragen hat sich letztlich doch als richtig erwiesen. Mit Steuern runter! überzeugt man Wähler. Mit der Kontur gesenkter Steuern ist man immer noch ein Schwergewicht. Nichts war falsch, alles richtig. In der Postdemokratie gibt es keine Analysen, nur Zahlen. Und wenn die stimmig sind, stimmt auch das Gefüge innerhalb von Parteien wieder.

Was hat sich denn als Erkenntnis manifestiert? Dass die Liberalen immer mal wieder punkten können, auch wenn man sie inhaltlich mit zwei, drei Sätzen beschreiben könnte, wenn man das überhaupt noch will? Und was wenn sie nicht gepunktet hätten? Wenn einige der Prozentpunkte auf das Konto der Sozialdemokraten und Grünen gegangen wären? Auch dann wäre die Koalition in ihrer politisch-ökonomischen Ausrichtung bestätigt gewesen - nur unter einem neuen Namen, mit neuem Logo und dem wohligen Anschein von gesellschaftlicher Beweglichkeit und Mitspracherecht.

So kann man sich ärgern über eine undefinierbare Wählermasse, die eine Partei stützt, deren einziger Wert darin besteht, den Marktradikalismus in einer Offenheit zu vertreten, die die anderen Parteien sich nicht ganz so sehr zutrauen. Richtungsweisend ist in einem solchen Milieu postdemokratischen Naturells jede Wahl. Denn die Richtung wird immer gewiesen. Sie heißt Neoliberalismus. Frage ist nur, wer die Richtung vorgibt. Was aber ins Auge sticht ist, dass die viele Scheinoptionen, die man in die Urne stecken kann, gar nicht nötig sind. Man kann über Jahre nur innerparteiliche Zwiste ausfechten, inhaltliches Vakuum regieren lassen und den Sozialabbau und die Stütze hoher Einkommen als Allheilmittel vertreten und ist immer noch wählbar.

Insofern ist diese Postdemokratie nicht mal mehr auf Optionen angewiesen, die einem weismachen sollen, es gäbe Möglichkeiten, Alternativen und Ausflüchte. Dieser Popanz ist gar nicht mehr nötig. Der Ein-Ideologie-Staat brummt - ob mit Ersatzliberalen in grüner Montur oder nicht.



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Der Holocaust ist ein Missbrauchsopfer

Freitag, 18. Januar 2013

Jemanden für einen Antisemiten zu erklären, um ihn politisch mundtot, ihn gesellschaftlich untragbar zu machen, ist nicht nur eine fiese Masche, sondern eine faschistisch anmutende Ideologie. So wie antisemitische Kapriolen öffentlich geächtet und als unannehmbar angesehen werden, so müssen auch Anfälle von Schau, das ist ein Antisemit! gesellschaftlich verpönt sein - nicht zögerlich und bedächtig, sondern mit derselben Empörungsgewalt, mit der zuweilen - leider nicht immer! - Antisemitismus geahndet wird.

Letztes Jahr sollte Günter Grass ein Antisemit gewesen sein - Friedman nennt dessen Gedicht furchtbar, vermutlich nicht sprachlich betrachtet, sondern weil ihm der Inhalt nicht gefällt. Broder und das Wiesenthal-Zentrum benennen Augstein ebenfalls als einen. Leider (oder zum Glück) geht den Wiesenthalern die Arbeit aus, Altnazis gibt es kaum noch, sie überdauern nicht. Jetzt sind deutsche Linke - nennen wir Grass und Augstein mal so; für Broder und Konsorten dürften beide wohl radikale Linke sein -, die gejagt werden müssen. Der Vorwurf, die europäische Linke sei antisemitisch geworden, schwebt schon länger im Raum. Grund dafür ist die Kritik an der israelischen Politik, die leider viel zu oft aus Vertreibung und Totschlag besteht und eine internationale Kriminalisierung der Palästinenser betreibt.

Eine Preziose der Dummheit dürfte indes Wickerts Zensurvorwurf sein. Broder nach seinem Schweinsgalopp erstmal dem Schweigen zu überstellen, sei nämlich eine Zensur der Mutlosigkeit. Er nennt den kleinen bösen Mann sogar einen Polemiker, nennt ihn in einem Atemzug mit Heine oder Kraus. Wickert übersieht, dass diese beiden gegen die politische Agenda ihrer Tage polemisiert haben; sie haben ihre Polemik nicht benutzt, um pseudo-intellektuelle Gesinnungsherrschaft im Verbund mit der amtierenden political correctness zu errichten. Nicht die Zensur ist mutlos, wie Wickert das schreibt: Eine Polemik, die auf Staatsagenden baut, die weitestgehend mit dem konform geht, was eine breite Basis hat, ist mutlos. Und die Kritik an israelischer Politik ist immer noch tabuisiert und gilt gemeinhin als geschichtsvergessen und als Revisionismus. Die beiden Polemiker aus der deutschen Geschichte, die Wickert aufzählt, waren jedoch insofern mutig.

Man muss Leuten wie Broder vorwerfen, dass sie den Holocaust missbrauchen, um die Politik eines heute agierenden Staates für sakrosankt zu erklären. Ist das das viel bemühte Wahren des Andenkens? Kritiker an Israels Politik für antisemitisch zu erklären, mit Blick auf die deutsche Geschichte freilich, immer die Shoa mitschwingen lassend in der Abkanzelung kritischer Positionen? Was Friedman und sein Kollege da errichten, ist nicht weniger als ein Wohlfahrtsausschuss moralisch fadenscheiniger Scharlatane und publizierender Kraftmeier. Le terreur auf rhetorischer Basis ohne Guillotine.

Vom Holocaust kann Gebrauch gemacht werden. Das ist gut und richtig. Nämlich als Warnung, als Mahnmal, als Beweis dafür, zu welchen Verbrechen Menschen an Menschen fähig sind. Avraham Burg beklagt in seinem Buch Hitler besiegen: Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss, dass die Ideologie, den Holocaust als israelische Staatsdoktrin, als Gründungsmythos aufzuführen, endlich abgeworfen werden müsse. Diese Doktrin hat Israel zu einem selbstgefälligen Staat in Dauernotwehr gemacht, hat der Verhandlungsfähigkeit Israels nachhaltig geschadet und zudem die fundamentalistische Losung vom auserwählten Volk neu entflammt. In der dauerhaften Betonung der Singularität des Massenmordes an den Juden, zeigt sich diese Auserwähltheit, die neben sich das Leid beispielsweise der Sinti und Roma schluckt. Burg meint natürlich nicht, dass man den Holocaust vergessen sollte, wie das Broder in seinem Buch mit ähnlich klingenden Titel gerne gesehen hätte (sic!), sondern dass man ihn generalisieren muss. Er ist sicherlich ein Verbrechen Deutschlands gegenüber den Juden, aber er ist weiterführend auch ein Verbrechen Europas (aufgrund der bereitwilligen Hilfsvölker Deutschlands) gegenüber Sinti und Roma, Kommunisten, Homosexuelle und weitere Gruppen. Anders gesagt: Ein Verbrechen des Menschen am Menschen. Dies zu betonen, immer wieder zu mahnen, wenn mal wieder ein Volksverhetzer auftritt, zu warnen, dass Hetze der Beginn war, bevor der Blutrausch entfachte, das ist der Gebrauch von Holocaust.

Missbrauch hingegen ist es, wenn man ihn benutzt, um die Politik des heutigen Israel für unantastbar erklären zu wollen. Das linke politische Spektrum kritisiert tatsächlich viel stärker diese Politik, als es der Konservatismus tut. Diesen Umstand nennen die Beschützer israelischer Außenpolitik kurios, denn ausgerechnet die Linke sei doch traditionell weniger antisemitisch gewesen, sei humanistischer und grundsätzlich philosemitisch. Womöglich ist es aber so, dass die Linke die Generalisierung des Holocausts bereits vergeistigt hat und demgemäß israelische Politik gegen Palästinenser ebenfalls als brutale Akte des Menschen an anderen Menschen erkennt. Und die angeblich antisemitische Linke kritisiert nicht das Judentum, sondern Israel als Staat - der Antisemitismus ist also nicht auf die Linke übergegangen. Es ist der Popanz eines Antisemitismus, der aufgebaut wird, um Israel in seinen Handlungen als moralisch unantastbar zu halten.

Antisemitismus ist geächtet, kann manchmal auch juristisch geahndet werden. Das ist richtig so. Diejenigen aber, die mit Der ist ja Antisemit!-Beschuldigungen aufwarten, die den Holocaust zum Missbrauchsopfer machen, indem sie nicht sein Andenken waren, sondern ihn zum geschmacklosen Argument gegen jegliche Kritik an einem Staat benutzen, der kriegs- und gewaltbereit gegenüber seinen Nachbarn agiert, muss mindestens auch gesellschaftlich geächtet sein - und wenn möglich, sollte man diesen Missbrauch unter Strafe stellen können. Den Holocaust leugnen ist die eine Seite der Medaille, die Opfer für politische Zwecke zu verwenden, das ist die Kehrseite derselben Medaille. Normal Finkelstein nannte einen etwas anders gearteten Missbrauch mit der Shoa im Jahre 2000 übrigens eine Industrie. Und wie am Fließband wird die Shoa auch von Broder und Konsorten missbraucht, um die Staatsdoktrin vom dauerhaften Notwehrzustand zu rechtfertigen, Angriffskriege als Verteidigung und Atomwaffenbesitz als Vernunftakt hinstellen zu können.

Wer dies tut ist nicht nur politisch unverantwortlich, sondern beleidigt auch  noch das Andenken der Menschen, die damals den Tod fanden. Denen ist zu gedenken; ihr Tod sollte, wenn man schon einen Sinn herausfiltern möchte, eine bessere Welt zur Folge haben, und nicht als Rechtfertigung für sozialen Ausschluss, gesellschaftliche Isolation, Ghettos, Stigmatisierung und Krieg herhalten müssen.



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Achsbruch der Hoffnung?

Donnerstag, 17. Januar 2013

Chávez ist krank - unter Umständen sterbenskrank. So ist das mit Menschen, sie können sterben. Mit Chavez' Erkrankung könnte aber auch der Gegenentwurf zum Neoliberalismus, Die Achse der Hoffnung wie Tariq Ali das neue südamerikanische Selbstbewusstsein und die Bolivarische Revolution nannte, dem Sterben überstellt sein.

Nur Venezuales Opposition erklärt der Welt Venezuela

Venezuela sei keine Monarchie, wetterte die bürgerliche Opposition, nachdem die Vereidigung des neuen und alten Präsidenten aufgrund Erkrankung auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Der Einwand klingt vernünftig, wenn man es denn mit vernünftigen Leuten zu tun hätte. Chávez' politische Gegenspieler im eigenen Land sind allerdings alles andere als anständig. Sie halten die Medienmacht weiterhin aufrecht, leiten Fernsehsender und führen Zeitungen und vermitteln der westlichen Auslandspresse ein Bild von Venezuela, wie sie es inszenieren, um Chávez und den Bolivarismus international unmöglich zu machen.

Chávez, so erzählen sie herum, sei ein Diktator. Er treibe das Land in den Ruin und sei kommunistisch getrieben. Weshalb der oppositionelle Putsch von 2002 am Widerstand eines Volkes scheiterte, das angeblich unterjocht wird, konnte bis heute nicht geklärt werden. Dass seine "auf Lebenszeit ausgerichtete Diktatur" nur eine Reform für längere Legislaturperioden war, dass in Venezuela weiterhin Wahlrecht herrscht, darüber liest man in den Medien der Industrieländer, die von der venezolanischen Opposition mit Informationen gefüttert werden, noch weitaus weniger.

Yankee come here!

Es ist eine heikle Angelegenheit, einen Präsidenten an der Macht zu haben, der sein Amt nicht erfüllen kann. Die Bedenken der Opposition könnte man teilen, wenn man nicht wüsste, in welche Richtung sie Venezuela treiben möchte. Die Sozialisierung von Ressourcen, um für die unterprivilegierte Bevölkerung Hilfe, Bildung und ein Gesundheitswesen zu schaffen, würden schnell qua Privatisierung abgeschafft werden; internationale Konzerne schöpften erneut den Rahm ab, wie schon Jahrzehnte und Jahrhunderte bevor der Bolivarismus, das südamerikanische Selbstbewusstsein, sich des Washingtoner Konsens' zu entziehen, politische Gestalt annahm.

Natürlich haftet die Regierung nun an der Macht. Sie fürchtet, dass mehr Chávismo als Bolivarianismo in der Revolution steckt, dass also ohne Chávez dieser Gegenentwurf zum neoliberalen Kurs der Weltökonomie straucheln könnte. Die Opposition aus Grundbesitzern, Großunternehmen, Militärs und Medientycoons wird kaum dort weitermachen, wo Chávez aufgehört hat, sondern das Rad der Geschichte zurückdrehen und sich dem US-amerikanischen Imperialismus nach Art des Washington Consensus andienen. Möglicherweise werden sie bolivarische Relikte nicht nur abschaffen, sondern den Bolivarismus kriminalisieren und juristisch verfolgen, Anhänger Chávez inhaftieren und die Geschichte aller Sieger schreiben, was heißt: Die anderen waren und sind Verbrecher! in Geschichtsbücher diktieren. Oppositionen gegen die bolivarischen Revolutionen in Südamerika sind nicht zimperlich, wie man vor einigen Jahren in Bolivien sah, als sich die ehemalige Oberschicht aus Weißen und Mestizen und Nachfahren von Flüchtigen auf Basis der Rattenlinie gegen die indigene Revolte Morales' stellte und in Santa Cruz eine Art autoritäre Gegenregierung auf Grundlage klassistisch-rassistischen Traditionalismus' installierte.

Achsbruch! oder Die Achse der verlorenen Hoffnung?

Bricht mit Chávez' Abbleben der starke Mann der bolivarischen Revolution weg, so geht dem globalen Anti-Neoliberalismus nicht nur eine streitbare Gestalt, sondern womöglich die Portion Selbstvertrauen flöten, die nötig ist, um dem Zeitgeist der Totalökonomie zulasten der Menschen entgegenzuwirken. Die Gefahr ist, und die venezolanische Regierung weiß das, dass sich Venezuela drastisch wandelt, wieder die Hinterhofrepublik wird, die sie einst war. Und mit Venezuela geht der Welt die Hoffnung verloren, dass es durchaus anders sein kann als so, wie es uns die programmierte Alternativlosigkeit täglich wissen lassen möchte. Vor Jahren träumte man davon, dass eine antineoliberale Bewegung von Südamerika aus gegen die Interessen der Konzerne und der Finanzindustrie ihren Lauf nehmen könnte. Wäre das alles dahin, wenn die Parteigänger Chávez' nun aufsteckten?

Man kann über etliche Konzepte von Chávez' Politik streiten - die erdölbasierte Wohlfahrt kann kein Dauermodell sein, sie muss sich Säulen bauen, die dann greifen, wenn die Ressourcen zur Neige gehen oder sie durch eine Energierevolution im Bereich des Antriebs, wertlos werden. Aber am Grundgedanken, dass Armut kein Zustand für einen Menschen sein darf, dass Teilhabe unbedingt und eine Gesellschaft der Fürsorge innovativ ist, gibt es wenig zu rütteln. Das sind die Pfeiler des Anti-Neoliberalismus. (Sein lauter Stil hingegen, der für europäische Verhältnisse sonderbar ist, oder der um ihn wirkende typisch südamerikanische Verehrungskult, ist aufgrund von Mentalitätsunterschieden kaum kritisierbar.) Und diese Pfeiler brechen womöglich weg, wenn der Achsbruch der Hoffnung mit dem möglichen Tod Chávez und der Resignation seiner Erben geschehen ist.



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Nicht wider den Geist der Sozialgesetze

Mittwoch, 16. Januar 2013

Da die Vermittlung von Arbeitslosen in Zeitarbeitsgelegenheiten zunimmt, so meldet die taz, will die Bundesagentur für Arbeit die Zusammenarbeit mit dieser Branche prüfen. Was sich wie späte Einsicht und Hoffnungsschimmer liest, ist doch nichts anderes als grobe Verlogenheit. Denn diese Inaussichtstellung ist dem Menschen- und Gesellschaftsbild, das im SGB II vermittelt wird, diametral entgegengesetzt.

Die Arbeitsmarkt- und Sozialreformen des letzten Jahrzehnts kamen ja nicht aus dem Nichts. Sie waren tatsächtlich auf die Schaffung eines Niedriglohnsektors zugeschnitten worden. Der tat angeblich not. Die rot-grüne Koalition wollte dem Missstand von zu teurer Arbeit entgegenwirken und einen Niedriglohnsektor schaffen, in dem unqualifizierte Arbeitskräfte Beschäftigung finden konnten ohne einen Anspruch darauf zu haben, von getaner Arbeit auch leben zu können. Auf Existenzminimum könne immer noch die öffentliche Hand aufstocken und die so sozialisierte und subventionierte Arbeitskraft wäre für Arbeitgeber somit besonders attraktiv. Der damalige Kanzler vertrat nachdrücklich die Ansicht, dass ein Niedriglohnsektor dringlich sei, schielte dabei auch zu seinem britischen Alter Ego, das den Niedriglohnsektor in seinem Land nicht trockenlegte, sondern gedeihen ließ. Freilich auch mit der Begründung der herrschenden Ökonomie, wonach Arbeit zu teuer sei und Unqualifizierte nur auf niedrigem Lohnniveau beschäftigt sein sollten.

"Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut", lobte sich Schröder in Davos 2005 selbst. Das war das Vorhaben, das unter dem Applaus der damaligen Opposition, der heutigen Regierung, vollbracht wurde. Die Hartz-Reformen zielten genau darauf ab. Sie montierten an prekär machende Sozialgesetze auch noch prekäre Arbeitsgelegenheiten. Das Wechselspiel zwischen Sozialhilfe und gelegentlicher Arbeit auf Niedriglohnniveau für einen Teil der Gesellschaft war somit fest eingeplant. Es war nicht so, dass die Zeitarbeit über diesen prekär gemachten und deregulierten Arbeitsmarkt herfiel. Nein, es war eher so, dass diese schöne neue Arbeitswelt auf die Anforderungen von Zeit- und Leiharbeit zugeschnitten, dafür regelrecht entworfen wurde. Und die flankierenden Sozialgesetze noch viel mehr. Sie sollten die Reservearmee bilden, die dann dankbar und motiviert in Arbeitsgelegenheiten malocht, die kaum Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Kündigungsschutz oder Unbefristung kennt - und das alles auch noch zu einem Lohn, der nicht ausreicht, um sich vom Jobcenter zu emanzipieren.

Wenn nun mehr in Zeitarbeit vermittelt wird, wie es die Bundesagentur bestätigt, dann ist das kein Missstand nach Lesart der Reformbeabsichtigungen, den man nun prüfen und vielleicht sogar abzustellen habe, sondern die Bestätigung dafür, dass die damaligen Reformen nun doch endlich mal Erfolge zeitigten. Erfolge nach gängiger Ökonomie und dem doktrinären Menschen- und Gesellschaftsbild darin. Die Bundesagentur kann auch nicht so tun, als wäre sie nun bass erstaunt über diese Entwicklung, denn sie hat die Reformen umgesetzt und vorher an ihnen mitgestrickt - und sie hat sie stets rigide ausgelegt. Und nun tut sie so, als habe sie mit der Sache wenig zu tun, als müsse sie vielleicht bereinigen, was ausschließlich die Politik verpasst hat. Das ist verlogen und geschichtsvergessen und entspricht den Absichten der letzten Arbeitsmarkt- und Sozialgesetze in keiner Weise.



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Versprachlichte Betriebsökonomie

Dienstag, 15. Januar 2013

Unworte? Beide Worte taugten nicht dazu und konnten keine Unworte werden. Was ist denn an Schlecker-Frauen, die anschlussverwendet werden, sprachlich frevelhaft? Es ist nur die Sprache, die systemkonforme Wortwahl in einem Mechanismus, in dem alle Humankapital sind. Die Gesellschaft für Deutsche Sprache hat tatsächlich Sinn und Gefühl für Worte, denn sie hat die sich in Kehlkopflaute äußernden Denkstrukturen derer, die die Sprache ganz ungeniert so verbiegen und feilen, dass sie zu einem Abbild der Welt wird, die sie gerne hätten und teilweise schon haben, nicht ausgezeichnet.

Beide waren im Vorfeld Favoriten. Schlecker-Frauen und Anschlussverwendung sind jedoch nur ordinäre betriebswirtschaftliche Ausformungen. Sie sind Termini eines buchhalterischen Lebensgefühls, in dem Soll und Haben die einzige Entscheidungshilfen sind. Bilanzierende Begrifflichkeiten, die Menschen in betriebsökonomische Faktoren wandeln. In eine Bilanz gehören alle Posten: Material, Wareneinsatz, Energiekosten, Miete, Versicherung, Tilgung und Personal. Oder anders gesagt: Schlecker-Wareneinsatz, Schlecker-Energie, Schlecker-Versicherungsanspruch, Schlecker-Schulden und Schlecker-Frauen. Und wer Personal hat, der kann es verwenden, egal ob direkt oder im Anschluss. Bezahlte Frauen, auch und gerade wenn sie schlecht bezahlt sind, dürfen gebraucht und verwendet werden. Sprächen andere Branchen von verwendeten Frauen, würde man die allgemeine Unsittlichkeit schelten und insbesondere die der Zuhälter.

Aber sich seriös aufspielende Konzerne dürfen Frauen ungenierter verwenden. Das finden wir als Gesellschaft sogar noch besonders sozial, denn es schafft ja Arbeit. Von solchen Arbeitgebern berichtet man, indem man darüber schreibt, dass hoffentlich hoffentlich die Frauen weiterhin verwendet werden können. Wie eine alte Matratze, die nun in das neue Bettgestell eingepasst werden soll. Hoffentlich hoffentlich kann man das alte Ding noch verwenden. Wie ein Unterschränkchen, das auf dem Sperrmüllhaufen liegt und von dem ein Wühler im Rest anderer Leute meint, man könne das bestimmt noch irgendwie verwenden - im Anschluss an den Vorbesitzer quasi.

Schlecker-Frauen und Lidl-Männer und McDonalds-Leute: Das sind aber doch Begriffe aus dem System für das System. In einem solchen System werden Männer und Frauen, die sozusagen Besitz und hundertprozentige Bilanzposition ihrer Dienstherrn sind, auch ganz legitim verwendet. Manchmal eben auch im Anschluss. Ein passenderes Unwort wäre damals die Freifrau gewesen, die ihrem Freiherrn moralisch beistand, als der seinen Doktor abtrieb. Freifrau? Frei von was? Von wirtschaftlichen Einflüssen? Frei von Beziehungen? Freifrau ist ein Begriff, den es nicht gibt und der dennoch Verwendung findet - er ist sachlich grob falsch. Denn entweder ist Mann oder Frau nicht frei, weil sie Schlecker oder Lidl oder sonstwem gehören - oder sie sind trotz finanzieller Unabhängigkeit nicht frei, weil sie einem dieser Brotgeber oder einer ganzen Branche zu Diensten stehen oder weil sie in den Interessen ihrer Kaste verheddert sind.

Menschen sind im Imperium Neoliberalum bloß Faktor. Humankapital nannte sich das einst. Jetzt waren es eben Schlecker-Frauen. Oder morgen schon sind es GLS-Männer, über deren Folgegebrauch man debattieren wird. So ist das mit Besitz und Verfügungsmasse von Konzernen. Man hätte beides als Unwort kennzeichnen können. Aber die Wirklichkeit ist letztlich so, wie diese beiden Worte es benennen; sie sind die normale Praxis. Ohmächtige Praxis. Besonders bei Konzernen wie Schlecker, in denen es keinen Betriebsrat gibt - dort gehören die Frauen einem wie Leibeigene, dort sind sie kalkulierbare Kostenfaktoren in der Bilanz. Besonders im Niedriglohnsegment sind Frauen und Männer mit dem Namen ihres Geldgebers ausgestattet und ganz besonders für allerlei Anschlussverwendungen vorgemerkt.



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Sit venia verbo

"Manche Sozialisten verspotten die Idee der Freiheit als eine bürgerliche Illusion, sie unterscheiden nicht zwischen Freiheit als Lebensgefühl, als Gewissen, das dem Menschen Würde und Selbstachtung verleiht, und Freiheit als Lebensordnung, als Lebensform. Jede Form bedeutet Begrenzung. Jede politische und soziale Ordnung muß notwendig, individuelle Freiheit einschränken. Entscheidend ist nur der Grad der Einschränkung. [...] Gewiß, der Sozialismus wird auf einer Ebene Gleichheit kennen: jeder wird das gleiche Recht auf Nahrung, Wohnung, Bildung haben. Aber auf anderer Ebene wird gerade der Sozialismus eine gestufte Rangordnung schaffen. Menschen, die fähig sind, politische, soziale und kulturelle Reiche zu verwalten, werden eine Aristokratie nicht der Geburt, sondern des Geistes, der Leistung, der Bewährung bilden. Mit höheren Pflichten berufen, nicht mit materiellen Vorrechten ausgestattet."
- Ernst Toller, "Eine Jugend in Deutschland" -

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Erfahrungen aus dem sozialistischen Jetset

Montag, 14. Januar 2013

Ein Armutsbericht.

Den Armutsberichten kann man nur schwerlich trauen. Daher sollten mal die von Armut berichten, die sie kennen. Demgemäß: Ich erhielt eine Weile das, was man umgangssprachlich Hartz IV nennt. Wenn ich darüber schreibe, weiß ich, wovon ich schreibe. Wie sich Armut ausgestaltet, wie sie sich betulich ins Leben schleicht, ist mir bekannt. Welche sozialen Auswirkungen sie zeitigt, kann ich ganz gut wiedergeben.

Die neue Armut ist keine Erfindung des sozialistischen Jetsets, wie es Kanzler Kohl 1986 dem Stern ins Stenoblöckchen diktierte. Ob sie es damals war, kann ich aus der Ferne schwer beurteilen. Heute ist sie es jedenfalls nicht. Sie ist da und sie wirkt. Wirkt auf mannigfaltige Weise, wirkt in jeden Winkel des Alltags hinein, wirkt am Gemüt desjenigen, der Mensch in Armut ist.

Mensch in Armut sagt man vorzugsweise. Man ist nicht arm und man ist kein Armer, man ist in Armut. Das klingt, ich hatte es letztes Jahr schon mal geschrieben, als hätte man eine Wahl gehabt. Ich schrieb damals, dass es jedenfalls sprachlich so klingt, als habe man zwischen Optionen wählen können, denn man könne demnach in Armut genauso leben wie in Miami. In etwas zu leben suggeriert Alternativen gehabt zu haben. Ich sah neulich den zweiten Teil von Bridget Jones im Feiertagsfernsehen. Dort trifft die Hauptdarstellerin auf einer Versammlung britischer Snobs auf eine Anwaltsgattin, die klarmacht, warum es schlecht sei, einem Obdachlosen Geld zu geben. Wegen dem Saufen natürlich; ähnlich dachte ja auch Steinbrück letztens laut nach und die Neuberechnung des Regelsatzes beruhte exakt auf dieser Prämisse. Die ganze Geschichte sei letztlich, so die feine Dame, dass sich diese Menschen dafür entschlossen hätten, arm zu sein und zu bleiben. In Armut leben ist die philologische Wucherung dieses Denkens.

Ich weiß, was es bedeutet, wenig Geld in der Tasche und ebenfalls wenig auf dem Konto zu haben, sich sozial minderwertig zu fühlen, sich begutachtet vorzukommen, die kleinen finanziellen Kalamitäten des Alltages zu stemmen, nur kleine ungeplante Summen wie manchmal seinem Kind Kopiergeld in die Schule mitzugeben, mal hier knapsen, mal dort rationieren, zum Monatsende aus der Dose spachteln. Besonders die soziale Stellung, die der deutsche Journalismus so unnachahmlich bösartig verfestigte, indem er Hartz IV zu einem Glücksfall oder wahlweise zu einer Luxushängematte für faules Pack schrieb, hat mir mental zugesetzt. Und nicht das wenige Geld ist das Problem, sondern die brennende Sorge darum, wie es weitergehen soll, wie man je sein überzogenes Konto sanieren, wieder finanziell gesunden könnte, reibt einen auf. Nicht das wenige Geld ist es, sondern das fehlende Geld. Dass da viele aufstecken und nicht mehr können, körperlich ausgelaugt sind, als würden sie schwerer körperlicher Arbeit nachgehen, ist da nur nachvollziehbar.

Man liest immer wieder, dass beispielsweise ein Restaurantbesuch als Hartz IV-Bezieher nicht möglich ist. Das stimmt natürlich nicht. Man geht trotzdem ins Restaurant. Man leistet sich so einen Besuch, auch wenn man ihn sich nicht leisten kann. Derjenige, der nie in dieser Lage war, wird das unvernünftig nennen. Ich, der ich immer Freude an kultureller Teilhabe hatte, gerne aß und noch immer esse, Kinos besuche, Museen betrete, Kultur lebe, konnte nie so einfach Abschied von der Kulturalität nehmen. Also ging ich essen, also fehlte mir das Geld an anderer Stelle, also machte ich mir danach Vorwürfe, mich nicht im Griff zu haben. Wenn kulturelle Teilhabe dazu führt, sich aufgrund seiner geistigen Konstitution Vorwürfe zu machen, dann nenne ich das systematische Gehirnwäsche. Kultur als ausschweifender Lebensstil? Ich konnte meinen Kulturbezug nie so ganz ablegen. Die öffentliche Meinung erklärte ja, dass man als Langzeitarbeitsloser alles habe, was nötig sei - Luxus aber, beispielsweise das Essengehen, könne nicht von der Allgemeinheit getragen werden, weshalb der Langzeitarbeitslose Verzicht üben müsse. Was aber, wenn kulturelle Teilhabe für manchen Bezieher notwendig und unverzichtbar ist?

Zur Hochzeit des Hartz IV-Hetzens, das ist einige Jahre her, tritt jetzt nur noch phasenweise auf, schlüpften Reporter hin und wieder für einen Monat in den Hartz IV-Bezug. Ihr Resumee war mir vorab immer klar. Nicht üppig, aber man kann davon leben. Sicher! Einen Monat schon. In einem Monat überzieht man sein Konto kaum, bekommt man die gesellschaftliche Stigmatisierung wenig zu spüren. Ich war diesen Typen neidisch, ich hätte auch gerne die Aussicht auf Linderung gehabt binnen Monatsfrist; ich hätte auch sagen wollen, dass ich nur temporär Arbeitslosengeld II bekomme. Ich geriet in Versuchung, mir selbst einzubläuen, dass das alles nur ein großer Selbstversuch ist. Versuchungen sind nicht rar. Was würde man tun, verlöre eine Oma, die vor einem flaniert, unbemerkt ihren Geldbeutel? Ich bin ein ehrlicher Mensch - wenn ich nicht in Sorge lebe. Erst das Fressen, Moral nachher. Man stiehlt nicht - aber ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht zugelangt hätte. Und dann ist da die Versuchung, der man teilweise auch unterliegt, seinen ärmlich Lebensstil als etwas moralisch Sittsames hinzustellen.

In all der Zeit habe ich kein Stellenangebot erhalten. Nie per Post. Nur hin und wieder Einladungen, um über die berufliche Zukunft zu schwatzen. Über Zukunft wurde da nie geredet. Jedenfalls über keine, die mir gefallen hätte. Da bekam ich dann auch jeweils ein Stellenangebot ausgedruckt. Ein Tiefbauunternehmen suchte etwa eine Bürokraft. Ich fuhr zur angegebenen Adresse, wunderte mich, da das Unternehmen in einer Wohnbausiedlung untergebracht schien, fand tatsächlich den Namen am Klingelschild einer Mietskaserne, trat ins Gebäude, kam im dritten Stock an. Dort öffnete mir ein dicker ältlicher Mann im weißen Unterhemd, leicht speckiges Feinripp. Ob ich hier richtig sei, fragte ich. Klar doch, sagte er. Er hieß mich auf ein geblümtes Sofa in einem kitschigen Wohnzimmer setzen. Tat ich. Er setzte sich in den Sessel und guckte in die Glotze. Ich fragte, warum ich in seinem Wohnzimmer sitze, warum nicht in seiner Firma. Er meinte, doch, das sei die Firma - noch. Man baue aus. Und er deutete auf einen Schreibtisch, der verstohlen in der Ecke stand, darauf viel gestappeltes Papier. Sein Sohn, dem die Firma eigentlich gehört, würde bald kommen, ich soll doch bitte so lange warten. So saß ich ungefähr eine Stunde da, er bot mir Getränke an, ich glaube mich erinnern zu können, dass er mir auch etwas zum Essen hinstellen wollte. Der Sohn kam irgendwann doch noch, nahm meine Papiere in Empfang und meinte, er melde sich. Tat er nie, ich hätte auch nicht in seinem Wohnzimmer arbeiten wollen. Stellenangebote. So sehen sie aus, die Stellenangebote von Jobcentern.

Ich habe es erduldet, in einem fremden Wohnzimmer mit Feinripp Konversation zu probieren. Man fühlt sich elend, in eine solche Situation gestossen worden zu sein. Ich will nicht von Entwürdigung sprechen, das ist in diesem Falle ein hohes Wort. Entwürdigend ist eher, dass man sich als Bezieher von Leistungen nicht trauen kann aufzustehen, dass man nicht den berechtigten Vogel zeigen kann, weil man fürchtet, übermorgen fliege eine Sanktion per Post ins Haus. Also sitzt man auf Sofas mit Blümchen-Muster und lächelt, begutachtet gelbliches Weiß auf haariger Körpermasse und hofft nur, man erwache ganz schnell aus diesem Traum. Ich fand mich erst kürzlich wieder in einem Traum in ebenjenem Wohnzimmer. Wahrscheinlich hat mich diese Stunde meines Lebens mehr geprägt als mir lieb sein kann.

Wenn also weitere Armutsdebatten geführt werden, dann werde ich mich künftig als empirischer Experte melden. Tat ich versteckt ja immer. Nun werde ich es offen tun und unter der Überschrift Erfahrungen aus dem sozialistischen Jetset. Und Armutsdebatten werden geführt werden, denn man hat die Absicht, die Armut zu lindern. Nicht wirklich natürlich, nicht für die Betroffenen natürlich. Für all die anderen Menschen soll sie gelindert werden, die von Armut nichts mehr hören wollen. Also debattiert man so lange, bis keiner mehr zuhört, bis man nicht mehr glaubt, dass es etwas wie Armut in diesem Lande gibt. Und dann zeigen sie penetranter denn je auf den Sudan, auf abgemagerte Kinder und belehren die Arbeitslosen, dass es ihnen noch verdammt gut gehe. Armut sieht überall etwas anders aus, aber verdammt nochmal, es bleibt Armut.



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Eine Nation unter Waffen

Freitag, 11. Januar 2013

Diese ganzen Redneck-Trottel, die mit ihrer Waffennarretei aus den Honky Tonks wackeln oder aus ihren Anwaltskanzleien strömen, sind verdammt noch eins unsere Freunde. Ihr sonderbarer Ansatz der Befriedung der Gesellschaft, in der sie leben, schadet uns doch nicht. Die meinen nämlich, dass Littleton, Blacksburg oder Newtown zu verhindern gewesen wäre, wenn sämtliche Lehrer an den Schulen auch bewaffnet zur Schule gegangen wären. Es gibt gewissermaßen nicht zu viel Waffen, die im Umlauf sind, sondern gegenteilig, es sind viel zu wenig.

Wir halten solche Ansicht hier in Deutschland zuweilen für reaktionär und schütteln verständnislos die Locken, wenn wir mit ihnen konfrontiert werden. Entgeht uns dabei der gesunde Geschäftsinn, den wir sonst an den Tag legen, wenn wir Waffen verschiffen? Da lauert doch dicker Umsatz. Umsatz, den wir sonst gerne in unsere Geschäftsbücher eintragen, wenn in anderen Teilen der Welt Waffen benötigt werden. Dabei ist des Rednecks Zu-wenig-Waffen-Theorie eine Goldgrube.

Bewaffneten sich die Lehrer auch im Unterricht - privat sind sie es ja unter Umständen schon -, so müssten nach Maßgabe dieser Eskalationstrategie auch die Kinderchen Schussgerät mit in die Schule nehmen. Schließlich könnte der Lehrer irgendwann austicken, wenn es zu viel Geschrei und Geschwätz gibt, da könnte er ja in Versuchung geraten. Nach der Sache in Newtown sagte ein befragter Amerikaner, wenn ein Lehrer eine Waffe gehabt hätte, dann hätte man dem Typen schnell den Kopf weggeknallt und dann wäre die Katastrophe eher ein Kataströphchen gewesen. Das kann man mal Weitsicht nennen! Kurzum, wenn der Lehrer ausrastet, dann müssen die Kinder die Möglichkeit haben, ihm den Kopf wegzuschießen. So funktioniert Befriedung.

Seien wir plötzlich nicht so ethisch. Das verhindert nur Geschäfte. Im Gegenteil, eine aufgerüstete Zivilgesellschaft bringt Innovationen mit sich. Mobiltelefone für Kinder gibt es doch auch. Warum nicht auch handliche und kindergerechte Pistolen? Sonst heißt es doch auch, dass Panzer nach Arabien Arbeitsplätze sicheren und schaffen. Sozial ist, was Kinderpistolen schafft. Und es sind ja nicht nur die Kinder, die dann Waffen benötigen, sondern auch die Eltern. Vor allem die Eltern! Schon mal Kinder erlebt, die wütend auf ihre Eltern sind? Man muss sich doch wehren können! Und das ganze andere Personal in Schulen braucht selbstverständlich auch Waffen. Und Kindergärtnerinnen, wenn es chic wird, dass man schon Hosenscheißer waffentechnisch ausstattet. Alles zur Sicherheit, versteht sich.

Was sollen wir denn da moralisieren? Wir liefern doch auch in andere Landstriche. Aufrüstung ist doch sonst ein Grund zur Freude. Die ganze liberale Rotte, die Waffenkontrollgesetze fordert, die ist doch nicht gut für den Waffenstandort Deutschland. Der Redneck und seine Waffenliebelei ist es hingegen schon. Wo sind denn plötzlich unsere Prioritäten? Warum so moralingetränkt, wenn einer von denen erläutert, auf Amerikas Straßen sind zu wenig Waffen unterwegs? Uns soll es doch recht sein. Trifft uns dann etwa die Schuld, wenn die schöne Theorie nicht aufgeht und alle fünf Sekunden jemand durch eine Waffe ums Leben kommt. Alle fünf Sekunden verhungert auch ein Kind - und das, liebe Leute, ist doch nur eine Marginalie.

Die Geschäftstüchtigkeit deutscher Waffenkonzerne und ihrer politischen Schmierlappen verhindert Panzer für Arabien oder Maschinengewehre für Afrika nicht. Der Bürger zuckt nur mit den Achseln. So ist das halt mal, Geschäft ist Geschäft und von irgendwas muss man ja leben. Bis der Redneck kommt, der amerikanische Freund. Dann versteht man die Welt nicht mehr. Wie kann man nur so blöd sein, fragt man sich dann, wenn man so einen Typen das Maul aufmachen sieht und hört. Klar, der ist ja wie wir, denkt man. Westliche Kultur und so. Westliche Aufklärung. Weißer Mann. Und dann will er aufrüsten, will er Pädagogen mit Knarren sehen. Und dann kehrt der Bürger, der bei Panzer für die nicht-weiße Welt mit seinen Schultern zuckt, seinen Widerwillen heraus, wird ganz ethisch, wütend sogar und kann nicht begreifen, wie sich weiße Vernunftsmenschen gegenseitig in die Eskalation peitschen.

Ein fiktiver Präsident namens Romney hätte womöglich die Waffengesetzgebung gelockert. Und nehmen wir nur kurz an, ein deutsches Magazin hätte unter Berufung auf geheime Dokumente darüber geschrieben, dass diese Lockerung den deutschen Waffenlieferanten Mehraufträge in Milliardenhöhe einbrächte, was hätten wir da im Angesicht von Littleton, Blacksburg und Newtown geschimpft und gewettert. Geschäftssinn ade! Dergleichen regt uns auf. Arme weiße Kinder unter der Fuchtel bewaffneter Pädagogen. Schwarze Kinder unter dem Diktat von der westlichen Welt bewaffneter Generale sind leichter zu ertragen.

Eskalation als Deeskalation. Im Kalten Krieg haben wir das als Methode erlebt. Atomwaffen und noch mehr Atomwaffen. Immer zwei oder drei mehr als der Gegenspieler besitzen. Eskalation ist das Prinzip in dieser Welt. Wir eskalieren ja auch. Der Markt hat versagt. Lösung: Noch mehr Freihandel und Deregulierung. Die Freiheit ist vom Terrorismus gefährdet. Lösung: Freiheit einfrieden. Es fehlt Binnennachfrage. Lösung: Noch mehr sparen.

Seid also nicht so verlogen, sondern unterstützt den Redneck. Für eure Arbeitsplätze. Für den Wohlstand in Deutschland. Mehr Waffen müssen unser Schaden nicht sein. Man könnte natürlich dieselbe Moral walten lassen, wenn mal wieder Waffenladungen in den Kongo gehen sollen. Aber das könnte Arbeitsplätze gefährden und von irgendwas muss man doch leben ...



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Die Religion des Westens

Donnerstag, 10. Januar 2013

Es ist nicht statthaft, das Christentum mit dem Islam zu messen, ihn zu vergleichen, mit der Absicht, seine besondere Aggressivität zu dokumentieren. Das Christentum ist trotz seiner Präsenz in der westlichen Hemisphäre nicht mehr die spirituelle Grundlage dieses Revieres. Es existiert nicht mehr als Überbau, lediglich einige Artefakte haben sich im gesellschaftlichen Leben erhalten. Es ist nicht die Glocke, die über alles gestülpt wird, sondern eine Sammlung staubiger Scherben, die hier und da verteilt noch zu finden sind. Will man spirituelle Gerüste dieser zweier Kulturen vergleichen, so müsste man, sofern das überhaupt einen Sinn haben mag, den Islam mit der Kapitalismus neoliberaler Ausformung oder dem Konsumismus nebeneinander stellen.

Varianten der Rückbindung

Wenn wir Religion sagen, versteifen wir uns auf Glaubensgruppen, die sich in Kirchen oder kirchenähnlich versammeln, um einen personalisierten Gott zu huldigen. Das ist der Kontext zu Religion. Wollen wir polemisch sein, attestieren wir auch anderen Gruppen religiöse Züge, beispielsweise fanatischen Fußballfans. Dabei ist diese Polemik an der Wortherkunft gemessen, gar nicht überspitzt und dramatisiert, sondern durchaus zutreffend. Das lateinische religio wird mit Rückbindung übersetzt, herkommend von religare, zurückbinden oder relegere, immer wieder lesen, womit so etwas wie eine Rückbindung oder Rückkoppelung, ein durch Lesen manifester Dauerbezug zum Glaubenskanon besteht. Ob der mit oder ohne personalisierter Gottheit vollzogen wird, ob der kirchlich organisiert sein muss, steht im Wort Religion gar nicht geschrieben.

Insofern kann man jemanden, der sich auf geistiger Ebene nur mit seinem Fußballverein beschäftigt, durchaus Religiosität attestieren, ohne gleich polemisch zu sein. Die Bezeichnung trifft zu, weil er sich dort rückkoppelt, dort seine Einbettung in einer Gemeinschaft erfährt. Diese Ebene existiert natürlich auch noch im Christentum, sie ist aber nicht massenkompatibel und wird schon lange von einer ganz anderen, einer profaneren Rückbindung erdrückt, sodass das Christentum in die Rolle einer sterbenden Rückbindungsvariante gedrängt wurde. Die "Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die sogenannten Religionen Antwort gaben" (Walter Benjamin, Kapitalismus als Religion), besorgt nun die Warenwelt des Kapitalismus auf ihre Weise.

All you need is love

Rückbindungen allerlei Art sind menschlich, sind natürlich. Es ist der Irrsinn der neoliberalen Welt, so zu tun, als habe man diesen menschlichen Drang abgelegt und man lebe quasi im Reinen mit einem wissenschaftlichen Rationalismus, der solcherlei Verhaltensnormen nicht mehr kennt. Dieser obskure Rationalismus ist indes nicht weniger als genau solcherart Rückbindung. "Der Verlust des Glaubens in einer Religion deutet keineswegs auf das Erlöschen des religiösen Instinktes hin. Er bedeutet lediglich, dass der vorübergehend unterdrückte Instinkt sich anderswo ein Ziel sucht", schrieb Robert Charles Zaehner in Mysticism Sacred and Profane.

"Für die der Kirche und den Werten ihrer Eltern entfremdete Generation der Teens und Twens" der Sechziger- und Siebzigerjahre, so erzählt Steve Turner in seinem Buch über die Beatles, habe die Rockmusik quasireligiöse Züge angenommen. Man koppelte die ewigen Fragen zum Lebensinn direkt an die Botschaften, die man von Rockstars empfing; die wiederum setzten nicht nur Trends, sondern auch plötzlich Prediger waren. Turner beschreibt, wie Menschen regelrecht exegetisch die Texte von Beatles-Songs lasen, um zu höheren Einsichten zu gelangen. Die Beatles selbst lebten zunächst voll konsumistisch und fanden Gefallen an Prominenz und Geld, bis sie in die Sinnkrise gerieten und via LSD erleuchtet und in Indien von Gurus unterrichtet wurden. All you need is love war wohl eine Botschaft, die direkt den Liebeslehren - Liebe war ja in jener Zeit in jenen Kreisen der kosmologische Stoff schlechthin - diverser esoterischer Schwärmereien entnommen war. Millionen Menschen taten es ihnen gleich, Indien wurde zum expliziten Zentrum göttlicher Weisheit. Andere deuteten das Psychedelika in den Songs anders und massenmordeten - Charles Manson und Anhang taten das nämlich; sie beriefen sich ausdrücklich auf die Beatles und meinten es handle sich um vier singende Engel, die auf Erden geschickt wurden.

Kurz und gut und mit Zaehner gesprochen - und um diesen beatligen Gedankensplitter zu einem sinnvollen Abschluss zu bringen: Der religiöse Instinkt erlöscht nie, er sucht sich allerdings Wege, die mit den kulturellen, ökonomischen und sozialen Verhältnissen besser zu vereinbaren sind.

Unser tägliches Schnäppchen gib uns heute

Wir sind als Menschengeschlecht erdbodenfixierter geworden. Heute schauen wir nicht mehr ehrfurchtsvoll zum Himmel, sondern stehen auf dem Boden der Tatsachen. Das versuchen wir wenigstens zumeist. Dass dabei auch die Sinngebungslehren weniger himmlisch rückgekoppelt sind, sich eher irdisch ausnehmen, scheint da nur konsequent. Zudem haben die transzendenten Glaubensgerüste nie auf kosmologische Sinnfragen adäquate Antworten gefunden. Wie auch? Der Kapitalismus als profane Rückbindung zum stofflich Fassbaren, zum Materialismus also - denn wir glauben ja nur, was wir sehen und anfassen können! -, versucht erst gar nicht, dem menschlichen Dasein hehren Sinn einzuhauchen. Zu haben mag Sinn sein oder nicht - das liegt im Auge des Konsumenten, man lehrt es nicht dogmatisch. Aber zu haben beruhigt und befriedigt einige Augenblicke lang, bis zum nächsten Götzendienst im Konsumtempel, bis zur nächsten Shoppingtour, bis zu nächsten Attacke von Habgier. Insofern scheint der Kapitalismus das Seelenheil effektiver herzustellen, als all die Riten transzendenter Religionen mit all ihren inneren Reinigungen, Fastenkuren, Geißelungen und Gebetsmühlen. Benötigte die klassische Religion noch Kontemplation und Stunden der Einkehr, so bietet die neoliberale Glaubenswelt simplifizierte Zeremonien, in denen als Einkehr ausreichend ist, in ein Kaufhaus einzukehren oder etwaigen Werbeversprechen zu erliegen, um Bedürfnisse erst zu wecken, um sie dann zu stillen.

Walter Benjamin gab tatsächlich auch zu Bedenken, dass der Kapitalismus ein entleerter Kult ohne Dogmatik und Theologie sei. Der Fetischcharakter des Kruzifixes, der nun auf die Warenwelt überging, entwirklicht und entfremdet den Menschen, meinte er. Der Luxus, den der moderne Kapitalismus viel stärker herzustellen vermag, als zu Benjamins Zeit, potenziert die Transformation von Konsum zu einer Ersatzreligion. Die Ausrichtung der geheiligten Konsums zeichnet stellenweise Michel Houellebecq nach, wenn er esoterisch aufgeladene Sekten karikiert, die Lehren von Haben als Sein (als die Synthese von Fromms Gegenspielern Haben und Sein) verkündigen und die in Houellebecqs Phantasie sogar zu Weltreligionen der westlichen Welt mutieren, weil sie so vortrefflich den Zeitgeist berühren und dadurch groß werden können. Dieser eosterische Überbau das Habens als Seins scheint tatsächlich zuweilen vorbereitet: Astro TV, Think positive-Seminare, Glücksratgeber bis hin zum Schulfach Glück in einigen Schulen Deutschlands, Wellness für Körper und Seele-Kult oder esoterische Firmenverehrung wie im Falle Apples geben Auskunft darüber.

Äpfel mit Äpfel, Birnen mit Birnen

Die westliche Welt ist mitnichten eine Gesellschaft sonntäglicher Religiosität. Sie ist dennoch voller religiösem Eifer. Der hat sich allerdings nur andere Ziele gesucht. Der Vergleich des Islam mit dem Christentum - als religiösem Entwurf im Westen - ist falsch, weil hier eine aktive Religion mit einer kläglich sterbenden verglichen wird. Letzte kann gut friedfertig und aufgeklärt wirken als rein sonntägliche Einrichtung ohne religiöse Bindung, als reiner Akt des Traditionalismus, als Reminiszenz an frühere Tage.

Der Clash of Civilisations ist nicht als Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam zu werten, wie das manche Medien häufig tun. Es ist eine Auseinandersetzung eines Kapitalismus, der sich selbst als Krone der Menschheitsgeschichte geriert und zwischen einem Islam, der fundamentale Grundsätze, die dieser Kapitalismus als rückständig und teuer erachtet - Stichwort: Zersetzung des Gemeinsinns! -, nicht teilt. Der teils regional eingeschränkten Brutalität des Islam setze man die Brutalität der Religion gegenüber, die die westliche Welt erfüllt: des Konsumismus in seiner kapitalistischen oder neoliberalen Ausprägung. Letzterer hat durchaus auch Leichenberge aufgetürmt und schenkt sich in Sachen Brutalität nichts.



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