Gewissensbisse ohne Zähne

Montag, 26. Oktober 2015

Vor etwas mehr als zwei Wochen gingen zwischen 150.000 und 250.000 Menschen auf die Straßen Berlins, um gegen das Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten Stellung zu beziehen. Unzählige folgten dieser Veranstaltung via Livestream. Andere waren aus der Ferne, also im Geiste dabei. So gesehen waren Millionen von Bürgern dieses Landes anwesend, als stellvertretend für alle TTIP-Gegner diese sechsstellige Menschenmasse demonstrierte. Diese geballte Manpower (um mal die Sprache zu sprechen, die die Neoliberalen ansonsten uns angedeihen lassen) sollte doch die Abgeordneten, immerhin nicht weniger als Volksvertreter, zum Nachdenken anregen. So jedenfalls will es die demokratische Theorie.

Je größer die Masse, desto höher der Anreiz für den Abgeordneten, seine Entscheidung nicht nur seinem persönlichen Gewissen zu unterwerfen, so wie es Artikel 38 des Grundgesetzes definiert, sondern eben auch dem, was die Legion von Wählern möchte. Je mehr Menschen kundtun, dass sie dies oder das nicht gutheißen, desto mehr macht man denen, die Entscheidungskompetenzen haben, ein schlechtes Gewissen. Das ist die Grundlage solcher Aufläufe. Man macht aufmerksam und verdeutlicht, dass ein Parlament von einigen hundert Delegierten, nicht über die Köpfe der Masse hinweg entscheiden darf. Große Demonstrationen sind deswegen immer auch ein Spiel mit den Gewissensbissen, die man erzeugen möchte. Es soll einem Abgeordneten nicht so einfach gemacht werden, einfach mal so zu entscheiden, wie es eine profitorientierte Minderheit von ihm will. Wir sind das Volk und so. Und dein Gewissen sollte das nie vergessen.

So weit, so gut. Das Problem ist jedoch, dass dieses Prinzip mit TTIP vielleicht gar nichts zu tun hat. Vielleicht gibt es für etwaige Gewissensbisse gar keine Zähne. Noch immer weiß man nicht, ob je ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages über die Ratifizierung des Freihandelsabkommens befinden muss. Alles ist noch in der Schwebe. Die Frage ist nämlich, ob TTIP eine reine Sache zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten wird, bei der die Länderparlamente außen vor sind - oder dann doch ein »gemischtes Abkommen« zwischen den Mitgliedsstaaten der EU und den USA, das ohne solchen demokratischen Firlefanz auskommt.

Die deutsche Regierung geht davon aus, dass es sich bei TTIP (und CETA) um gemischte Abkommen handeln wird. Dieselbe deutsche Regierung übrigens, die glaubt, dass Austerität ein Weg aus der Misere im Süden Europas sein wird. Die Leute in dieser Regierung wissen also, wie man sich wortgewandt täuscht und sich selbst was vormacht. Der ehemalige EU-Chefunterhändler in Sachen TTIP, ein Mann namens De Gucht, hat aber schon mal angekündigt, dass sich mal ein Gericht mit der Art des Abkommens beschäftigen werde. Denn ein reines Abkommen wäre den Befürwortern des Abkommens am allerliebsten. Das spart Zeit und Nerven und speist die Gewissheit, dass es was wird mit TTIP. Die Europäische Union ist überdies sehr geübt im Verschleppen und Modifizieren von Vorhaben, die keine Mehrheit finden. Als die EU-Verfassung scheiterte, initiierte man einen Vertrag mit Verfassungsinhalten und dann konnte doch noch verabschiedet werden, was vorher nicht gelingen mochte. Nichts ist also sicher. Außer vielleicht die Bereitschaft der deutschen Regierung, einen auf naiv zu machen.

Nein, man muss ja gar nicht glauben, dass die nationalen Parlamente - und in unserem Falle der Deutsche Bundestag – ein Unsicherheitsfaktor wären. Die Konstellation der Großen Koalition, die ja vermutlich ein Langzeitprojekt über 2017 hinaus sein wird, lässt nur recht wenig Hoffnung schimmern. Auch wenn die Abgeordneten doch nicht übergangen werden, wird es wohl dazu kommen. Überraschungen sind im modernen Parlamentarismus nicht vorgesehen. Nicht in wirtschaftlichen Fragen. Da ist das Gewissen etwas, was man sich gefälligst verbeißen sollte. Geht es zum Beispiel um Abtreibung oder Präimplantationsdiagnostik, ist der Abgeordnete noch ganz ein Gewissenhafter. Aber nicht als Rahmensetzer für die Wirtschaft. Da soll er gewissenlos der Leitlinie, der Agenda und dem Fraktionszwang folgen. Aber lassen wir das, denn das ist eine ganz andere Sache.

Fest steht nur, dass TTIP nicht erst undemokratisch wirkt, wenn es aktiviert ist. Es gibt als Einstandsgeschenk schon seinen geballten antidemokratischen Geist frei. Man verhandelt im Stillen und stülpt die Resultate womöglich über die nationalen Verfassungen. Schon vorab ist dieses Vorhaben also ein demokratischer Notstand. So wie TTIP heute schon wirkt, obgleich es noch nicht mal absolute Realität geworden ist. Über den apriorischen Wirkungsgrad mal an einem der kommenden Montage mehr. Daher bin ich der Meinung, dass TTIP zerstört werden muss. Nicht erst dann, sondern schon jetzt in der Vorlaufphase.

2 Kommentare:

Anonym 29. Oktober 2015 um 00:14  

Nochmal: In den nächsten zwei, drei Jahrzehnten wird kein grundsätzlicher Politikwechsel stattfinden, weil das Politikerpersonal in diesem Zeitraum nicht durch eine Mehrheit grundsätzlich Andersdenkender ausgetauscht sein wird. Müsste man angesichts dessen nicht vorrangig den Menschen Hilfe zur Selbsthilfe geben, wenn man publizierend etwas bewirken will, statt sich darauf zu verlegen, sich an den äußeren Umständen abzuarbeiten - was den Leuten in ihrer Misere aber keinen Deut weiterhilft?

Lobos K. 31. Oktober 2015 um 15:25  

Der Konkurrenzdruck unter den Armen wird durch die täglich Tausenden neu ankommenden Armen ins Unermessliche steigen. Das kann man sich gar nicht vorstellen.

  © Free Blogger Templates Columnus by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP