Aus fremder Feder

Dienstag, 31. Mai 2016

»Ich schwöre es bei allen Göttern des Himmels und der Erde, der zehnte Teil von dem, was jene Leute in Deutschland erduldet haben, hätte in Frankreich sechsunddreißig Revolutionen hervorgebracht und sechsunddreißig Königen die Krone mitsamt dem Kopf gekostet.«
- Heinrich Heine, »Der Salon« -

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The Caddy is a Trump

Montag, 30. Mai 2016

Donald Trump hat es geschafft. Er wird als republikanischer Präsidentschaftskandidat nominiert. Das ist zu begrüßen. Denn der Mann hat einen historischen Auftrag, den nur er alleine erfüllen kann. Er ist der richtige Mann am richtigen Platz zur richtigen Zeit. Und er wird Amerika und vielleicht der Welt zu einer besseren Zukunft verhelfen.

Womit wir wieder bei Hegel wären, bei seiner »List der Vernunft«, bei einem Umstand, in dem das Schlechte die Weltbühne betritt, aber eigentlich auf das Gute deutet. Das klingt jetzt vielleicht zu moralisch, daher sagen wir es etwas entmoralinisierter: Es gibt Augenblicke, da man denkt, jetzt kündigt sich ein Niedergang an, aber dann wird daraus eine neue Chance, vielleicht sogar ein kleiner Fortschritt. In diesem Sinne hat Mister Trump eine Aufgabe von der Geschichte erteilt bekommen. He's the Man. The One, vielleicht nicht the Only, aber griffbereit zur Stunde, da ihn sein Land braucht. Er ist derjenige, der gegen einen Sozialisten ins Präsidentschaftsrennen gehen muss, um eben jenen zu einem Erfolg zu führen. Jeder andere republikanische Kandidat, der nur ein Gran weniger verblödet aufträte, würde Sanders gefährlich werden können. Aber Trump nicht. Er ist die Pforte für den ersten Sozialisten im Weißen Haus. Der Caddy, der die Tasche hält.

Als Hegel diesen Kniff seiner Philosophie ersonnen hat, da muss er sich einen dämliche Typen mit lächerlichem Haarersatz imagniert haben, der aus Gründen seiner Egozentrik glaubte, er könne König oder Kaiser werden. Einen wie Trump. Und dann muss er sich gedacht haben, falls man je über solche Karikaturen abstimmen dürfte, dann wäre so ein Trumpel derjenige, der Schlechtes ankündigt, aber Gutes in seinem Gefolge führt. Insofern hat jeder seine Aufgabe hinnieden. Selbst Witzfiguren mit geschmacklosem Hang zu Hasstiraden, die sie auf die Teile der Menschheit anwenden, die noch nicht zur Riege der eigenen Ehefrauen gehörten, können einen gesellschaftlichen Auftrag erfüllen. Sie müssen nur so sein, wie sie sind. Und flugs haben die Vereinigten Staaten, das Land des McCarthyismus und der Reaganomics einen Mann an ihrer Spitze, der das Gegenteil davon ist, der von sich behauptet, er sei sozialistisch orientiert. Dergleichen wäre vor Zeiten undenkbar gewesen. Erst Trump, diese List der Vernunft, macht Unmögliches möglich. Der Mann bedeutet eindeutig Fortschritt.

Wir dürfen uns natürlich keine Wunder versprechen von einem Präsidenten namens Bernie. Auch er wird Rücksicht auf die realpolitischen Gegebenheiten nehmen müssen; er ist Demokrat und braucht Mehrheiten. Aufgabe seiner möglichen Präsidentschaft wird es sein, den Amerikanern aufzuzeigen, dass Sozialstaat kein Bolschewismus ist, sondern eine Chance für alle. Sogar für die Vermögenden, denn nach einer sozialen Befriedung braucht man weniger Stacheldrahtzäune und Sicherheitsleute. Er muss seinen Landsleuten zeigen, dass sozialstische Vorstellungen nicht den Untergang der USA bedeuten, sondern im Gegenteil, eine mögliche Ausflucht aus dem Dilemma, das uns global im Griff hält. Nicht alle Vorhaben werden umsetzbar sein. Manches wird auf der Strecke bleiben. So ist das, wenn man an der Macht ist. Wenn die Amis unter Sanders sagen »It works«, dann ist das Feld für eine linke Ökonomie unter etwaigen Nachfolgern bereitet und wird einen breiten gesellschaftlichen Konsens erzielen. Man braucht immer erst einen ersten sozial(istisch)en Präsidenten, um einen zweiten wählen zu können.

Nun gut, noch ist Sanders nicht der Kontrahent, noch gibt es da die First Lady von einst. Allerdings deinstallieren sie sie bereits. Sollte sie dessenungeachtet antreten gegen den toupierten Mann der hegelianischen Philosophie, so ist das keine Vernunftslist mehr, sondern eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Und an letzterer starb Herr Hegel bekanntlich. Auch er hatte keine Wahl.

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Shiting Bull

Freitag, 27. Mai 2016

Eine Frau Katzenberger steht kurz vor einer Traumhochzeit. Frau Wiegand hingegen vögelt mit ihrem Vetter fünften Grades. Sind wir nicht alle Brüder und Schwestern im Herrn? Frau Müller beklagt sich, man würde sie ständig nur angrabschen wollen. Herr Lau ist hingegen Vater geworden, ein Sohn, den er auch gleich strafte mit einem lächerlichen Vornamen. Der Knabe soll gleich mal lernen, dass es auf Erden kein Zuckerschlecken ist. Frau Wohlgemuth hatte schon ein Kind, nun aber auch noch einen Vater dazu, den sie jetzt allen zeigt, die ihn sehen möchten. Ich habe keinen Schimmer, wer diese Leute sind. Man reibt sie mir aber täglich unter die Nase. An Haltestellen, am Bahnhof, an Kiosken. Überall stehen so Säulen und Leinwände herum, die Meldungen von dieser Güteklasse absondern. Sind wir also gesellschaftlich mittlerweile so entfremdet, von unserem direkten Umfeld so isoliert, dass wir Klatsch und Tratsch bereits über Unbekannte betreiben?

Ich meine, früher kannte man die Schlampe von gegenüber noch persönlich, war live dabei, wenn sie ihre Eskapaden pflegte. Man grüßte sie im Laden, wechselte mit Dummchen oder Stelzbock noch einige Worte. Da wusste man noch, über wen man sich das Maul zerriss. Aber wer kennt heute noch seine Nachbarn, alles ist so isolationistisch geworden, alles geht so schnell, heute ziehen welche ein, morgen weiter, heute ziehe ich ein, morgen ziehe ich aus. Nachbarschaft ist ein Vabanquespiel. Also schafft man sich Redaktionen an, die den Klatsch und Tratsch gewissermaßen internationalisieren, von der regionalen Bühne holen, damit man - falls man sich doch mal mit jemanden unterhält - ein gemeinsames Opfer zum Lästern hat. Denn sich über Dritte abfällig zu unterhalten, so hat eine englische Studie schon vor Jahren herausgefunden, das stärke die gemeinsamen Bande. Nur eine Klatsch- und Tratschgesellschaft festige den Zusammenhalt. Solange, bis jemand so darunter leidet, sich so gemobbt fühlt, dass er ausrastet und jemand absticht. Kollateralschäden halt, man kann nicht alles haben.

Nein, aber mal weniger flapsig. Was ist das für eine Industrie, die uns solchen Bullshit als etwas verkauft, was man wissen sollte? Welcher Antrieb steckt denn dahinter, den Leuten, die gerade zu ihrem Regionalexpress oder ihrem ICE eilen, noch kurz mitzuteilen, dass irgendeine blonde Schweinefürstin gedenkt, sich nun einen Sugardaddy ins Haus zu holen? Reist man beruhigter, wenn man darüber informiert wurde, dass die Nutten tanzten, weil ein Playboy-König Laune hatte?

Nein, es verblödet nur gezielt, soll dem Verlust der Relevanzkompetenz Vorschub leisten. Diese Bullshit-Kultur ist einzig und alleine dazu da, um die Aufnahmefähigkeit für existenziellere Sujets unauslöschlich zu zersetzen, wichtige Zusammenhänge in der Nichtigkeit banaler Figuren und ihrer Vita zu ersäufen. Solange nur Fakten gesammelt werden, die irgendwo zwischen Kinderwunsch und Hochzeitsplänen, gemachten Brüsten und Libido und ähnlichem, feststecken, solange kurbelt sich das bisschen Denkfähigkeit, das im stressigen Alltag noch bleibt, mit Gegenständen ab, die den bestehenden Verhältnissen nicht schaden. Wer auf dem Eilmarsch zwischen verspäteter Regionalbahn und Anschlusszug die traurige Geschichte einer Frau liest, die mit ihrem Vetter ins Bett steigt, dem entfällt ziemlich schnell der Ärger, den eine total überforderte und schlecht finanzierte Bahngesellschaft einem täglich aufhalst und der hat nebenher gleich Ansatzpunkte für einen Dialog mit anderen, der als Gegenstand eben nicht die Bahn und ihre Firmenpolitik beinhaltet, sondern Unverfänglicheres.

Der Bullshit sei das »auffälligste Merkmal unserer Kultur«, schrieb Harry G. Frankfurter vor einigen Jahren zutreffend. Dabei hat es ihn immer schon gegeben, er war aber auf dem Friseurbesuch beschränkt. Also auf das vor Langeweile inspirierte Durchblättern von Druckerzeugnissen, die sich mit den privaten Larifari mittelprächtig bekannter Menschen befassten. Die Regenbogenpresse ist als Industrie zu einem Markt digitalisierter Omnipräsenz angewachsen. Via Fernsehen bahnte sie sich einen Weg aus Friseursalons und den Haushalten angeödeter Damen, um letztlich als Informationssäule die Menschheit mit Belanglosigkeiten zu beglücken. Nicht unbedingt mehr um Langeweile zu überbrücken, sondern um zu beschäftigen und mit Bagatellen auszufüllen. Das erfüllt vielleicht nicht, aber es füllt. Unterbindet das Nachdenken, kanalisiert eigene Unzufriedenheit, lässt an Glück und Trauer teilhaben und funktioniert als Ersatzbehelf in einem Alltag, der feststeckt in Trott und Ödnis.

Wie gesagt, früher kannte man so eine schrille Gerlinde noch selbst. Sie wohnte einen Eingang weiter, plante ihre Hochzeit zu laut, sodass alle über sie tuschelten. Dann lief ihr der Kerl noch vor der Hochzeitsnacht weg, also ließ sie sich die Brustwarzen drei Zentimenter nach oben verlegen, wie einen BH aus Fleisch und sie war redselig genug, es allen zu stecken, was wieder Getuschel fabrizierte. Mit dem Bullshit von Gerlindes Leben wertete man seine eigene beklemmende Existenz auf; Gerlindes waren so unsäglich wichtig. Heute sorgen hingegen fremde und unbekannte Gesichter wie Frau Katzenjammer, Frau Wohlgemuth und Herr Lau dafür, dass man was zu reden hat. Wer über die redet, der quatscht nicht von TTIP. Bullshit, das wissen Experten mittlerweile, verursacht Methan und verstärkt den Treibhauseffekt. Übrigens wurde Gerline nach ihrer OP die Gespielin ihres Cousins, der sie vor aller Welt antatschte, die Tuschelei folgte sofort auf den Fuß. Das Kind, das er ihr machte, hatte es nicht ganz so eilig, ließ sich neun Monate Zeit. Als es da war, erzählte sie allen, die es wissen wollten oder nicht, was für einen unmöglichen Namen es bekommen sollte: Shiting Bull.

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Deutschland, du Opfer!

Donnerstag, 26. Mai 2016

Nicht Fleiß, Pünktlichkeit oder weiße Socken in Sandalen sind die primären Integrationsparameter in diesem Lande. Der Jammer und das stete Gefühl betrogen worden zu sein sind deutsche Tugenden der Berliner Republik.

»Am besten gar nicht mehr hinfahren«, schrieb ein erboster Kommentator irgendwo bei Facebook und bezog sich auf den Eurovision Song Contest. Ein abgekartetes Spiel zwischen den Osteuropäern sei das nämlich. Andere sahen nicht ein, dass Deutschland dieses Event mit so viel Geld ausstattet, nur um am Schluss gedemütigt zu werden. Als eine Kommentatorin einwarf, man sollte vielleicht auch mal mit etwas Distanz die Qualität des deutschen Beitrages hinterfragen, fing sie sich gleich einige verbale Ohrfeigen ein. Dann ging das Schaulaufen der Jämmerlinge weiter. Sie weinten dem an ihnen begangenen Betrug wortreich nach und waren sich einig, künftig nicht mehr mitspielen zu wollen. Und falls Deutschland doch so blöd wäre, auch im kommenden Jahr einen Beitrag zu entsenden, so wollten sie zumindest nicht mehr den Fernseher anschalten. Früher verschränkte man beleidigt die Arme, wenn man schmollte. Heute hämmert man auf eine Tastatur.

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Ein Unternehmensaufstieg

Mittwoch, 25. Mai 2016

Eine komische Kapitalismuskritik ist jene, die mit kapitalistischen Unternehmen wirbt, um andere kapitalistische Unternehmen zu diskreditieren. Als ob man etwa über McDonalds heranziehen könnte, um Burger King zu kritisieren. Oder Pfizer mit Bayer relativiert. So abermals geschehen letzte Woche. Als man Dynamo, Hansa, ja den FC Bayern und den BVB als so viel besser als den RB Leipzig feierte. Anna Loos und ihre Band Silly glaubten dem Aufsteiger mittels Trikots anderer Vereine einen Spiegel vorhalten zu können. Das ist seit Jahren ein beliebtes Spiel in den Stadien der Republik, den Leipzigern ihre fehlende Tradition und ihrem potenten Mäzen den Kapitalismus anzuhängen, während man behauptet, dass der Rest der Ligen aus dem Gegenteil davon kommt, der aus gutem Brauchtum entstanden ist und in diesem auch weitergeführt wird.

Wenig könnte falscher sein. Wir haben es in jedem der Fälle mit Unternehmen zu tun, die Sport benutzen, um Rendite zu erzielen. Leipzig mag ein Retorten-Verein sein, aber er ist nicht der böse Kapitalist unter einer biederen Ansammlung von Klubs, denen das Big Business fremd ist. Wenn wir schon mal von Tradition sprechen: Den Vereinen der großen europäischen Ligabetriebe ist eine Sache gemein. Die der Schöpfung von Einnahmequellen, der Gier nach Marktanteilen, der Ausverkauf sportlicher Grundwerte und die Monetarisierung der Emotionen zugunsten des Merchandising. Ob sie nun aus Wolfsburg, Ingolstadt, Leverkusen oder Leipzig kommen - oder aus traditionellen Kickerstädten wie München, Hamburg oder aus Gelsenkirchen: Elf Freunde, die von netten Brauchtumsfunktionären betreut werden, um naiven Spaß auf den Rasen zu verursachen, ist nicht das Metier all dieser GmbHs. Letztlich ist ein Unternehmen in die DAX-Gruppe des deutschen Fußballs aufgestiegen und nicht ein Verein zu anderen Vereinen gestoßen.

Wenn man zum Beispiel bei der Eintracht in Frankfurt ein Heimspiel besucht, dann gehört es zur neuen Folklore, etwas gegen den RB Leipzig zu haben. Er sei halt eine Erfolgsgeschichte von sportkünstlicher Machart. Da kauft sich der Klub überdurchschnittlich gute Spieler, weil er es sich leisten kann und holt sich auf dieser für unlauter gehaltenen Basis das Oberhaus in die Stadt. Also wie Bayern oder die Borussia, die es ja genauso handhaben, denen man es aber eher verzeiht, weil sie sich diesen Status irgendwie verdient haben. Lassen wir es, hier an die Ungleichverteilung von TV- und Werbegeldern zu erinnern, die das Riesenhafte dieser zwei Giganten maßgeblich verursachen. Ob die von den Topvereinen aktiv betriebene Ungleichgewichtung ein Verdienst ist, sei also dahingestellt. Der Red-Bull-Verein dient so betrachtet auch der Romantisierung einer Sportart, in der es nichts mehr Romantisches gibt. Keine Vereinstreue mehr, keine elf Freunde, keine Pirmasens/Alsenborn-klopfen-an-das-Tor-zur-Bundesliga-Sensationen mehr.

Der RB Leipzig ist die Projektion der gegnerischen Fankurven, um sich selbst als Tradition feiern zu können, als Anhängerschaft von Vereinen zu sehen, die sich als Image und corporate identity die Tradition selbst gestiftet haben. So redet man sich ein, dass der eigene Verein eine ganz besondere Rolle spielt im Lande. Das ist gewissermaßen ein neurotischer Abwehrmechanismus, der den innerpsychischen Konflikt durch die Abbildung des Verlusts der eigenen sportmännischen Ideale auf andere verlagert. Und weil es ferner dieses Leipzig in dieser Form gibt, kann sich die fremde Anhängerschaft einreden, dass alles noch richtig läuft in der Fußball-Republik, im Land des Dauermeisters, in dem die Dominanz der zwei Großen Überraschungen tilgt, in dem es eine übersichtliche Mittelschicht und zwei Drittel Vereine gibt, die sich bis zum 31. Spieltag im Abstiegskampf befinden. Tradition halt, die sich der Traditionsarmut erwehren muss. Mit einem Feindbild lässt sich die Schieflage als Brauchtum feiern und die Kritik ereifert sich an einer kleinen Erscheinung der modernen Fußballrealität, nicht am ganzen System.

Der RB Leipzig ist das passende Feindbild zur rechten Zeit, um die Megalomanie der gesamten Branche zu kaschieren. So kann man als kapitalismuskritischer Mensch weiterhin dem Großunternehmen zujubeln und kann sich einbilden, dass es nur einige Ausreißer im System gibt, die zufällig oft Red Bull bezahlt.

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... wenn man trotzdem lacht

Dienstag, 24. Mai 2016

»Eine Hure ist eine Frau, die mehr nimmt, als sie gibt. Ein Mann, der mehr nimmt, als er gibt, nennt sich Geschäftsmann.«

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Richtiges Streben im falschen

Montag, 23. Mai 2016

Respekt Pfizer! Für die Todesstrafe gibt sich das Unternehmen nicht mehr her. Keine Geschäfte mehr mit dem Scharfrichter. Ein Pharmakonzern fast ein wenig wie Amnesty International. Pfizer ist bereit Verantwortung zu übernehmen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Anti-Todesstrafen-Movements und Menschenrechtsgruppen begrüßen den Schritt. Das kann man tun. Manchmal fällt auch was Richtiges ab, wenn man was Falsches beabsichtigt. Denn Menschenrechte und Humanismus können eine gute Marketingstrategie sein. Jedenfalls dann, wenn sie wenig kosten oder so gesagt: Wenn sie wenig Nebenkosten oder nur kleine Profiteinbußen mit sich bringen. Dann polieren sie das Image auf und verleihen einer menschenverachtenden Unternehmenspraxis ein bisschen humanistische Aufgeklärtheit und menschelnden Anstrich.

»Pfizer makes its products to enhance and save the lives of the patients we serve«, heißt es als Begründung auf der Website des Unternehmens. Klingt gut, klingt eigentlich folgerichtig für einen Konzern, der Medizin produziert. Das Leben von Patienten verbessern oder sogar Leben retten. Da kann man natürlich nicht an jene liefern, die das Gegenteil dessen anstreben, wenn sie jemanden auf eine Liege schnallen und eine Braunüle legen, um den Tod intravenös zu verabreichen. Das ist nur konsequent. Aber auch nicht ganz so verlustreich. Denn dasselbe Unternehmen hat weniger Sorgen um die Lebenqualität potenzieller Patienten, wenn diese sich die Medizin nicht leisten können. Wie alle Pharmakonzerne hält man die Fertigung kostengünstiger Generika nicht für soziale Verantwortung, sondern für einen künstlichen Eingriff in den Markt, der Gewinnchancen schmälert. Schließlich koste die Forschung ja Unsummen, die könne man zum Beispiel dem schwarzen Kontinent und seinen Krankheiten nicht einfach gratis oder auch nur vergünstigt zur Verfügung stellen.

Was man in Afrika aber tun kann, das sind Feldforschungen im offenen Vollzug. So geschehen Mitte der Neunziger Jahre. Die Tests eines zuvor nicht an Menschen erprobten Antibiotikums, welches das Unternehmens an Nigerianern vollzog, inspirierten John le Carré so sehr, dass er es in seinem Roman »Der ewige Gärtner« verewigte. Fünf von 200 Kindern, die als Probanten dienten, starben damals bei diesen Tests. Weitere erlitten Schäden. Ein wirksames Medikament wurde den kranken Kindern vorenthalten. Das Leben von Patienten verbessern oder sogar Leben retten galt nicht als Leitgedanke. Einige betroffene nigerianische Eltern klagten gegen Pfizer wegen »grausamer, unmenschlicher und herabwürdigender Behandlung«. Später veröffentliche WikiLeaks, dass das Unternehmen den nigerianischen Staatsanwalt unter Druck setzte, um Strafzahlungen zu entgehen.

Rassismus kann man ausschließen. Unternehmen wollen verdienen. Rassismus hemmt nur, grenzt Kundengruppen aus. Ohne Wert sind nicht Dunkelhäutige, sondern Arme. Sie sind keine Patienten, weil sie sich diesen Status finanziell nicht leisten können. Krank zu sein ist ja noch kein Attribut. Man muss sich Medizin kaufen können. Zynisch ist es trotzdem, wenn jetzt Pfizer in der Stellungnahme zum Anti-Todesstrafen-Diskurs so tut, als ginge es um höhere Werte, die das Unternehmen an anderer Stelle ignoriert. Aber wie gesagt, es ist eine Imagekorrektur, ein Aha-Zeichen für alle, die Pfizer für einen Weltverschlechterer hielten. Und die ganze Politur ist recht günstig zu haben, denn wieviele Todestrakte gibt es denn, die bei Pfizer bestellen? Und die bestellten Mengen dürften ohnehin recht übersichtlich sein. Kommt man da auf 500.000 Dollar im Jahr? Zahlen gibt es keine. Aber eindeutig ist wohl, dass ein PR-Berater wesentlich mehr kosten würde als 500.000 Dollar. Mehr als das Doppelte und Dreifache davon. So günstig war Imagebalsam selten.

Trotzdem kann man sich natürlich darüber freuen. Wenn Konzerne die Todesstrafe - und sei es auch nur aus strategischen Gründen - ablehnen, dann ist das für eine Konzernokratie schon bedeutend und vielleicht sogar langfristig prägend. Es gibt eben auch ein richtiges Streben im falschen. Dass aber die Berichterstatter eifrig über die soziale Verantwortung Pfizers berichten, ohne nicht auch einige Strahlen des Schlaglichtes auf die Zurschaustellung eines Menschenrechtbewusstseins zu richten, das aus prestigeträchtigen Gründen als gute Werbung fungiert, lässt einen erstaunt zurück. Willfähriger Journalismus: Das ist die andere Seite billiger Imagekampagnen. Meist noch billiger zu haben als für 500.000 Dollar.

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Die Notdurft der Anderen

Freitag, 20. Mai 2016

Wir leben im totalen Markt. Alles ist Kundschaft und Anbieter. Dass es so ist, sieht man an den alltäglichen Kleinigkeiten. Wenn man zum Beispiel aus Scheiße noch Gold macht, dann hat man selbst die Notdurft marktkonformiert.

Kaum dass ich aus der Redaktion des »neuen deutschland« heraus war, Richtung Ostbahnhof lief, ärgerte ich mich. Vielleicht hätte ich doch noch aufs Klo gehen sollen. Jetzt war es zu spät, der Berlin-Trip ging weiter, uns schwebte der Kurfürstendamm vor. Kaum am Bahnhof Zoo angelangt musste ich aber endgültig austreten. Es gibt Dinge, die sind nicht verhandelbar. Sanifair stand schon bereit und ich zog den Bon meines morgendlichen Sanifair-Besuches am Alexanderplatz aus dem Geldbeutel, sodass ich statt eines Euro nur fünfzig Cent für das Entleeren der Blase blechen musste. Doch es funktionierte nicht. Der Angestellte des Klobetreibers, ein trolliger Berliner, klärte mich auf: »Det jeht bei uns nich, Meister.« Am Bahnhof Zoo sind wohl die Sanifair-Scheine von anderen stillen Örtchen nicht kompatibel. »Da können se sich wat oben für koofen, aber nu müssen se nen Euro hier rinnwerfen«, riet er mir und zeigte auf den Einwurfschlitz. »Großartig«, antwortete ich, »oben kaufe ich mir was zum Trinken und dann muss ich wieder pinkeln.« Der Berliner grinste und scherzte, dass »dat der ewige Kreislauf« sei.

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Die Ikonologie exkludierenden Wohlstandes

Donnerstag, 19. Mai 2016

Vor dem Plakat der Fluglinie stand ein Mann, mehr einer zerschlissenen Vogelscheuche gleichend, nur nicht mit ganz so schäbigen Klamotten. Ein Mittvierziger oder ein Endreißiger, der sich schlecht gehalten hatte. Er betrachtete das Plakat mit stumpfem Blick, Palmen im Hintergrund, Vater, Mutter, Bengel in freudiger Erwartung, »Alle fliegen mit, nur der graue Alltag nicht« steht drüber. »Jetzt buchen!« Es gäbe ja auch Nachlass, »Sichern Sie sich den Frühbucherrabatt!« Der Mann stemmte seine Hände in die Jackentasche. Es war nicht sonderlich kalt, aber seine Körperhaltung war die eines Frierenden, der sich klein macht, sich zusammenkauert, um weniger Angriffsfläche für die Kälte aufzubieten. Nach einem Augenblick richtete er seine Augen wieder auf den Weg, den er gedachte zu gehen. Seine Jacke war fast noch stumpfer als sein Blick, zu dick für die Jahreszeit außerdem, zu allem Überluss hing die rechte Jackentasche zur Hälfte hinunter, seine Hand lugte halb aus der zerfetzten Höhle. Er schlurfte Richtung Discounter, musste vorbei an dem Plakat eines weiteren Reiseanbieters, der Sonne und Erholung versprach. Ob er dort allerdings auch kurz innehielt, vermag ich nun nicht genau zu berichten, denn ich bin ihm nicht gefolgt, musste in eine andere Richtung weiter. So kann ich also nur Mutmassungen anstellen und male mir folgend aus, wie er seinen Weg fortsetzt haben könnte.

Ich kenne die Strecke, die er zurückgelegt haben muss. Wenn nicht an jenem Tag, dann ist er sie wann anders gegangen. Kenne die Plakate, die Angebote, die man auf Passanten einwirken lässt. Auch vor Sonne und Erholung machte er Halt, da bin ich mir sicher, er schien sonst wenig zu tun zu haben. Glotzte die Leinwand an, so zusammengefallen von Kopf bis Fuss, wie es seiner Körpersprache zu entsprechen schien. »Eine Woche für 399 Euro p.P.« Er würde den Systemgastronomen links liegen lassen, »Der Klassiker für nur 2,09 Euro und 47 Prozent sparen!« lesen und nachrechnen. 2,09 Euro, das sind 4,18 D-Mark, - und falls er aus dem Osten kommen sollte - sind das über zwölf Ost-Mark oder eben 100 Öcken Ost, als der Laden schon zusammenfiel, je nachdem, aus welcher Zeit man kommt. Letztlich immer noch teuer, trotz rabattierter Halbierung, würde er sich gedacht haben. Etwas weiter sucht ein Laden seit einigen Wochen eine Hilfskraft, leider nur auf 450-Euro-Basis. Gegenüber suchen sie jemanden für die Kasse, 450-Euro Basis. Würde er die Parallelstraße entlanglaufen, fiele ihm vielleicht ein Schild im Schaufenster einer Autowerkstatt auf, ein optisch hübsch aufbereitetes mit €-Zeichen drauf, »Suchen dringend Mitarbeiter für Büro«, klein gedruckt drunter »auf 450-Euro-Basis«. Nirgends was zu holen.

Plakate. Anschläge. Zalando berechnet kein Porto. Amazon Prime günstig wie nie. Sky schenkt dir zwei Monate. Die Straßenbahn rattert vorbei, sie ist mit Angeboten bestrichen. »Komm ins Spa, Tageskarte ab 25 Euro!« Bestell dein Essen hier, bestell es dort. Jemand erleichtert das Leben seiner Kunden, wirbt damit, dass er dem Kunden eine Box mit den Lebensmitteln bringt, die er zur Zubereitung eines Abendessens benötigt. »Candlelight-Dinner ab 15 Euro pro Person!« Und immer wieder Urlaub, Strand, wogende Wellen, das Glück checkt ein. Warum in die Ferne schweifen, liegt der Mottopark so nah. »Kommen und staunen!« Kinder grinsen, die Eltern sehen verliebt aus, der Opa guckt lüstern vom Plakat herunter. »Übernachtung und Familienticket günstig wie nie!«

Ein Autohersteller wirbt etwas weiter hinten für sein neuestes Modell. Darauf die Karosse und eine blonde Durchschnittsschönheit mit dem Charisma einer Motorhaube. Vage Info: Auch günstig wie nie. »Informieren Sie sich jetzt über unsere attraktiven Leasingangebote!« Wäre der Mann stolzer Besitzer dieses Modells, ihm würden die vielen Plakate und Offerten gar nicht auffallen, er würde diese Angebote aus einer Welt, in der solche Werbeanzeigen auf Interesse stoßen, das es auch bezahlen kann, überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen. Ebensowenig blieben ihm die Reklamesäule kurz dahinter fremd, die Anschläge des städtischen Kulturbetriebes, Konzerte und Stücke, Alice Cooper, der in die Stadt kommt, Billy Joel und wen es da alles noch so als Attraktion gibt. »Karten ab 36 Euro. Jetzt bestellen!« Kultur ist schon was Schönes. Das Schöne, das Gute und das Bare. Ich denke ihn mir als Joel-Kenner: »Well we're living here in Allentown / And they're closing all the factories down / Out in Bethlehem they're killing time.«

Vorbei an der Bank, die ihre Girokonten nur kostenlos anbietet, falls man es monatlich mit mindestens 1.700 Euro verziert. Vorbei an veralteten Wahlplakaten, feixende Politikergesichter, markige Sprüche, »Chancen für alle!«. Vorbei am Bauprojekt, neue Wohnungen, zum Kauf nicht zur Miete, »Für erfolgreiche junge Leute und Familen«, »Vereinbaren Sie mit uns einen Termin«. Zu Füßen des Betonkolosses Plakate, Irland lockt, »Schnäppchen buchen«, das Steakhaus erwartet seine Gäste, »Ein Softgetränk gratis!«, die Postbank berät, Versicherungen versichern »Weil Sie es uns wert sind«, Rundum-Sorglos-Pakete, Handyverträge, Wohlstand, Ausgabemöglichkeiten, Verlockungen, Sehnsüchte, Träume und eine aufgerissene Jackentasche. Tief darin vergraben die Hände. Die Fäuste? Und das nur auf dem Weg zum Einkaufen. Den Fernseher hatte er noch gar nicht an, das Internet noch nicht angeschmissen. Später würde es dort munter weitergehen.

Bis zu einem Drittel der Wähler der AfD sind arbeitslos. Eine unbekannte Größe dieser Wählerschaft arbeitet im Niedriglohnsektor, stockt auf. Diese Leute sind einer Welt ausgesetzt, in der an jeder Ecke die Symbolik eines Wohlstandes prangert, von dem sie ausgeschlossen werden. Sie sind wütend und verdammt nochmal, sie haben ein gutes Recht darauf so eine Wut in sich zu tragen, so wie man sie ökonomisch nicht mehr teilhaben lässt. Täglich begegnet ihnen ein Lebensstil, den sie sich vielleicht mal erhofft haben oder schon mal pflegten, den sie aber aufgeben mussten. Jeden Tag ein neuerlicher Spießrutenlauf, die Erinnerung daran, dass andere anders leben können, sich was leisten, sich das Leben was kosten lassen können. Auch weil wir uns die Armut im Lande nichts mehr kosten lassen wollen. Die Plakatierungen sind ikonologische Ausdrucksformen, aus denen man je nach gesellschaftlicher Herkunft verschiedene Aspekte herauslesen kann. Für die Habenichtse fühlt sich der zur Schau beworbene Reichtum an Möglichkeiten wie Zynismus an. Ja doch, die Wut ist völlig berechtigt. Wenn sie nur nicht die Falschen treffen würde ...

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Nur 1.785 Euro brutto

Mittwoch, 18. Mai 2016

Das war ja wieder mal sensationell, was die Medien kürzlich über Middelhoff berichteten. Der Mann würde jetzt, als Teil seiner Strafe gewissermaßen, für eine Weile in einer Behindertenwerkstatt als Hilfskraft arbeiten. Mit dem Job könne er nämlich bei Haftantritt Freigänger bleiben. Uli H. aus M. las die Nachricht, klappte die Zeitung zu und biss sich umgehend in den Arsch. Wenn er das damals gewusst hätte. An der Meldung sensationalisierte man, dass Middelhoff jetzt für nur noch 1.785 Euro arbeite. Brutto. Und was brutto schon wenig ist, wird netto nicht mehr. So ein bitterlicher Absturz! Gut, das Geld kriegt er eh nicht, dieser Neuarme und Working Poor, weil er damit seine Privatinsolvenz finanziert. Aber darum geht es gar nicht. Es geht um etwas anders: Man spricht von Strafe und geringem Einkommen und vermeldet eine Schlagzeile. Dabei sollte anderes Schlagzeilen machen.

Nämlich der Umstand, dass es in diesem Land des viel zu gut organisierten Niedriglohnsektors ganz viele gibt, die für 1.785 Euro Bruttolohn schuften müssen. In Vollzeit. Oft richtig schwer, mit körperlicher Abnutzung und nachhaltiger Schädigung und durch Verbrauch bedingten verfrühten Renteneintritt nebst Abzügen. Nicht selten arbeiten Menschen in diesem Land Tag für Tag auch für noch weniger Lohn. Und keine Zeitung käme auf die Idee, diese Unterbezahlung als Teil oder wenigstens Folge von Bestrafung zu betrachten. Nein, da ist es eben wie es ist. Ist es ja auch gewollt. Da gibt man denen ein Forum, die für weitere Lohnzurückhaltung werben und Streiks kriminalisieren. Klar, diese Leute fallen ja auch nicht so tief wie Middelhoff, haben nie mit Milliarden jongliert, nie eine Villa und einen Pool besessen. Was die Sache nicht besser, was die Sache eigentlich nur noch viel schlimmer macht.

Indirekt sagte man mit den Berichten von Middelhoffs Beschäftigung für kleines Geld, dass viele Menschen in Deutschland bestraft sind. Wie der Ex-Manager eben bestraft wurde und nun so einen Job tun muss. Sie sind aber nicht in dieser Weise bestraft, damit sie Freigang erhalten. Freien Auslauf haben sie. Und meiden ihn. Denn der Auslauf ist teuer, wenn man ihn dort macht, wo Angebote verführen könnten. Das soziale Leben, so künden seit vielen Jahren Soziologen, kommt ins Stottern, wenn man es sich nicht leisten kann. Man geht zur Arbeit und zurück in den heimischen Bunker, meidet Beschäftigungen, die ins Geld gehen könnten. Aber das ist Realität ohne Bestrafung, über die kaum noch einer spricht, für die kaum noch jemand Antworten parat hat. Ein Teil der Antworten könnten ja auch 0,1 Prozent der Bevölkerung verunsichern.

Denn wir müssten von Umverteilung sprechen. Von Partizipation und selbstbewussteren Gewerkschaften, vom Ende der Austerität im Arbeitsalltag, von höherer Besteuerung der Gewinne, von Arbeitsplatzschaffung und Vermögensabgaben. Lauter so Dinge, die man antworten müsste, wenn jemand 1.785 Euro Bruttolohn zu einer Strafe erklärte. Solange man dieses kleine Sümmchen aber nur als Aspekt der Bestrafung eines Krösus betrachtet, geht es noch. Damit kann man umgehen. Die Altenpflegerin aber, die soll nicht denken, dass sie damit gestraft wäre. Sonst käme sie auf dumme Ideen, wird widerspenstig. Nein, denen reden wir ein, dass das Jobwunder fruchtet. Nachhaltig. Tadellos. Und ohne Unterlass.

Dass der tiefe Fall des Middelhoff nur bewirkt, dass da einer aus den nett entlohnten Funktionseliten in stinknormale Sphären katapultiert wird, kommt uns Gesellschaft eingestellter Neiddebatten gar nicht mehr in den Sinn. Dass man damit letztlich indirekt zugab, dass die Mächtigen nur zu gerne strafen, wenn sie Menschen in niedrige Bezahlung einstellen, weil sie es selbst als Strafung betrachten, entzieht sich unserer Logik, die man über Jahre durch jegliches Abwiegeln von Umverteilungsfragen zersetzt hat. Armer Middelhoff, bedauern sie ihn dann ein bisschen, so ein Absturz, so wenig Lohn, den er noch nicht mal auf sein Konto kriegt. Dann klappen sie die Zeitung zu, nehmen das Tablett entgegen, das die Kassiererin von McDonalds an den Tisch bringt, weil der Chickenburger noch nicht fertig war und mosern. Wo das Essen bleibe, wie langsam die Frau laufe, wo man sich beschweren könne, man raunzt herum und mäkelt und lässt das Arschloch raushängen. Der Bruttolohn der Kassiererin beträgt nicht mal 1.500 Euro. Inklusive Zulagen. Selbst schuld, sie hätte ja was Anständiges lernen können. So jemand ist nicht gestraft, er gehört bestraft ...

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Die Schwatten und der Sichma

Dienstag, 17. Mai 2016

Stand: September 2015 © DBT
Wieso machen es die Sozialdemokraten denn noch mit den Schwatten? Das fragte Susanne Neumann letzte Woche den Parteivorsitzenden eben dieser Sozialdemokraten. Das Publikum tobte, Gabriel grinste zunächst und setzte dann behäbig zur Erklärung an, deren Kern es letztlich war, auf die realpolitischen Verhältnisse anzuspielen. Wenn man mit den Schwatten nämlich nicht koaliert hätte, gäbe es viele Entwicklungen nicht. Ginge man jetzt raus aus der Koalition, so gäbe es höchstwahrscheinlich sogar eine Rente ab 70, so wie es der Union vorschwebt. »Was soll ich also machen?«, fragte Gabriel Neumann. Sie wich aus, antwortete authentisch »Wenn ne Reinigungskraft dir dat sagen könnte, wie du dat hinkriegst...« und der Saal wieherte abermals. Eine politisch nüchterne Antwort blieb sie somit leider schuldig. Das ist ja auch nicht ihr Metier. Wäre es das, so hätte sie antworten können: »Sachma Sichma, warum unterschlägst du eigentlich die andere Hälfte der Wahrheit?«

Gabriel hat der Frau und den Zuschauern nämlich ein Märchen aufgetischt. Das sozialdemokratische Narrativ von 2013 aufgewärmt gewissermaßen. Das lautete, dass die SPD nach der letzten Bundestagswahl lange mit sich rang, einen Mitgliederentscheid einleitete und sich so mit Bauchschmerzen mit der Union zusammentat, um der in der Koalition die Pistole auf die Brust setzen zu können. Der Mindestlohn sei zum Beispiel ein Produkt der Bereitschaft der Sozis für eine Neuauflage der Großen Koalition gewesen. Was aber immer fehlt, wenn führende Sozialdemokraten von diesem Pragmatismus berichten: Die Machtoption lag nach dem Wahlabend im September 2013 auf dem Tisch. Man hätte sich nicht als Juniorpartner verdingen müssen. Man hätte Seniorpartner sein können. Alles das, was die Sozialdemokraten der Union abgerungen haben, wäre auch anders und wahrscheinlich gerechter und sozialer machbar gewesen. Wenn die Parteiführung das gewollt hätte wohlgemerkt. Sie wollte aber nicht, ließ die strukturelle linke Mehrheit rechts liegen und gab einer rot-rot-grünen Option keine Chance.

Daher ist es völlig verfehlt, wenn Gabriel jetzt eine engagierte Reinigungskraft mit solchen »realpolitischen Gegebenheiten« kleinzureden versucht. Er ist bei den Schwatten, weil er es so wollte und er seine Basis in die schwarze Ecke salbaderte. Alles stand im September 2013 offen. 320 zu 310 Sitze im Bundestag wären es gewesen. Keine satte Mehrheit, aber doch eine Mehrheit. Den Mindestlohn, diese der Union schwer abgepresste Reform für 8,50 die Stunde, gäbe es unter einer rot-rot-grünen Regierung auch. Nur höher. Wir erinnern uns: Die Sozialdemokraten sahen die linke Forderung nach einen Mindestlohn von zehn Euro als maßgeblichen Grund dafür, eben nicht mit ihnen zu koalieren. Das hat Gabriel Frau Neumann unfreundlicherweise nicht gesagt. Er hat von Verantwortung gegenüber den kleinen Malochern und Arbeitslosen gesprochen, aber mal schnell vergessen, dass er damals viel verantwortungsvoller hätte entscheiden können, wenn er nicht a priori ausgeschlossen hätte, mit den Linken zu verhandeln.

Wie gesagt, was der Mann da präsentierte ist das Narrativ der aktuellen Sozialdemokratie. Das erzählt davon, wie die Genossen in die Rolle mutiger Opfer getreten sind damals. »Wir hatten keine Alternative, Leute«, sagen sie dann mit leidender Miene, »aber wir haben das Beste herausgeholt. Und wenn wir damals nicht zugegriffen hätten, wären wir heute in der Opposition und ohne Macht- und Handlungsoption.« Letzterer Ausflucht ist nicht verifizierbar, denn hätte man nicht mit der Union koaliert, wäre auch diese ohne Mehrheit geblieben und eine handlungsfähige Regierung hätte es nicht gegeben. Im schlimmsten Fall wären Neuwahlen herausgekommen. Mit offenen Ergebnis.

Narrative sind ja historische Normalität. Sie kommen in jeder Epoche vor. Die mannigfachen und unüberschaubaren Dynamiken, die sozio-historische Entwicklungen so an sich haben, werden vereinfacht, sie werden verkürzt und verknappt. Das erlaubt ein schnelles Erzählen von Geschichte. Tilgt den Firlefanz, die schwierigen, aber auch unangenehmen Passagen, die die Erzählung lähmen. Man sollte immer daran erinnern, wenn Geschichtenerzähler auftreten, die die Geschichte simplifizieren wollen, weil es dann so viel einfacher ist sie zu erzählen. Nein, Sichma, so simpel war die ganze Chose eben nicht. Sie war komplizierter. Ihr habt nur den einfacheren Weg gewählt. Es ist die Erfindung der postschröderianischen Sozialdemokratie unter Gabriel, keine Alternative gehabt und trotzdem unglaubliche Reformesleistungen gewuppt zu haben. Ein gut erzählbares Märchen nur, dass von Pest und Cholera kündet, aber die Aussicht auf medizinische Hilfe verschweigt.

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Aus fremder Feder

Montag, 16. Mai 2016

»1914 führte Ford den Achtstundentag und die Vierzigstundenwoche ein und verdoppelte den Durchschnittslohn auf fünf Dollar am Tag, was oft als Akt revolutionärer Großzügigkeit dargestellt wird. In Wirklichkeit waren kostspielige Verluste aufgrund hoher Arbeitskräftefluktuation dafür verantwortlich - atemberaubende 370 Prozent im Jahr 1913. Zur selben Zeit gründete Ford seine berüchtigte »Soziologische Abteilung« und stellte etwa 200 Inspektoren ein, die berechtigt waren, jeden Aspekt des Privatlebens der Angestellten unter die Lupe zu nehmen: ihre Ernährung, Hygiene, Religion, persönliche Finanzen, Freizeitaktivitäten und Moral. Zu Fords Belegschaft zählten viele Einwanderer - zu manchen Zeiten stammten bis zu zwei Drittel seiner Angestellten aus dem Ausland -, und da Ford den aufrichtigen Wunsch hatte, ihnen dabei zu helfen, ein gesünderes, erfüllteres Leben zu führen, war seine soziologische Einmischung keineswegs eine ausschließlich schlechte Sache. Allerdings hatte fast nichts von dem, was Henry Ford tat, nicht auch negative Seiten, und die Soziologische Abteilung hatte ohne Zweifel eine totalitäre Färbung. Ford-Angestellten konnte es passieren, dass sie aufgefordert wurden, ihr Haus zu putzen, in ihrem Garten Ordnung zu schaffen, in einem amerikanischen Bett zu schlafen, mehr Geld auf die Seite zu legen, ihr Sexualverhalten zu ändern oder irgendeine andere Praktik aufzugeben, die ein Ford-Inspektor ans »nachteilig für die körperliche Verfassung oder die moralischen Prinzipien« erachtete.«
- Bill Bryson, »Sommer 1927« -

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Lenin, Marcuse, Ramelow

Freitag, 13. Mai 2016

Eine kurze Abhandlung über die radikale Vermessenheit linker Genossen.

Ramelow hat also einen aus der AfD verteidigt, ist ausgerastet, hat sich gegen die Linke gestellt. Nicht gegen die, die als Partei diesen Namen trägt und von der er einen Mitgliedsausweis besitzt, sondern halt die Linke, die so undefinierbar als geschlossene Masse als Spektrum politischer Meinung existiert. Explizit gegen die Antifa halt. Gegen deren Praxis. Man hat von linker Seite dem Herrn Ministerpräsidenten einen Irrtum nachgesagt, eine Verfehlung, ihn teilsweise zum Alliierten des unsäglichen Herrn Höcke gemacht. Aber eines ist völlig klar dieser Tage: Will man jemals noch eine strukturelle Linke an den Schalthebeln der republikanischen Macht haben, dann benötigt man nicht nur eine gewandelte Sozialdemokratie, die eben jenen Namen verdient. Man braucht auch eine Linkspartei, die sich nicht mit Radikalen und politischen Halbdebilen schmückt. Wie sonst könnte man sonst je für voll genommen werden?

Habermas verhaspelte sich ein wenig, als er vor vielen Jahren von Linksfaschismus sprach und genau solche Verhaltensmuster meinte, wie sie die Antifa zuweilen an den Tag legt. Später hat er es ja auch zurückgenommen, ihn im hypothetischen Vergleich verwendet wissen wollen. Als »rote SA« sollte man sich diese Leute nicht denken, solche Titulierungen münden in eine falsche Sichtweise. Der Faschismus hat völlig andere Motive, andere Grundlagen und Muster. Ein kurzer Blick auf die Methoden lassen jedoch kurzzeitig wirklich den Eindruck entstehen, da seien Brüder und Schwestern im faschistischen Geiste am Werk. Nichts wäre so falsch wie diese Annahme. Das heißt aber nicht, dass Antifa und Gesinnungsterroristen, Sektierer und Hardliner, wie auch immer man sie nennen mag, damit entschuldigt werden. Eben nicht. Gerade weil sie keine Faschisten sind, weil sie im Namen einer demokratischen Gesittung ihren teils apolitischen, teils politischen verqueren Unfug treiben, sind bei ihnen ganz andere Maßstäbe anzulegen. Der Faschist ist stolz darauf, dass er auf die Demokratie pfeift. Die Leute im schwarzen Pulli machen stolz in Sachen demokratischer Gesinnung. Also sollten sie mit dieser Erwartungshaltung auch ans Werk gehen.

Die Leute - aber auch all die anderen sich radikal gebende Linken -, die Ramelow letzthin empörten, werfen dem Mann seit geraumer Zeit vor, dass er bloß linker Realpolitiker sei, wo es doch gerade jetzt darum gehe, als Fundi die Lebensverhältnisse politisch auf den Kopf zu stellen. Aus der überheblichen Warte kommentieren sie jeden Schritt als neoliberales Agententum, an dem er und andere seiner Sorte die Partei zerbrechen lassen. Weil sie halt - einfach gesagt - das Mögliche versuchen und nicht das Aussichtslose riskieren. Sie bewegten sich im System und würden nicht - wie sie - aus ihm austreten. Leider merken diese Leute oft gar nicht, dass sie sich selbst was vormachen. Herbert Marcuse bezeichnete diese Selbsttäuschung als »repressive Entsublimierung«. Gemeint war damit eine Art »ohnmächtige Rebellion«, die einem suggeriert, man stehe außerhalb des Systems, während man ganz selbstverständlich Teil desselbigen ist. »Man denkt, man rebelliere«, schreibt Kimmel zu dieser These, »wenn man Jazz oder Punkrock oder zornige Rapmusik hört, eine Menge Sex hat, jede Menge Alkohol trinkt und seine Wut über das repressive System laut hinausschreit. Dabei tut man sich mit anderen, die dasselbe tun, in einer spontanen Gemeinschaft zusammen. Und nachdem man gemeinsam entsublimiert hat, geht man wieder zurück an die Arbeit - als fügsamer, frisch abreagierter Packesel, der tut, was das System von ihm verlangt, weil er innerhalb des Systems Dampf ablassen kann.«

Genau das muss man der Antifa und ähnlichen Gruppen und Einzelpersonen zum Vorwurf machen. Sie machen nicht nur sich selbst was vor, sondern diktieren der politisch organisierten Linken auch gleich noch, wie es richtig ginge mit der gelebten Systemkritik. Sie versammeln sich, protestieren aus Gründen, die man juristisch gesprochen aus Mangel an öffentlichen Interesse vernachlässigen könnte, machen jede andere Ansicht nieder und suchen jetzt auch die Privatunterkünfte politischer Gegner auf. Weil so einer hat es ja verdient. Darf keine Privatsphäre haben. Muss bis vor die Haustüre gezeigt bekommen, wo der Hammer hängt. Höcke ist zweifellos ein Ekel. Aber auch Ekel haben für demokratische Linke Bürgerrechte, die zu wahren dringend notwendig ist.

Exkurs über ein blendend verblendetes Beispiel: Eine dauerempörte Frankfurterin von lokaler Bekanntheit, keinen Namen an dieser Stelle, die neulich mal wieder zum Protest aufrief, weil er privater Museumsbesitzer via Twitter xenophobe Statements postete. Die Stadt hatte daraufhin die Zusammenarbeit mit dem privaten Museum aufgekündigt, Förderer und Sponsoren haben dasselbe getan. Selbst das Land Hessen entzog der Einrichtung den Sonderstatus. Alles was machbar war, ist geschehen. Entlassen konnte man ihn ja nicht, der Laden gehört dem Mann, nicht der Stadt. Aber die Dame rief einige verirrte Seelen auf, dem Mann einzuheizen. Weil das ja unglaublich wichtig sei, um ein Zeichen zu setzen und so - aber die Zeichen waren doch schon gesetzt. Trotzdem. Man entsublimiert so gerne. Die Frau berichtete überhaupt ständig von ihrer Systemgegnerschaft in den Netzwerken. Alles Faschos. Die Neonazis und alle, die nicht spuren. Auch Nicht-Nazis, die nicht gleich demonstrieren, wenn sie es für richtig befindet. Und wenn die Polizei eine ordentlich angemeldete Demo von Glatzköpfen garantiert (Stichwort: demokratisches Grundrecht), dann sind die Beamten eben Nazifreunde, obgleich da auch Beamte mit türkischen Wurzeln ihren Dienst tun. Nein, die Polizei bekleckert sich nicht mit Ruhm, wie wir wissen. Aber den Kampf gegen »Bullenschweine« als glorreiche Tat gegen das System zu verkaufen, das ist ein politisch sinnbefreiter Ansatz. Man kann das ebenso wenig ernstnehmen, wie ihre wöchentlich zwei-, dreimal stattfindenden Aufrufe, irgendwelche Zeichen zu setzen, zu erscheinen und Front zu machen. Geschieht etwas in der Welt, läuft ihre Maschinerie an. Betroffenheits- und Protestmanufaktur. Maß und Ziel? Wer fragt in diesen Reihen noch danach?

Machen wir uns mal als Linke unter Linken nichts vor, wir stecken in der Krise. Auch welchen solchen Touren. Wegen Engstirnigkeit und fehlender Gelassenheit. Weil im Eifer des Gefechts zelotische Grundhaltungen zur Ansicht kommen, die bei der Masse nicht gerade attraktiv wirken, sondern eher abschrecken. Leute, die linke politische Ansichten missionieren und mit Gift und Galle exekutieren, manövrieren dringend notwendige linke Politik in die Unmöglichkeit. Gemeinhin notiert man, dass die Zeiten roher geworden sind. Pegida und AfD sind Indizien dafür. Aber was sich da links tummelt, was da politische Gegner wie »Artverwandte« abkanzelt und ditfurthisiert, das ist auch so ein Symptom einer Ära, die durch und durch verroht. Neulich liefen mir in einem sozialen Netzwerk Leute mit linker Haltung über den Weg, die Schäuble einen brennenden Rollstuhl mit den Worten »Verrecke, du Arschloch!« wünschten. Rechtsruck ist ebenfalls, wenn nicht nur Rechte punkten und die Mitte mit deren Hass liebäugelt, sondern wenn Linke inhaltlich und von ihren Methoden rechts von der demokratischen Grundidee abbiegen und die auf die demokratische Kultur schnäuzen.

Dabei hat sich Ramelow durchaus leninistisch gezeigt. Lenin hatten den »linken Radikalismus« einst als »Kinderkrankheit des Kommunismus« bezeichnet und ihm sogar eine Schrift gewidmet. Er rief dazu auf, den Voluntarismus und die Abschottung von den Massen zu unterlassen, will man die politische Realität verändern. Mehrheitsfähig würde man nicht mit Methoden dieser linken Radikalität, sondern durch aktive Mitarbeit auch dort, wo noch reaktionäre Kräfte walteten. Nicht, dass Lenin jetzt noch eine Ikone für die moderne Linke wäre, aber ausgerechnet diese linken Fundis erstarren ja bei den altvorderen Namen längst vergessener linker Tage gerne in eine gewisse Ehrfurcht. Unberechtigt, wie man sieht. Nun scheint diese Radikalhaltung keine Kinderkrankheit linker Bewegungen geblieben zu sein, denn sie hat eine gewisse Adoleszenz durchwandert. Immer noch linker, noch radikaler, noch revolutionärer zu sein, das scheint ein Proletariersport für Leute, die sich entsublimiert in Wünsche versteigen, nicht in Machbarkeiten.

Es war notwendig, dass Ramelow da Grenzen aufgezeigt hat. Denn was wir benötigen, das ist eine seriöse Linke, die sich nicht in Wolkenkuckucksheimen einen neuen Menschentypus zusammenshitstormt, sondern engagiert dort auftritt, wo sich die Grundlagen jeder sozio-kulturellen Reform erstrecken: In wirtschaftlichen Fragen, bei der Verteilung, in den materiellen Verhältnissen also, die letztlich als ideelen Ausdruck die herrschenden Gedanken erzeugen. So sah Marx das, steht es im Header dieses Weblogs und jeder linke Realo wird es wohl beherzigen. Davon bald mehr, genug für heute.

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Die Entdeckung der Langsamkeit

Sonntag, 8. Mai 2016

Kurze Pause. Für einige Tage geht es weg, ad sinistram ruht bis Freitag in Frieden. Ich sehe mich verpflichtet, meine Leserschaft darüber in Kenntnis zu setzen. Jetzt weiß sie es. Die Pause soll zur Erholung gereichen. Verpassen werde ich nicht viel, nicht weil nichts passieren wird. Doch, es wird viel passieren. Derzeit gibt sich das Dilemma ja täglich die Ehre. Man weiß gar nicht, wo man hinschauen soll, überall tönt die Agonie eines Systems ohne Notausgänge, gibt sich als Sparzwang und als Korruption zu erkennen, als verlogene Mechanik innerhalb eines demokratischen Systems, das eigentlich mal eine Hoffnung für ehrlicheren Umgang barg, jetzt aber das krasse Gegenteil davon ist. Die White Pride sagt laut und mit rammsteiniger Timbre Good Night. Sie will es nicht wahrhaben. Zeitenwandel eben, Wohlstand für wenige, Bildung auch. Ein intelligibeler Trauermarsch.

Nein, ich werde nichts verpassen, auch wenn ich alles verpasse, weil ich mir in letzter Zeit etwas selbst versprochen habe: Nämlich nicht gleich in jedes Horn zu blasen, was die Massenmedien uns hinhalten. In den letzten Monaten fiel mir eklatant auf, dass die Hysterie nach Ereignissen (jeder nur denkbaren Art und Form) ein unsägliches Stimmengewirr verursacht hat. Für mich fühlt es sich an, als sei es nie schlimmer gewesen. Böhmermann war der Abschuss. Silvester war schon schlimm. Möglich ist aber, dass es heute nicht anders ist als vorher. Unterschied ist wahrscheinlich nur, dass ich seit weit über einem Jahr keine mehr oder sehr sehr unregelmäßig Massenmedien konsumiere. Die Gründe waren erzwungen. Letztlich war es süßer Zwang, ich wusste es seinerzeit nur noch nicht. Diese Einsicht kam erst im Verlauf dessen. Ziemlich sicher ist wohl, dass jeder Erleuchtete in der Geschichte, immer erst erleuchtet wurde, nachdem er keine Wahl mehr hatte. Aber das ist eine komplett andere Sache.

Hin und wieder schalte ich mal auf die Äther, die unsere Gesellschaft informieren und shitstormen, mittlerweile habe ich diese Möglichkeit wieder. Jedesmal schalte ich nach kurzen Intermezzi gleich wieder weg. Das kalte Kotzen fällt mich an wie ein tollwütiger Hund, die Ruhe im Sturm ist mir da lieber. Ich brauche keine minutiöse Berichterstattung. Auch nicht, wenn Terroristen an die Pforten des Westens klopfen. Es reicht, ein, zwei Tage später darüber zu lesen. Qualität ist mir wichtiger als Quantität. Ich trinke auch lieber fränkisches Bier als den Siff aus der Discounter-Dose. Mit beinahe 38 Jahren bin ich mir das wert.

Was ich mir versprochen habe ist, dass ich da nicht mit einstimme. Meine Agenda bei ad sinistram bestimme ich selbst. Mit zeitlichem Abstand werde ich was dazu sagen. Da kann man besser reflektieren. Früher habe ich auch topaktuell gebloggt. Meistens waren die Texte ziemliche Scheiße, die ich zwei Tage später so nicht mehr publiziert hätte. Auch mit zeitlichem Abstand kann man in eben jene Scheiße greifen, aber ich bilde mir ein, dass das Risiko geringer ist. Deswegen habe ich ewig nichts zu Silvester und diesen Herrn Böhmermann geschrieben, einfach zugewartet. Es war nicht nötig, die anderen hatten alles gesagt. Nur nicht das, was ich dazu sagen wollte. Und wenn ich es dann sagen würde, während alle sprechen, hörte mich ja keiner. So warte ich ab, bis es leiser wird und sage dann das in die Stille hinein, was dann auch keinen juckt. Entschleunigung eben.

Die Welt ändert sich eben in keiner Weise, ob man seinen Blickwinkel sofort, soforter oder am sofortesten hinausplärrt in die Netzwerke, die die Welt deuten. Oder ob man sich Zeit lässt und später nochmal leise was vor sich hin faselt. Man kann es auch in aller Langsamkeit entdecken. Slow Food schmeckt nicht immer besser, aber es vermittelt einem doch die Perzeption, dass man sich ein wenig Zeitaufwand und Einsatz wert ist. Also kann ich auch urlauben, die Finger stillhalten. Falls in Merkels Hosenanzug Crystal Meth gefunden wurde oder ein AfDler heimlich zum Islam konvertierte, kann ich das auch noch in zwei Wochen thematisieren. Klar, man wird mir den Text dann nicht mehr aus der Hand reißen, aber Zugriffszahlen, was sind schon Zugriffszahlen, wenn man von ihnen lebt, die Rechnungen davon bezahlt und an ihrem Tiefstand Pleite geht? Aber gut, zwei Wochen bin ich ja auch nicht weg. Nur bis Freitag.

Falls der geneigte Leser will, darf er »ad sinistram« natürlich unterstützen. Der mir nicht geneigte Leser, der Troll oder sonstwer, darf natürlich auch. Das geht für Geneigte und Abgeneigte entweder per Paypal (siehe rechte Seitenleiste) oder über den gewöhnlichen Bankweg. Meine Kontodaten teile ich auf Nachfrage jedem mit. Herzlichen Dank möchte ich an dieser Stelle mal wieder an alle richten, die mich seit langem unterstützen. Danke auch an alle, die dies künftig tun wollen. Und an die, die mich nicht mögen. Ich liebe ... ich liebe doch alle ... alle Menschen.

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Arme Kinder und das Kindes-besserer-Eltern-Wohl

Freitag, 6. Mai 2016

Das Kindeswohl ist ein staatlicher Auftrag. Und ein stattlicher noch dazu. Aber wie es scheint, ist es nicht mehr umsetzbar zu Zeiten einer Sozialgesetzgebung, da man solche Aufträge klassistisch motiviert ad absurdum führt.

Kinder aus so genannten Hartz-IV-Familien haben es gemeinhin nicht sonderlich leicht. Sie müssen materielle Entbehrungen in Kauf nehmen, Klassenfahrten werden zur Nabelschau der familiären Verhältnisse, um etwaige Zuschüsse zu erhalten - und vom Spott der Klassenkameraden, wenn die erfahren, dass man aus einem Haushalt stammt, der Stütze bezieht, braucht man gar nicht erst zu reden. Die Armut per Sozialgesetz, die über Jahre zu einem Narrativ persönlichen Makels und Versagens der Leistungsberechtigten ausgebaut wurde, ist kein attraktives Aushängeschild, mit dem man auf Schulhöfen wirbt. Und so wurde manche unbeschwerte Kindheit schon von Hartz IV gekappt, verunmöglicht und im Keim erstickt. Materiell war das Kindeswohl immer leicht angegriffen. Manche kleine Psyche litt als Folge an der Situation und am Umgang damit. Nichtsdestotrotz soll es »Hartz-IV-Kindern« nach neuesten Plänen noch schwieriger gemacht werden.

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Hinterm Schreibtisch

Mittwoch, 4. Mai 2016

Sie blickten mit Verachtung auf uns. Die, die gut angezogen zur Arbeit kamen. Wir stanken, steckten in blauen oder grauen Arbeitshosen, trugen ölige Hemden mit Löchern, lehnten uns in den Dreck, wenn wir Teile vermessen oder aus der Spannvorrichtung holen mussten. Außerdem schwitzten wir, der Maschinenpark heizte die Werkshallen auf. Im Sommer stiegen die Temperaturen ins Unermessliche. Klar, wer konnte dieses Heer der Elenden schon schätzen, schon gleichberechtigt betrachten wollen gegenüber denen, die aus klimatisierten Büroräumen hinabstiegen in die Schattenwelt der Produktion? Wir waren alle Facharbeiter, die anderen wohl mehr als ich, denn mir fehlte die Erfahrung, hatte kürzlich erst meine Lehre beendet. Aber das Know-How spielte keine Rolle, wir mit den schwarzen Händen, waren die Gruppe, die man bei denen mit gewaschenen Händen und weißem Kragen nicht besonders hoch ansah.

Damals wurde ich etwas empfindlich. Im Radio schwätzten sie dauernd von der Sommerhitze und wie die verehrten Hörer in ihren Büros leiden mussten. Vielleicht wäre der Chef ja ein guter Mann und würde die Belegschaft früher vom Schreibtisch an den Badesee lassen. Dieser weltfremde Quatsch wollte den Menschen weismachen, dass mittlerweile alle saubere Jobs in einem ausgefegten und gut belichteten Raum hatten. Die Stinkerbrigaden, die in Kellerlöchern, Hallen und Schächten ihr Geld verdienen mussten, kamen schon gar nicht mehr vor, gerade so, als gäbe sie es gar nicht mehr in der schönen neuen Arbeitswelt.

Ich komme jetzt darauf, weil neulich eine Handvoll Politiker thematisch umschwenkte. Nachdem man vor einigen Jahren hörte, dass Deutschland an zu vielen Feiertagen erkrankt sei, jetzt mal das Gegenteil davon: Feiertage, die auf einen Sonntag fallen, die sollen nachgeholt werden. Der »Stern« berichtete darüber wie andere Qualitätsmedien auch. Man pflanzte ein Bild über den Text und schrieb darunter: »Wenn Feiertage auf einen Sonntag fallen, sind angestellte Büromenschen gekniffen.« So, die Büromenschen also. Die gekniffene Klasse. Und die anderen, die einen Beruf haben, bei dem man sich nicht vor der Arbeit duscht statt danach? Man muss natürlich nicht davon ausgehen, dass man in der Redaktion annehmen würde, dass solche Regelungen nur für den Büromenschen gelten sollten. Aber man muss erkennen, dass man heute in bestimmten Kreisen, überhaupt nicht mehr weiß, dass Arbeit auch schmutzig, stinkend und Blut, Schweiß und Tränen bedeuten kann.

Das Portfolio unserer Gesellschaft ist auf Hochglanzpapier gedruckt. Alles was ekelt, das blendet man aus. Wer heute eine Broschüre eines Pflegedienstes bemüht, erblickt adrette Damen im hellen Hemdblüschen, die an einem Schreibtisch hocken. Sie lächeln und glotzen entspannt auf einen Bildschirm. Es sieht aus, als drückten sie Buttons und die Pflege machte sich von alleine. Dort wo die zu verrichtende Arbeit getan wird, gucken wir weg. Hinterm Schreibtisch wirkt all die Arbeit erträglicher. Hinterm Schreibtisch kann man den Schmutz, der bei der körperlichen Arbeit anfällt, einfach mal liegelassen. Die hinterm Schreibtisch sehen netter aus, weniger abgekämpft, sind oft wortgewandter. Ja, mit denen ist der Hochglanz zu simulieren. Mit schwitzenden Pflegekräften, die halb krumm gehen, weil ihr Rücken zwickt, bedruckt man keine Broschüren. Sonst möchte man ja glatt die Pflegekraft pflegen, wenn man ein zu verweichlichtes Herz besitzt.

Natürlich brauchen wir auch die Büromenschen. Aber sie sind eben keine Büroherrenmenschen. Ohne die, die dorthin gehen, wo es körperlich schmerzt, hilft alles abrechnen, einlesen, abtippen, faxen, mailen und Termin vereinbaren gar nichts. Das kann man zwar alles machen, aber so ganz ohne Sinn. Produktiv ist man hinterm Schreibtisch wie davor. Aber ohne die, die an keinem Schreibtisch schuften, ist es hinterm Schreibtisch ein sinnloser Zeitvertreib. Produktiv wird es erst, wenn jemanden was hergestellt, eine Leistung erbracht, was gekocht, etwas gefräst und geschliffen hat. Manche duschen eben vor dem Job, die anderen danach. Die, die es danach tun, stellen etwas her auch ohne die Davorduscher. Andersherum wird es witzig, aber nicht wertschöpferisch.

Diese Haltung, dass man das Büro zur guten Stube der Arbeitswelt macht, die Werkstätte vergisst, ist noch so eine Nachwirkung von diesen Leuchten, die uns mal was von der absoluten Dienstleistungsgesellschaft erzählten. Sie haben den Eindruck entstehen lassen, dass Arbeit heute bedeuten würde, einfach mal auf die Return-Taste zu kloppen. Dann ginge es von alleine. Dass aber Arbeit getan werden muss, dass jemand die Energien seines Körpers in Herstellung und Kreativität umwandeln muss, das hat sich nicht geändert. Wird sich auch nicht ändern. Daher ist die arbeitsteilige Gesellschaft, egal wie man es dreht und wendet und ideologisch auflädt, letztlich auch noch in drei Jahrzehnten Realität. Und das nicht nur hinterm Schreibtisch.

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From Heiko with Love

Dienstag, 3. Mai 2016

Die Schauspielerin und der Minister. Davon las man kürzlich eine ganze Menge. Endlich sprach sie über ihre Liebe zu und über ihn. Wie sie sich fanden, lieben und so weiter. Man kann im Grunde nichts Neues über Liebe berichten oder schreiben, jedes Gedicht ist zum Scheitern verurteilt, weil schon mal irgendwo irgendwie von irgendwem dasselbe notiert wurde. Jeder Roman ein Abklatsch. Was je über Liebe zu sagen war, die Menschheit hat es bereits gesagt und archiviert. Insofern ist die Liebe der beiden so langweilig wie alle verliebten Paare für Außenstehende von langweiliger Natur sind. Über was man aber weiterhin etwas sagen kann, ohne dass es gleich in den Kitsch abgleitet: Minister sollten ihre Liebschaften mal schön aus der Presse halten. Es ist unerträglich, wenn sie mit ihrer Liebsten im Sinnenrausch und im Pool planschen, während andere zu Opfern ihrer ministerialen Entscheidungen und ihres Versagens werden.

So war es ja damals mit jenem Verteidigungsminister Scharping, der mit seiner gräflichen Liebschaft ins Wasser stieg, sich im Pool fläzte, während die Bundeswehr die Interessen der Bundesrepublik noch nicht ganz am Hindukusch verteidigte, jedenfalls aber zur Angriffsarmee eben nicht auf eigenem Boden wurde. Der Herr Minister amüsierte sich, ließ es sich gut gehen, genoss die Liebe. Eigentlich ja nichts Schlimmes, sogar was Schönes, so zwei verliebte Tölpel, die die Welt mit ihrer lieblichen Exklusivgesellschaft langweilen und sich auch ein wenig lächerlich machen. Das Problem ist halt nur, dass man sich als Minister keine dieser amourösen Zweisamkeitsexklusivitäten, die die grauenhafte Welt ausschließt, leisten kann. Schon gar nicht, wenn die Politik, für die man ministerial steht, anderen liebevolle Zweisamkeiten nicht erlaubt. Wie damals, als es brannte und der Minister mit seiner neuen Frau ins Wasser stieg, als würde er so alle Brände löschen können, so ganz bis zum Hals im Wasser.

Das kostete ihm letztlich das Amt. Soldaten in Kriege schicken und sich selbst auf Erholung mit der Liebsten, das traf damals noch einen empfindlichen Nerv. Die Zeiten waren schlecht, die rote-grüne Koalition schickte sich an, linke Alternativen auf viele Jahre gesellschaftlich zu diskreditieren, die Mediokratie richtete sich langsam aber sicher ein, das Unpolitische wurde plötzlich nicht mehr als politisch betrachtet, man begann betulich, das Politische zu entpolitisieren. Doch ein solcher Liebesminister in Zeiten der Pest und der Cholera, den fand man durchaus noch pietätlos. Heute ist das vielleicht nicht mehr ganz so geschmacklos. Heute lebt man mit Schmuseministern in Terrorzeiten viel entspannter. Alles ist letztlich Boulevard geworden, selbst die Qualitätsmedien boulevardieren auch dort, wo sie politisieren sollten. Willkommen in der Berliner Republik. Ein verliebter Minister hat es heute einfach einfacher.

Der Verbraucherschutzminister, den man als Justizminister besser kennt, weil er seinen zweiten Posten nicht ganz so wichtig nimmt, hat eine Neue. Eine Schauspielerin. Zweite Kino-Garde, aber nicht unbekannt, weil nämlich erste Pilcher-Garde. Beide sind arg glücklich, wie gesagt. Es sei den beiden gegönnt. Im Bett! Nicht in der Öffentlichkeit. Das Freihandelsabkommen steht in den Startlöchern, es soll noch dieses Jahr Wirklichkeit werden, der Verbraucherschutz wird unter anderem schwer in Mitleidenschaft gezogen, wenn es so kommt, wie es nach Befürworten der Macher des Abkommens kommen soll. Der Verbraucher ist ja auch Arbeitnehmer und damit gleich doppelt gestraft. Aber Minister und Schauspielerin lieben sich anschaulich und beschäftigen den hiesigen Journalismus mit ihrem jungen Glück, wo der sich mit anderen Dingen zu beschäftigen hätte.

Gut, sie sitzen nicht im Pool, keine neckischen Küsse, kein Gefummel unter der Chlorwasseroberfläche. Prüde ist man ohnehin geworden im neokonervativen Deutschland. Was man auch an dieser Sache merkt. Aber letztlich sieht man auch, dass man damals noch ein wenig Gespür dafür aufbrachte, wenn sich einer zum rosarotbebrillten Honk machte, wo wenigstens - wenn schon keine Kompetenz - ein Gran von zurückhaltender Schicklichkeit notwendig wäre. TTIP ist kein Bundeswehreinsatz, stimmt schon. Maas nicht Scharping, Wörner keine Mallorca-Affäre. Ist ja nur Freihandel, nicht Einmarsch. Vielleicht ist tatsächlich nicht vergleichbar, weil das Heutige noch schlimmer ist, als das Damalige. Langfristig betrachtet jedenfalls.

Und in der Liebe, ja in der Liebe, da hat sich noch jeder mal zum Esel gemacht. Inklusive Autor. Viel zu oft. Sich dumm und daneben benommen. Peinlich ist es einem dann, wenn man darauf angesprochen wird. Zurücktreten musste ich nicht. Hatte ja nichts zum Zurücktreten. Maas muss das auch nicht tun. Nicht deshalb. Seine Liebesschwüre sollten nur bitte in seinem Schlafzimmer bleiben. Die Liebesbekenntnisse hingegen, die er dem Freihandelsabkommen macht (wenn auch mit Abstrichen), die sollten eher was für einen Rücktritt werden. Jetzt täte es ihm ja auch nicht weh, die Welt ist doch rosa. Luft und Liebe, davon kann man doch was abbeißen. Welchen Sozialdemokraten als Ersatz, der gegen TTIP wäre, gäbe es denn da? Selbst wem jetzt einer einfällt, als Minister wird er für das Gegenteil von dem sein, gegen das er vor seinem Amt noch war.

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Das Abkommen und der Widerstand

Montag, 2. Mai 2016

Die Enkelinnen und Enkel des Grundgesetzes haben mitgedacht. Damals, 1968. Nun gut, nicht ganz freiwillig fürwahr, aber sie haben uns Ururgroßenkelkinder ausgestattet, um im Notstand etwas in der Hand zu haben. In der Theorie. Unsere Vorgänger haben vehement gegen die Novellierung gestritten, demonstriert und sich gewehrt. Wir hätten es ihnen damals sicher gleichgetan, als es hieß, dass die Notstandsgesetze einen neuen Faschismus in die Schuhe helfen würden. Sie konnten diese Ergänzung des Grundgesetzes nicht verhindern, wohl aber verwässern und dafür sorgen, dass sie um einige Passagen bereichert wurden. Wenn es jemanden gibt, »der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen«, so gibt es ein »Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist«, ergänzte man. Reden wir mal von TTIP und sprechen wir mal davon, dass exakt für so einen Fall der Widerstand grundgesetzlich verankert wurde.

Nicht unbedingt mit Wonne wie schon gesagt, mehr so erzwungenermaßen. Aber letztlich ist das egal. Artikel 20, Absatz 4 ist ein Produkt besorgter Bürger (allerdings von links) der damaligen Zeit, gründete auf den Protest und garantierte so ein per Verfassung attestiertes Recht auf Widerstand, falls es jemand versuchen sollte, die grundgesetzliche Ordnung auszuhebeln. Der Artikel ist das Resultat aus Sorge und Angst der Bevölkerung vor dem historischen Rahmen, in dem sich der Nachfolgestaat Hitlerdeutschlands befand. Was aber ist so ein Versuch, wenn nicht dieses Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten? Es gefährdet jeglichen gesetzlichen Anspruch, jede vom Gesetzgeber exekutierte Entscheidung, um sie gierigen Marktinteressen und diversen Wettbewerbsegalitäten zu unterwerfen. Geschaffene Gesetze sind kein Maßstab mehr, an die sich die TTIP-Realität orientieren müsste; geschaffene Gesetze müssten sich an TTIP ausrichten und neu definieren. Die Ordnung, die sich heute in Sozial- und Arbeitsmarktgesetzen, in Verbraucher- und Konsumentenschutzgesetzen zeigt, steht dann in der Gefahr, beseitigt zu werden. Ausgerechnet die Novellierung im Rahmen der Notstandsgesetze gibt uns den Handlungsrahmen wider dieses freihändlerischen Versuchs, die Ordnung zu sprengen.

Es gibt nur ein Problem bei der Sache: Wie ist dieser Widerstand dort gemeint? Der Artikel ist nicht nur nicht deutlich, er sagt ja eigentlich so gut wie nichts aus. Ist es schon Widerstand, wenn Menschen zu Hunderttausenden demonstrieren? Oder fängt Widerstand damit an, gezielt gegen die Gesetze zu verstoßen? Sagt Artikel 20, Absatz 4, dass man kurzzeitig auf die Einhaltung der Ordnung verzichten kann, um die Ordnung wiederherzustellen oder mindestens nicht gefährden zu lassen? Theordor Maunz und Günter Dürig behaupten in ihren Kommentaren zum Grundgesetz, dass das Widerstandsrecht (individuell wie kollektiv) sich durchaus gegen geltendes Recht stellen könne, sofern die Beseitigung der Ordnung objektiv vorliegt. Aber letztlich gibt es darüber keine Eindeutigkeit, denn andere Staatsrechtler (zum Beispiel Josef Isensee) mahnen an, man müsse im Widerstand stets das mildeste Mittel anwenden. Das bleibt schwammig und von Fall zu Fall zu bewerten. Grundsätzlich und -gesetzlich könnte man ja aber auch festhalten, dass die Demos gegen TTIP schon eine Form von Widerstand gegen den Angriff auf unsere Ordnung sind. Das mildeste Mittel vielleicht sogar. Was aber, wenn die, die diesen Angriff als Entscheider tragen, nicht darauf eingehen und den Widerstand der Massen arrogant wegwischen? Ist dann die Radikalisierung des Widerstandes grundgesetzlich abgesegnet? Genehmigt das Widerstandsrecht eine Spirale der Eskalation?

Es ist jedenfalls ein gefährliches Spiel, das die Entscheidungsträger da spielen. Sie lassen den Widerstand abprallen und treiben Menschen, die sich auf grundgesetzlichen Pfaden glaubten, zu anderen Aktionen, von denen sie dann annehmen, sie seien völlig richtig und nachvollziehbar, weil man ehedem den kleinen Dienstweg des Widerstandes einfach ignorierte. Das soll gar keine Angstmacherei sein, kein Fishing for Fear Scenarios, aber wir sollten ja nicht so tun, als hätte es solche Radikalisierungen in dieser Republik nicht schon mal gegeben. Als einige glaubten, der Protest fruchte nicht, da endeten sie in Raserei. Das Versagen lag damals auch bei denen, die diese irrlichternde Radikalisierung zuließen und mit ihrer offiziellen Arroganz antrieben. So wird es nicht mehr kommen, nichts wiederholt sich und falls doch, droht es uns nur als Farce. Aber anzunehmen, dass das Widerstandsrecht auf jenen Straßen endet, die oben gar nicht wahrgenommen werden, ist mehr als naiv und zeigt eigentlich nur, wie notwendig Widerstand jetzt wird, da man diese Ordnung zu entfernen trachtet und den organisierten Willen der Bevölkerung keines Blickes würdigt.

Es ist eigentlich doch ein Treppenwitz der bundesrepublikanischen Geschichte, dass man annahm, die Notstandsgesetze würden die Ordnung zerstören. Sie taten es zunächst nicht. Aber ein Passus der damaligen Novellierung erlaubt uns, denen nach Amt und Ehren zu trachten, die jetzt mit der Miene guter Kaufleute die Ordnung ökonomisieren wollen. Sie verstoßen gegen das Grundgesetz. Alle, die sich wehren, bleiben auf grundgesetzlichen Wegen. Sie sind eben keine verirrten Bürger, die nicht einsehen wollen, dass man ihnen da einen Dienst tut. Sie machen es mit dem Grundgesetz, was man von diesen Beglückern nicht behaupten kann. Ja, die Enkelinnen und Enkel des Grundgesetzes haben es gut bestellt. Das sollten die Entscheider akzeptieren, denn im Widerstand ist dann nicht jedes Mittel recht, aber doch viele, die man eigentlich in einer zivilisierten Ordnung nicht anwenden darf. TTIP setzt aber unsere Zivilisation aus. Und dann wird es problematisch.

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